Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Savognin, März 1894
Während des Aufstiegs war die Kälte kaum spürbar. Erst im Schatten des Gipfels verriet die Sonne ihr trügerisches Spiel. Eisig blies der Wind von den Bergrücken über die Ebene. Es war das Besondere an dem Licht, das ihn in die Höhe trieb.
Giovanni Segantini zog den Holzrahmen mit der Leinwand, das Malerbrett und die Pinsel aus dem schmalen Holzkoffer und betrachtete prüfend die Umgebung. Hinter den Bergrücken warf die Morgensonne goldenes Licht in den Himmel. Ein einzelner Baum hob sich knorrig vom bläulich schimmernden Schnee ab.
Mit Vergnügen verfolgte er, wie Barbara Uffer versuchte, eine gefällige Pose einzunehmen. Sein Blick glitt über ihre Hüften, die langen Beine, das zurückgebundene helle Haar. Langsam formte sich ein Bild vor seinem inneren Auge. »Baba, hättest du etwas dagegen, dich freizumachen?«
»Freimachen, Signore?« Ihre Augen weiteten sich.
»Als würde dich der Dottore Bernhard mit dem Stethoskop abhören. Stell dir vor, ich wäre dein Arzt.«
»Aber es ist kalt, Signore.«
»Nur für ein paar Minuten. Ich bitt dich recht schön.«
Zögernd glitten ihre langen Finger über Brust und Bauch. Sie schämt sich, dachte er, wie dumm von mir zu glauben, sie würde mein Ansinnen richtig zu deuten verstehen.
»Wenn ich male, bin ich ohne Interesse für deinen Körper, Baba. Einzig das Motiv sehe ich vor mir.«
Wie konnte er es am besten erklären? Er war Künstler. Sie eine Magd.
Und als er schon abwinken und sein Vorhaben zurücknehmen wollte, da schien Baba zu begreifen.
»Meister, so wie wenn ich einen Husten habe und der Dottore mich untersuchen will?«
»Genau so, liebe Baba.« Giovanni lächelte.
Sie zuckte mit den Achseln und knöpfte ihre Weste auf, strich das wollene Gewand von den Schultern, dann die hochgeschlossene Bluse, das Trachtenkleid, das Unterhemd aus grober Baumwolle, und zum Schluss legte sie auch den Büstenhalter ab.
Er musterte ihre kräftige Statur, die kaum je von einem Sonnenstrahl berührte Haut, fast so weiß wie der Schnee im Hintergrund, und die Brüste von üppiger Festigkeit. In Unterhosen, Strümpfen und derben Bergschuhen stand sie vor dem kahlen Baum.
»Brr, kalt.« Bibbernd schlang sie die Arme um den Oberkörper.
»Ich mache schnell!«, rief Giovanni. »Jetzt öffne bitte dein Haar, lockere es mit den Händen und lehne dich an das Holz hinter dir. - Noch ein bisschen zurück, drück dich gegen den Stamm. - Ja, so. Und den Kopf nach hinten. - Ja, das ist gut, und bitte den Oberkörper nach links dehnen. Das machst du gut, Baba.«
Sie folgte den Anweisungen ohne Scheu. Der Wind spielte mit ihren Strähnen, die sich im toten Geäst verfingen. Ein Sonnenstrahl tanzte über ihre Brüste.
»Che bello, einfach grandios. Danke, Baba!« Giovanni tupfte den Pinsel in die Farbe auf dem Brett.
»Mir ist so kalt, Meister!«
»Nur ein paar Minuten!« Seine Hand bewegte sich wie von selbst, der Pinsel wanderte über die Leinwand. Da ergriff ihn ein erregender Schauer. Weniger lag es an der Kälte oder an der Schönheit der weiblichen Blöße, nein, vielmehr spürte Giovanni eine seltsame und unerklärliche Furcht in sich hochsteigen. Während seine Hände mit beginnender Unruhe ihr Werk vollbrachten, umklammerte in seinem Innersten eine Klaue seine Brust. Es war, als drückte ihn etwas gegen eine Wand. Er schnappte nach Luft, krümmte sich und hustete.
»Ist alles in Ordnung, Signore?«
Vielleicht war es die Sorge in ihrer Stimme, die den Druck von ihm nahm. Plötzlich löste sich die Beklemmung, und er konnte wieder ruhig atmen.
»Alles in Ordnung, Baba. Gleich bin ich fertig.« Mit einem Tuch zum Entfernen von überschüssiger Farbe wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn.
»Mir ist wirklich sehr kalt, Meister!«
»Ich bin fertig, du kannst dich anziehen. Aber pass auf, deine Haare haben sich in den Zweigen verfangen.«
»Oh!« Sie griff hoch, befreite sich vorsichtig, machte einen Knicks und bückte sich nach der Kleidung.
Giovanni packte die feuchten Pinsel in das Schweißtuch und verstaute alle Utensilien im Rucksack. »Du warst wunderbar, hast dir einen heißen Tee mit Rum verdient.«
Beim Abstieg schwieg er die meiste Zeit, hörte kaum hin, wenn Baba ihm den neuesten Tratsch aus dem Dorf erzählte. Der Gedanke an jenes beklemmende und atemraubende Gefühl beim Malen ließ ihm keine Ruhe. Wie heiße Wellen im Körper. Hoffentlich waren es nicht wieder die Lungen. Vor einigen Wochen hatte er nach einem schlimmen Husten den Hausarzt konsultiert. Der riet ihm zur Schonung und Meidung der Höhenluft. Doch nur dort oben fand er das Licht, das er für seine Bilder brauchte.
An der südseitigen Mauer des Hauses war das zu kleinen Spalten geschnittene Holz bis zum Dachstuhl hochgestapelt. Der Mischlingsrüde Fingal sprang einem flatternden Insekt hinterher. Die Sonne stand tief und blendete. Luigia Bugatti beschattete die Augen mit der Hand. Dabei bemerkte sie eine rundliche Gestalt. Mit gestrecktem Arm winkte ihr eine Frau zu. Sie erkannte die alte Bäuerin aus dem Volk der Jenischen, das man in Graubünden vor einigen Jahrzehnten angesiedelt hatte, um den umherziehenden Menschen eine Heimat zu geben.
»Grüezi, Nachbarin! Was machst du für a schwere Arbeit? Lass das Holz dei Magd schleppen. Die isch viel kräftiger als du.«
»Signora Grubi, guten Morgen«, erwiderte Luigia höflich. »Die gute Baba hilft mir, wo sie kann. Aber heute ist sie mit meinem Liebsten auf den Berg gestiegen.«
Die Alte zog die Brauen hoch. »Nur die zwei, ganz allein? Da oben auf der Höh? Machst dir keine Sorgen?«
»Das ist nicht ungewöhnlich, Signora Grubi. Ich muss doch bei den Kindern bleiben.«
»Ich will ja nit sticheln.« Die Alte legte den mit einem bunten Tuch verhüllten Kopf schief. »Oba hast nit Angst um den Liebsten, wenn er stundenlang auf die Berg herumkraxelt?«
Luigia runzelte die Stirn. »Weshalb sollte ich Angst haben? Er ist ein guter Bergsteiger.«
»Nit wegen der Felsen, wegen der schönen Magd.« Die Alte grinste. »Zwei Menschen, Weib und Mann, ganz allein in der Natur. Da könnt so einiges geschehen bei einem Mann, der sich gar so geheimnisvoll gibt wie der deinige.«
»Mein Giovanni ist nicht so einer!« Mit aufsteigendem Zorn protestierte Luigia. Was nahm sich diese Person heraus?
»Ja, wenn du dir seiner Treu so sicher bist, dann wird schon nix sein«, sagte die Alte mit durchtriebenem Blick. »Ich jedenfalls würd für kein Mannsbild der Welt die Hand ins Feuer legen. Erst recht nicht für einen, der mir nicht einmal durch das Heilige Sakrament vor dem Herrgott zugesprochen worden ist.«
Luigia verschlug es die Sprache. Was für eine Unverschämtheit!
Die Alte zog weiter. Mit offenem Mund starrte Luigia ihr hinterher. Jetzt erst fielen ihr die Worte ein, die sie der Frau hätte nachschreien sollen. Und es wären, bei Gott, keine freundlichen Worte gewesen! Nur langsam beruhigte sich ihr Atem. Am besten nahm sie das dumme Geschwätz nicht ernst.
Mit einem Seufzer hob sie den Korb mit dem Holz und trug ihn ins Haus. Vor dem Kamin bückte sie sich nach den Scheiten, um sie an der Wand zu stapeln. Dabei stieß sie mit der Fußspitze gegen die Einfassung aus Stein und stürzte nach vorne auf die Knie. Ein schmerzvoller Fluch wollte über ihre Lippen kriechen, da fiel ihr Blick durch den Türspalt in die Stube auf die drei Söhne und die Tochter. Artig und still saßen sie am Tisch, malten oder schrieben. Luigia presste die Kiefer aufeinander, wischte mit einem Lappen die Blutstropfen von den Knien und machte sich daran, ein Feuer im Ofen zu entfachen. Alsbald schlugen die Flammen knisternd hoch. Eine wohlige Wärme breitete sich aus. Die Nächte in den Alpen waren im März oft noch bitterkalt.
Wenige Minuten später erlöste der schrille Glockenton der Eingangstür sie von der Hausarbeit. Als sie öffnete, stand ein Mann in der grauen Uniform der Landjäger vor ihr, den Tschako tief in die Stirn gezogen, das Gewehr an der Schulter. Das Herz schlug Luigia fest gegen die Brust.
»Bedaure, Signore, mein Gefährte ist nicht zu Hause.« Hastig zog sie an der Türschnalle, doch der Mann setzte blitzschnell einen Fuß in die Öffnung.
»Signora, das Gesetz verlangt von Personen, die sich hier länger niederlassen wollen, gültige Papiere.«
Luigia reckte das Kinn und stemmte die Arme in die Hüften. »Haben Sie eine schriftliche Genehmigung für eine Durchsuchung? Falls nicht, bitte ich Sie zu gehen!«
Der Landjäger glotzte. »Signore Segantini soll uns einfach ein Dokument vorbeibringen, das sein Bürgerrecht bekundet.«
»Und ich will Ihre Durchsuchungsgenehmigung sehen«, insistierte Luigia kühn und wunderte sich, dass ihr dieser Begriff gerade eingefallen war. Vermutlich hatte sie ihn in einer Kriminalgeschichte gelesen.
»Ein ständiger Aufenthalt ist nur mit gültigem Pass möglich. Dies ist die letzte Ermahnung, Signora Bugatti.«
Energisch zog Luigia an der Tür.
Da nahm der Mann den Fuß zurück. »Das verlangt das kantonale Gesetz, Signora. Ich kann da leider nicht nachsichtig sein.«
Mit klopfendem Herzen lehnte sie sich gegen die kühle Mauer im Flur und schloss die Augen. Die Behörde der Eidgenossen würde sich nicht noch einmal zum Narren halten lassen. Am Ende kamen sie das nächste Mal tatsächlich mit einem richterlichen Schreiben und würden sie und ihre Familie aus dem Haus werfen. Ihre Hände zitterten. Sie lebte mit einem staatenlosen Künstler und den gemeinsamen vier Kindern ohne Verehelichung unter einem Dach. In keinem christlichen Land der Welt würde man sie in...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.