Schweitzer Fachinformationen
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Die Straßenbahn rollte heran. Ein paar Leute warteten an der Haltestelle, bis sich die Türen öffneten. Hoffmann stieg vorne beim Fahrer ein. Die neuen Zuggarnituren waren in einem Stück gebaut. Früher hatten die Wiener Straßenbahnen einen Waggon gezogen. Als Jugendlicher hatte er mit seinen Kumpels vorzugsweise den Waggon benutzt, und wenn möglich, war er ganz hinten gestanden. Weil da der Fahrer es nicht spitzgekriegt hatte, wenn sich die Jugendlichen danebenbenommen hatten. Hoffmann durchmaß den Zug. Im hinteren Bereich saßen nur wenige Fahrgäste.
Sein Blick fiel auf eine Frau an einem Fensterplatz. Sie trug ein Kopftuch. Und eine Sonnenbrille um neun Uhr an einem Winterabend. Eine muslimische Frau mit blondem Haar? Eine gerade Nase, ein schönes Kinn, volle Lippen. Wie flüchtige Geister zogen diese Beobachtungen an ihm vorbei. Ein roter Mantel und schwarze Handschuhe. So kleidete sich keine Muslimin. Hoffmann passierte den Sitzplatz der Frau und langte ganz hinten nach einem Haltegriff. Er war lange genug gesessen, ein bisschen Stehen schadete nicht, auch wenn viele Sitzplätze frei waren.
Die Tram beschleunigte. Die alten Straßenbahnzüge in seiner Kindheit hatten sich noch rumpelnd und quietschend durch die Straßen bewegt, davon war heute nichts zu bemerken. Fast lautlos sauste die Garnitur die Hütteldorfer Straße hinab. Die Lichter der Stadt zogen an ihm vorbei. Die Schaufenster waren mit Weihnachtsschmuck dekoriert.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Frau mit dem Kopftuch. Der Mantel musste kostbar sein. Die Frau wirkte nicht wie jemand, der mit der Straßenbahn fuhr.
Johann, fahren Sie den Bentley vor, ich bin zur Teestunde bei Baronin von Mannsbrunn geladen.
Sehr wohl, gnädige Frau.
Hoffmann schmunzelte bei dem Gedanken.
Auch der junge Mann in der letzten Sitzreihe schaute zur Frau im roten Mantel. Und dann wieder zum Fenster hinaus. Und wieder zur Frau. Wieder zum Fenster hinaus. Hoffmann sah von hinten das Gesicht des Jugendlichen nicht. Er trug eine Schirmmütze und darüber die Kapuze seines Sweatshirts, gegen die Kälte schützte er sich mit einer ärmellosen Thermoweste. Solche Jungs kannte Hoffmann zur Genüge. Jahrelang hatte er als Drogenfahnder mit ihnen zu tun gehabt. Giftler, die sich mit schmutzigen kleinen Geschäften irgendwie über Wasser zu halten versuchten, meist aber dann doch absoffen. Gelegenheitseinbrüche, auf Partys Tabletten verhökern, Gras verticken, und die Erlöse in den Eigenbedarf investieren. Ein paar dieser Jungs hatte Hoffmann von der Straße geholt, entweder, um sie ins Gefängnis zu stecken, weil irgendeine Sache ausgeufert war, oder in die Therapie, wenn noch ein Funken Hoffnung vorhanden war.
Aber vielleicht war der Jugendliche gar kein Junkie. Hoffmann hatte ihm, als er an ihm vorbeigegangen war, nicht ins Gesicht geblickt. Die Kleidung und dass er unruhig auf dem Sitz hin und her rutschte, hatten den Gedanken an einen Junkie nahegelegt, aber vielleicht irrte er ja. Hoffmann drückte fast seine Nasenspitze an die Scheibe. Er schmunzelte. Wie oft hatte er in seinem Job falsch gelegen? Mindestens 1.000 Mal pro Tag. Ein beständiges Gefühl seiner Arbeit war gewesen, mit jeder Entscheidung wieder einen Fehler begangen zu haben. Und meist hatte sich dieses Gefühl als richtig erwiesen. Da hatten die Kollegen im Kommissariat noch so sehr behaupten können, er wäre ein Vollblutpolizist, er habe Nase, er sei zwar der langsamste Kieberer der Stadt, habe aber das höchste Aufklärungstempo. Hoffmann wusste es besser. Der Einäugige ist König unter den Blinden. Ein paar Kunden hatte er gehabt, die über Adleraugen verfügt hatten, und im Duell mit diesen Leuten war Hoffmann regelmäßig und ausnahmslos wie der letzte Trottel dagestanden. Ein Name fiel ihm immer wieder ein. Kurt Wernheim. Das Schwein war ihm durch die Finger geschlüpft. Eine kleine, aber niemals heilende Wunde.
Die Straßenbahn der Linie 49 rollte von Haltestelle zu Haltestelle. Viel war in der Stadt nicht mehr los. Morgen war ein normaler Arbeitstag, bestimmt liefen ein paar tolle Filme im Fernsehen, es war kalt und dunkel, niemand, der nicht irgendeinen Grund dafür hatte, verließ die Wohnung.
Urban-Loritz-Platz. Die Tram querte den Gürtel, diese Lebensader der Stadt. Mal fuhr die U-Bahn auf der Hochtrasse den Gürtel entlang, dann wieder grub sie eine Furche zwischen die Innen- und Außenbezirke. Wie oft war er selbst schon auf dem Gürtel unterwegs gewesen? Frühmorgens, mittags und spätnachts. Und ja, eine Zeitlang hatte er sogar am Gürtel gelebt. Und eine Zeitlang war das sogar eine gute Zeit gewesen. Seine Ehe. Diese Zeit schien so unendlich weit entfernt. Wenn es nicht in seinen Dokumenten festgehalten wäre, würde Hoffmann nicht von sich behaupten, er wäre 41 Jahre alt. 140 käme wohl besser hin. Vielleicht alterte man einfach irre schnell, wenn man ausgemergelte Drogentote aus völlig versauten Wohnungen barg und dann selbst irgendwann die Venen öffnete, um einen Giftcocktail in den Kreislauf sickern zu lassen.
Irgendjemand hatte ihm geraten, vor den Chemotherapien drei oder vier Tage lang zu fasten, die Nebenwirkungen würden dadurch erträglicher sein. Also hatte er gefastet. Richtig korpulent war er nie gewesen, großes Gewicht passte nicht zu seinem Typ, aber er war ein wohlernährter Europäer gewesen. Die paar Monate in der Therapie hatten seinem Gewicht gehörig zugesetzt. Nur langsam baute er wieder Substanz auf.
Die Tram hielt an der Haltestelle Kaiserstraße. Hoffmann wandte sich der Tür zu. Weiter vorne stand die Frau im roten Mantel vor einer der Türen. Warum trug sie zu dieser Tageszeit eine Sonnenbrille? Hatte sie einen zur Gewalt neigenden Ehemann? Polizistendenken. Polizistenfragen. Die Türen glitten auf. Hoffmann trat ins Freie. Die Frau trug kniehohe Winterstiefel. Das waren keine Stiefel aus dem Winterschlussverkauf. Und die Handtasche am Arm der Frau war ganz gewiss nicht im Einkaufszentrum am Stadtrand gekauft worden. Sah nach Innenstadtboutique aus.
Die Türen der Straßenbahn schlossen sich. Der junge Mann schlüpfte im letzten Moment ins Freie. Er rammte seine Hände in die Taschen der Thermoweste. Schnelle Schritte. Die Frau im roten Mantel, der Jugendliche und zwei arglos plaudernde ältere Frauen standen bei der Haltestelle der Linie 5. Der 49er schlängelte sich durch die Gassen des 7. Bezirks. Hoffmann ging langsam zur Haltestelle. Die Frau im roten Mantel stand im Schatten eines Haustors. Der Jugendliche entfernte sich ein Stück und kehrte wieder, die beiden älteren Frauen bemerkten Hoffmann gar nicht. Lag da etwas in der Luft? Was spürte er da? Im Gegensatz zu seinen Überlegungen, Schlussfolgerungen und Analysen hatten ihn seine Instinkte selten getäuscht.
Der 5er rollte heran. Hoffmann stieg ein. Die anderen ebenso. Sah die Frau im roten Mantel durch ihre Sonnenbrille überhaupt irgendetwas? Offenbar genug, um einen Fensterplatz zu wählen und wieder hinauszustarren. Wieder nahm der Jugendliche ein paar Reihen hinter der Frau einen Platz ein. In der letzten Sitzreihe kauerte sich Hoffmann hin. Jetzt ließ er die Blicke und Gedanken nicht zum Fenster hinaus schweifen, er blieb aufmerksam. Und er war sich jetzt sicher, der Jugendliche beobachtete die Frau im roten Mantel. Warum?
Die Straßenbahn ließ den 7. Bezirk hinter sich, durchquerte den achten. Leute stiegen ein und stiegen aus. Der 9. Bezirk, das alte AKH, die Sensengasse und das Department für Gerichtsmedizin. Kein Ort, an dem sich Hoffmann gerne aufgehalten hatte, der ihm aber dann und wann nicht erspart geblieben war. Die Straßenbahn näherte sich dem Franz-Josefs-Bahnhof, schließlich der Friedensbrücke.
Hoffmann erhob sich und trat an die Tür. Die Frau stieg aus. Hoffmann kramte in seinen Taschen, zog sein Handy und tippte darauf herum, um beschäftigt zu wirken. Da war er schon. Der Jugendliche verließ wieder knapp vor dem Schließen der Türen die Tram. Er hielt Distanz, aber blieb an ihr dran. Also hängte sich Hoffmann an beide. Er war seit vielen Monaten außer Dienst, er war unbewaffnet. In Wien war es einfach nicht nötig, als Privatmann mit einer Pistole durch die Stadt zu laufen. Außer natürlich, man war ein ausgemachter Paranoiker. Von denen gab es zwar gar nicht wenige, meistens aber zogen sie ihre Waffen nicht. War der Jugendliche bewaffnet? Nach Pistole sah er nicht aus. Ein Messer? Ein Schlagring?
Die Frau im roten Mantel überquerte die Fahrbahn und verschwand in der Dunkelheit des Donaukanalufers. Hoffmann wartete und beobachtete aus der Ferne. Der Jugendliche folgte der Frau. Hoffmann fluchte. Warum rannte sie auch von der gut beleuchteten Straße fort in die Finsternis der Uferböschung?
Hinterher. Ein paar Autos zogen mit hohem Tempo die Roßauer Lände entlang. Er musste warten, dann eilte er los. In einiger Entfernung sah er die Frau im Lichtkegel einer Laterne an der Uferpromenade. Wo war der Jugendliche? Hatte er Hoffmann bemerkt und suchte sich nun ein anderes Opfer für den Handtaschenraub? Die Frau ging schnell. Hoffmann setzte sich auf eine Bank. Wo war der Bursche? Irgendwo in einem Gebüsch versteckt? Längst über alle Berge?
Wozu sich etwas vormachen? Hoffmann spürte den Kitzel. Vielleicht sollte er bald wieder seinen Dienst antreten. Er ließ den Blick kreisen. Ferne Straßenlichter, erleuchtete Fenster in den Häusern an der Lände, über die Friedensbrücke rollte eine Straßenbahngarnitur. Hoffmann schaute wieder in Richtung Promenade.
Wo war die Frau?
Hoffmann sprang auf und marschierte eilig los. Hatte der Junkie doch noch zugeschlagen, leise, irre schnell, Hoffmanns kurze Unaufmerksamkeit nutzend?...
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