1. Szene
Der elende Vollmond.
Wolfgang Hoffmann schob die Decke zur Seite und hob sich mühsam aus dem Bett. In der Dunkelheit taumelte er zum Fenster und zog den Vorhang auf. Der Morgen war finster und kalt. Die Sonne würde sich bei diesem Novembernebel kaum zeigen. Wenn er am Vorabend eine Flasche Wein und ein paar Schnäpse getrunken hätte, wäre sein miserabler Zustand erklärbar. Hoffmann knipste das Licht an und schlurfte barfuß in die Küche. Er sah gar nicht das Durcheinander in seiner Wohnung, er blickte auch nicht auf die Uhr, er hatte nur ein Ziel. Kaffee, eine ganze Kanne voll mit heißem Kaffee. Während das heiße Wasser durch den Filter lief, zog er seinen Morgenmantel an. Der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees erfüllte die Küche. Hoffmann blickte auf den Wandkalender. Tatsächlich lag eine Vollmondnacht hinter ihm.
Hoffmann öffnete den Kühlschrank und griff nach Milch, Butter, Käse und einem Glas Marmelade. Der Kühlschrank war gefüllt, denn gestern Abend hatte er auf dem Weg vom Büro nach Hause nicht wie häufig auf den Einkauf vergessen. Mit einem üppigen Frühstück würde er halbwegs in Schwung kommen. Kurzerhand schlug er zwei Eier in die Pfanne. Kaffee, Brot, Käse und Eier, Hoffmanns Stimmung besserte sich.
Er knipste das Radio an. Der Nachrichtensprecher sagte die Zeit durch. Fünf Uhr früh. Über Hoffmanns Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. Heute könnte er seinem Bürokollegen, dem notorischen Frühaufsteher Gerhard Assmann, ohne Probleme den Rang als Erster am Arbeitsplatz ablaufen. Aber leider würde dieser Triumph ausfallen, denn heute Vormittag stand ein Termin beim Hausarzt an. Routinecheck, wie er der Ordinationsassistentin am Telefon angegeben hatte. Hoffmann lehnte sich zurück. Was sollte er an diesem Morgen anfangen? Der Termin war erst um neun Uhr, er hatte also vier Stunden Zeit. Verdammter Vollmond.
Wolfgang Hoffmann öffnete das Küchenfenster und lugte hinaus. Die Gasse lag in nächtlicher Beschaulichkeit und im Augarten, dem großen Barockpark inmitten von Wien, rührte sich auch noch nichts. Er fasste einen schnellen Entschluss. Er würde die frühe Morgenstunde nutzen, um seine Wohnung in Ordnung zu bringen. Hoffmann bekleidete sich. Wo sollte er anfangen? Der Mülleimer quoll über, und neben dem Mülleimer warteten zwei weitere Müllsäcke auf ihre Entsorgung. Also packte er die Müllsäcke, schlüpfte in seine Jacke, schnappte den Wohnungsschlüssel und trat auf den Flur. Im Stiegenhaus war es irgendwie unnatürlich ruhig. Er lauschte in die Stille. Nichts, keine Stimmen, keine über die Treppen hastenden Schritte, kein Autolärm von der Straße. Fünf Uhr früh war eine eigentümliche Zeit. Hoffmann schlich leise die Treppe hinab, bemüht, die Stille im Haus durch seine Anwesenheit nicht zu stören. Im Erdgeschoss öffnete er die Tür in den Innenhof, trat an den Müllcontainer und warf die drei Müllsäcke ein.
Wolfgang Hoffmann trat in die Mitte des kleinen Hofes und ließ den Blick kreisen. Rundum erhoben sich die Mauern der alten Häuser, in einigen wenigen Fenstern brannten schon oder noch immer Lichter, der Nebel war weniger dicht, als er zuvor gedacht hatte. Nun, der Herbst war praktisch vorbei, jetzt kam der dunkle und graue Winter in der Stadt. Nicht gerade Hoffmanns liebste Zeit im Jahr.
Er wandte sich zum Gehen. Im Vorbeistreifen entdeckte er die halb offenstehende Kellertür. Hatte wohl schon wieder jemand die Tür nicht abgeschlossen, obwohl die Hausverwaltung mehrmals Informationsblätter im Haus appliziert hatte, dass die Tür immer versperrt zu sein hatte. Angeblich wegen der Gefahr, dass sich Ratten im Kellergemäuer des alten Hauses ansiedeln könnten, aber Hoffmann wohnte lange genug in diesem Haus, um zu wissen, dass der wahre Grund die Obdachlosen waren, die hier eine Zeitlang immer wieder übernachtet hatten. Hoffmann hatte überhaupt keine Probleme damit, wenn Obdachlose im Keller schliefen, auch ihre Ausscheidungen im Hof störten ihn herzlich wenig, denn in Wahrheit war der ganze Bezirk ein großes Hundeklo, warum sich dann noch wegen ein paar Obdachloser aufregen? Dennoch zog er seine Schlüssel aus der Hosentasche und wollte die Tür schließen, schließlich musste er als Polizeibeamter mit gutem Beispiel vorangehen. Und so wie er seinen Beruf verstand, musste er dann ein gutes Beispiel sein, wenn niemand zusah.
Hoffmann öffnete die Tür und schaute in die Finsternis. Er knipste das Licht im Treppenabgang an. Da lag jemand am Fuße der Treppe. Unwillkürlich tastete er nach seiner Dienstwaffe, die er natürlich nicht dabei hatte.
»Hallo! Wer sind Sie?«
Ein Zucken durchlief die Person. Hoffmann schaute in zwei weit aufgerissene, dunkle Augen. Die junge Frau sprang hoch und drückte sich gegen die Kellerwand. Aus dem Nichts lag plötzlich Angst im Kellerabgang. Die schwarzhäutige Frau schaute hektisch nach links und rechts, sie begriff schnell, dass sie in der Falle saß, dass der einzige Fluchtweg über die Treppe nach oben führte und dass dieser Weg von einem fremden Mann in Hausschuhen versperrt war. Also verharrte sie in ihrer Position, umschlang ihre Schultern mit den Armen. Sie zitterte vor Kälte. Hoffmann war alarmiert. Wovor hatte die Frau solche Angst? Und wer hatte in dieses hübsche Gesicht geschlagen? Ihr linkes Auge war verschwollen und blutunterlaufen, der Faustschlag musste ziemlich heftig ausgefallen sein. Hoffmann musterte die junge Frau. Sie trug rosa Sportschuhe, enge Jeans und eine für diese Jahreszeit viel zu dünne Jacke mit auffälligen Glitzerstickereien. Höchst wahrscheinlich eine Prostituierte vom Praterstrich. Der Prater war zwar nicht allzu weit vom Augarten entfernt, aber normalerweise verirrten sich die afrikanischen Prostituierten kaum hierher, sondern blieben drüben beim Messegelände im Prater.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Hoffmann mit ruhiger, gemessener Stimme.
Allzu offensichtlich ging es der Frau nicht gut, anderenfalls hätte sie sich bestimmt nicht der Kälte und Finsternis des Kellers ausgesetzt. Hoffmann stieg eine Stufe tiefer.
»Sprechen Sie deutsch? Do you speak english?«
Sie starrte zu Boden und rührte sich nicht. Hoffmann fühlte deutlich, dass sie sehr erschöpft war, dass sie viel zu verzweifelt war, um davonzulaufen, dass sie Hilfe brauchte.
»Ist Ihnen kalt? Brauchen Sie etwas zum Anziehen? Eine Jacke? Oder einen warmen Pullover?«
Er wartete vergeblich auf eine Reaktion. Die junge Frau war völlig apathisch. Und sie schlotterte vor Kälte. Für Afrikaner war der Winter in Europa zuallererst mal ein Schock. Hoffmann setzte sich auf die kalte Treppe, er schaute sie nicht an, sondern starrte ebenfalls zu Boden.
»Wollen Sie fort? Ich halte Sie nicht auf«, sagte er nach einer ganzen Weile.
Schweigen. Hoffmann wartete. Er wusste eigentlich nicht viel über die Rotlichtszene im Prater, sein Fachgebiet war die Drogenfahndung und er arbeitete im Kommissariat West in Ottakring. Mit den Prostituierten aus der Leopoldstadt hatte er bisher nicht viel zu tun gehabt. Er wusste nur, dass es eine harte Szene war.
»Na gut, ich werde jetzt wieder gehen. Wenn Sie Hilfe brauchen, müssen Sie es sagen. Ich kann Ihnen eine Jacke geben. Oder etwas zu essen. Sind Sie hungrig?«
Hoffmann zog die Brauen hoch. Volltreffer. Erstmals eine Regung. Die dunkelhäutige Frau schaute ihn kurz an. Also war sie nicht nur durchfroren, sondern auch hungrig. Hoffmann erhob sich langsam.
»Mögen Sie Eier? Brot? Kaffee? Ein richtiges Frühstück?«
Sie trippelte auf der Stelle herum. Hoffmann sah, dass sie nur noch einen kleinen Schubs brauchte. Langsam ging er zu ihr hinunter. Sie beobachtete seine Bewegungen misstrauisch.
»Ich heiße Wolfgang«, sagte er und streckte seine Hand zum Gruß aus.
Nur zögerlich ergriff sie die dargebotene Hand. Ihr Händedruck war völlig kraftlos, klamm und kalt.
»Meine Güte, Sie sind ja völlig durchfroren. Kommen Sie, ich gebe Ihnen etwas zum Anziehen und mache ein ordentliches Frühstück. Einverstanden?«
Sie sagte nichts, bewegte sich nicht, zog auch die Hand nicht zurück, sondern verharrte verspannt und linkisch an Ort und Stelle. Ein geprügeltes Mädchen, geisterte es Hoffmann durch den Kopf. Hoffmann ließ ihre Hand los und zeigte einladend nach oben.
»Kommen Sie, wärmen Sie sich erst mal auf, dann sieht die Welt schon wieder viel freundlicher aus.«
Hoffmanns Temperament hatte ihm in ähnlichen Situationen schon mehrfach geholfen, besonnen, aufmerksam und höflich, aber doch bestimmt, hatte er im Laufe seiner Jahre als Kriminalpolizist so manche Verzweifelte, Vollgedröhnte oder Halbverrückte von irgendwelchen Dummheiten abhalten können. Aber eben nur manche, nicht alle. Ein Ruck lief durch die junge Frau. Hoffmann beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Würde sie davonlaufen? Er wusste es nicht, sie rang in jedem Fall mit dem Gedanken.
»Mögen Sie die Eier lieber gerührt oder als Spiegelei, schön gelb mit großen Dotteraugen?«
Sie blickte ihn direkt an. Ihr Blick war verstörend, denn Hoffmanns gar nicht schlechte Menschenkenntnis versagte vollständig. Er hatte keine Ahnung, was in dieser dunkelhäutigen Frau vorging. Sie nickte plötzlich. Erleichtert lächelte er sie breit an.
»Also doch lieber Spiegelei, nicht wahr?«
Ein bezauberndes Lächeln huschte verloren über ihr Gesicht. Wie hübsch sie war, wenn sich zumindest für einen flüchtigen Augenblick ein Lächeln zeigte.
»Na sehen Sie, alles gar nicht so schlimm. Jetzt kommen Sie erst mal und essen sich satt.«
Hoffmann ging voran die Treppe hoch, bewusst blickte er sich nicht mehr um. Wenn sie also doch davonlaufen...