Die Fahrradgeometrie
Kleine Geschichte der Rahmenformen
Das Fahrrad ist im mitteleuropäischen Raum seit über hundert Jahren ein fester Bestandteil der Zivilisation. Seine Existenz, seine Bauweise und seine grundlegenden Techniken werden normalerweise von niemandem infrage gestellt. Ganz selbstverständlich wird angenommen, dass es solide Forschungsgrundlagen gibt, auf welche die Fahrradhersteller zurückgreifen könnten, wenn sie eine neue Rahmenform auf den Markt bringen wollen. Müsste nicht ein Fahrradhersteller am besten wissen, wie ein Rahmen ergonomisch richtig gebaut wird? Davon gehen wir in der Regel aus.
Auch dem Fahrradverkäufer, der in vielen Fällen gelernter Zweiradmechaniker ist, wird dieses Wissen automatisch und vertrauensvoll unterstellt. Aber das ist leider oft ein Irrtum.
Es gibt durchaus traditionelle Rahmenformen, die aus jahrzehntelanger Erfahrung entstanden sind und ihre Berechtigung haben.
Im Rennsportbereich existieren Richtwerte für den Rahmenbau, die so lange angemessen sind, wie auch der dazugehörige Rennlenker montiert wird, der einen Teil der erforderlichen Gesamtsitzlänge ausmacht, denn das ist entscheidend.
Das Hollandrad und das Randonneur-Rennrad werden noch viele Modetrends überleben. Daneben gibt es das klassische Hollandrad, das in einer Position gefahren wird, in der weder Rückennoch Armlänge eine Rolle spielen.
Diese beiden Radtypen, das Rennrad und das Hollandrad, werden sämtliche Modewellen der nächsten Jahrzehnte überleben, weil sie die Grundlage für eine gesunde, ergonomisch sinnvolle Sitzposition bereits im Konzept beinhalten. Das eine als Langstreckenfahrrad, das andere für die Kurzstrecken. Alle anderen Fahrradtypen, ob Cityräder, Trekkingräder, Fitnessräder oder Crosser, werden nur partiell überleben. Oft passen sie dem einzelnen Radfahrer eher zufällig oder müssen mühsam passend gemacht wurden.
Neuerdings wird die Fahrradentwicklung stark von kurzfristigen Moden gesteuert. Diese Modefahrräder haben selten den Anspruch, langstreckentauglich zu sein, sondern sollen eher kurzfristigen Spaß vermitteln und möglichst nach maximal fünf Jahren durch das nächste Modell ersetzt werden. Die Entwicklung dieser Räder richtet sich nach subjektiven Kundenwünschen oder nach der Optimierung im Herstellungsprozess. Ein Hersteller, der gefragt wurde, warum er seinen neuen Modellen noch kürzere Rahmen verpasst hatte als den auch schon zu kurzen Vorgängern, antwortete lediglich: »Der Kunde will das so.«
Nicht selten wird bei Importen aus Fernost die Rahmengeometrie so ausgelegt, dass möglichst viele Rahmen in einen Container passen.
Der Fahrradhändler steht dieser Situation relativ hilflos gegenüber. Ist er als Zweiradmechaniker ausgebildet, hat er in seiner Ausbildung normalerweise wenig über Ergonomie gelernt. Ist er gelernter Verkäufer oder fahrradbegeisterter Quereinsteiger (Das sind immer noch die Besten!), hat er hier und dort in Sportzeitschriften den einen oder anderen Hinweis aufgeschnappt. Echte Literatur oder Forschungsarbeiten darüber gibt es im deutschsprachigen Raum bisher wenig.
Der Fahrradhändler muss in der Regel das verkaufen, was ihm der Großhändler bieten kann. Früher konnte man noch bei einigen Firmen Tendenzen im Rahmenbau erkennen, »Hercules« baute zum Beispiel grundsätzlich längere Räder als »Peugeot«, aber seitdem die meisten Standardrahmen aus dem Ausland importiert werden, gibt es kaum noch Unterschiede. Nicht selten stammen die Rahmen alle aus demselben Werk. Solange die Fahrradrahmen noch mithilfe von Muffen zusammengesetzt wurden, waren die Hersteller durch die Winkelvorgaben der Muffen an bestimmte Rahmengeometrien gebunden.
Die moderneren Fügetechniken, wie WIG-Schweißen oder muffenloses WIG-Löten, lassen dagegen alle Rahmenformen und damit leider auch alle Fehler in der Fahrradergonomie zu.
Wie entsteht eine Rahmengeometrie?
Unter Rahmengeometrie versteht man die Länge und die Höhe eines Fahrradrahmens und die dazugehörigen Winkel. Der Einfachheit halber werde ich als Grundform den sogenannten »Diamantrahmen« benutzen (seine Hauptrahmenrohre bilden eine Raute = engl. Diamond; dieser Begriff wurde von der deutschen Fahrradindustrie übernommen). Sollen die Werte dann auf Rahmen mit tiefem Einstieg (also ohne Oberrohr) angewandt werden, muss man sich das Oberrohr als horizontale Verbindung zwischen Sattelrohr und Steuerrohr denken.
Ein Teil der Rahmengeometrie beeinflusst das Fahrverhalten des Rades. Diese Aspekte möchte ich hier die »äußere« Rahmengeometrie nennen. Dazu gehören: Die Gabelvorbiegung, der Nachlauf, der Radstand und die Hinterbaulänge. Diese Maße können verändert werden, ohne dass man die Ergonomiemaße antasten muss.
Die »innere« Rahmengeometrie ist durch die Länge des Sattelrohrs, den Sitzrohrwinkel, die horizontale Oberrohrlänge und die Höhe des Steuerrohrs bestimmt. Das sind alles Maße, die sich direkt auf die Ergonomie beziehen und die zum Fahrer des Rades passen müssen.
Eine Zwischenposition nehmen die Tretlagerhöhe und die Lenkerform (Vorbaulänge) ein. Sie bestimmen teilweise das Fahrverhalten und sind auch gleichzeitig an der Ergonomie beteiligt.
Die ergonomischen Maße können teilweise verändert werden, ohne dass die Fahreigenschaften, die sich durch Steuerkopfwinkel, Gabelvorlauf und Hinterbaulänge ergeben, wesentlich beeinflusst werden.
Kritisch wird es lediglich bei der Rahmensteifigkeit. Wird ein Rahmen deutlich länger gebaut als normal, muss bei der Auswahl des Rohrquerschnitts und seiner Werkstofffestigkeit auf die besondere Belastung durch die Länge Rücksicht genommen werden, sonst kann der Rahmen sich sehr weich anfühlen oder sogar zum »Flattern« neigen. Ein gut gebauter, längerer Rahmen wird also zwangsläufig etwas schwerer. Auch das ist ein Grund, warum die Mehrzahl der Fahrradrahmen immer kürzer geworden ist. Weniger Material spart Kosten, und das geringere Gewicht macht sich gut als Verkaufsargument.
Die äußere Rahmengeometrie beeinflusst hauptsächlich das Fahrverhalten und bestimmt den Radtyp. Die Rahmenhöhe
Die Größe eines Fahrrades wird in der Regel mit einem einzigen Maß, nämlich der Rahmenhöhe, angegeben. Um die passende Rahmenhöhe zu finden, wird üblicherweise die Beinlänge als Maßstab benutzt. Die Rahmenhöhe wird entlang des Sattelrohres gemessen, wobei man zwischen italienischen und deutschen Angaben unterscheiden muss.
Die Italiener beschreiben die Rahmenhöhe mit den Endpunkten: Mitte Tretlager, Mitte Oberrohr. In Deutschland dagegen wird die Oberkante des Oberrohres gemessen. Seit die Sattelrohre einen deutlichen Überstand über dem Oberrohr haben, wird die Rahmenhöhe aber auch gern mit der Gesamtlänge des Sattelrohres beschrieben, was dieses Maß als Beschreibung der Rahmengröße mehr oder weniger unbrauchbar macht.
Die innere Rahmengeometrie ist für die Ergonomie wichtig und sollte an den Fahrer angepasst sein. Zurzeit versucht man in der Fachschule des Innungsverbandes der Zweiradmechaniker (Meisterschule in Frankfurt) eine neue Definition durchzusetzen, nämlich die Rahmenhöhe als die Differenz zwischen Tretlagerhöhe und Steuerkopfhöhe zu beschreiben. Grund: Durch das Aufkommen der sogenannten Slopinggeometrie, bei der das Oberrohr nach vorne ansteigt, gibt die Höhe des Oberrohres am Sattelrohr nicht mehr die tatsächliche Höhe des Rahmens an.
Die alleinige Ermittlung der Rahmenhöhe reicht bei weitem nicht aus, ein passendes Fahrrad zu finden, dafür sind die Proportionen der Menschen viel zu unterschiedlich.
Die Rahmenhöhe sollte ja ursprünglich eine Information geben, ob man über dem Rahmen noch stehen kann, ohne sich im Schritt wehzutun. Bei ansteigenden Rahmen müsste also zusätzlich eine Überstandshöhe angegeben werden, die ungefähr in der Mitte des Oberrohres gemessen würde. Gleichzeitig bedeutet ein nach vorne ansteigendes Oberrohr auch, dass der Lenker möglicherweise nicht tief genug unter das Sattelniveau eingestellt werden kann, was das Rad ergonomisch unbrauchbar machen kann.
Daher ist die Definition einer »ganz neuen« Rahmenhöhe durchaus berechtigt. Es gibt unterschiedliche Berechnungsmethoden, die für die Bestimmung der Rahmenhöhe herangezogen werden, die aber alle nur bedingt tauglich sind. Diese Berechnungsmethoden werden allerdings im Sportbereich fast wie heilige Gesetze gesehen, weil bisher an der Rahmenhöhe vor allem die Rahmenlänge hängt, die viel mehr über die endgültige Sitzposition aussagt als die Rahmenhöhe. Daher sollte man für eine ergonomische Bestimmung der Rahmengröße die Rahmenhöhe von der Rahmenlänge trennen und auch getrennt...