Joe und Lucas
Joe liegt wach in seinem Bett. Es ist schon späte Nacht, aber er ist von dem lauten Streit seiner Eltern aufgewacht. Eigentlich heißt er Johannes, aber alle seine Freunde nennen ihn nur Joe. Sein Vater fand den Spitznamen total cool: "Von nun an bist du mein Joe. Joe, mein Sohn. Warte, das erzählen wir heute deinen Großeltern, die werden staunen".
Seine Mutter wiederum war nie so entspannt wie sein Vater; sie hatte ständig etwas zu meckern und der neue Spitzname gefiel ihr überhaupt nicht: "Was soll das? Du heißt Johannes und dabei bleibt es auch", erwiderte sie genervt und verärgert. Und jetzt streiten sie schon wieder. Er versteht kein Wort, aber es geht darum, dass sein Vater oft weg ist. Er ist Lkw-Fahrer und von Montag bis Freitag unterwegs. Seit sein kleines Schwesterchen geboren war, stritten sich die Eltern häufiger. Er hörte Sätze wie: "Ich muss hier alles allein machen und du hast Spaß bei deinen Lkw-Touren durch das ganze Land.
Und am Wochenende muss ich dich dann noch mit bedienen", beschwerte sich seine Mutter häufig. Vor ein paar Tagen, als er sie belauschte, hörte er das erste Mal den Satz, dass sich seine Eltern trennen wollen. Er bekam Angst. Trennung? Was wird dann aus ihm und seiner Schwester? Was passiert mit Kindern, wenn sich Eltern trennen? "Müssen wir in ein Kinderheim?", fragte er sich bang und weinte still. Irgendwann wurde es ruhig im Wohnzimmer und einen kurzen Moment später schlief Joe endlich ein.
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"Hey Joe, was ist los mit dir? Du siehst aus, als ob du gleich einschläfst", ruft sein Freund Lucas herüber, als sich alle am frühen Morgen im Klassenzimmer einfinden.
"Meine Eltern haben sich schon wieder gestritten. Es war schrecklich. Sie reden über Trennung und Scheidung. Lucas, was passiert mit meiner Schwester und mir, wenn sich meine Eltern trennen? Müssen wir in ein Heim?", fragt Joe verzweifelt. Lucas sieht seinen Freund an und es tut ihm weh, ihn so traurig zu sehen.
"Joe, lass uns mit unserem Vertrauenslehrer sprechen. Herr Sommerhaus findet eine Lösung für dich. Er hat doch bisher immer helfen können. In der Pause gehen wir gleich hinunter ins Lehrerzimmer und schauen, wo er ist. Ich komm mit dir mit und bleib bei dir, wenn du möchtest", schlägt Lucas vor. Joe schaut ihn dankbar an und nickt. Er und Lucas sind in der vierten Klasse der Grundschule und haben sich schon im Kindergarten ewige Freundschaft geschworen.
Ganz oft hat der eine schon bei dem anderen übernachtet. Lucas und seine Eltern haben ein tolles Haus mit einem großen Garten, außerdem springt dort auch Herr Wittenstein herum. Herr Wittenstein ist ein Hund, genauer gesagt ein Bobtail mit langem, zotteligem Fell, der zu Lucas kam, als er eingeschult wurde. Er darf bei Lucas im Bett schlafen, bekommt seine Essensreste (seine Mutter schimpft dann immer) und überhaupt ist Herr Wittenstein immer dabei und stets mittendrin.
Joe hat sich anfangs geschämt, dass er nur eine Wohnung mit Balkon zu bieten hat, aber seinem Freund Lucas machte das überhaupt nichts aus, denn Joes Vater war einfach ein toller Typ. Er nahm Lucas und Joe manchmal auf eine kurze Spritztour im Lkw mit und die Jungs durften dann abwechselnd an der Hupe ziehen. Das war so laut, dass sich Lucas zunächst furchtbar erschrocken hatte. Danach haben sich alle kaputt gelacht. Für Lucas war Joe der Held, weil sein Vater einen riesigen Lkw fahren durfte. Dagegen konnte Lucas' Vater nicht mithalten. Er war Anwalt und saß entweder den ganzen Tag in der Kanzlei oder bei Gericht.
Es wurden Akten gewälzt, geredet und Briefe diktiert. Viel zu langweilig, befand Lucas immer. Sein Vater belächelte ihn und kommentierte das Urteil seines Sohns nicht weiter. Es läutet zur großen Pause und die beiden Freunde springen auf und laufen in Richtung Lehrerzimmer. Vor dem Schulsekretariat kommt ihnen schon Herr Sommerhaus entgegen: "Herr Sommerhaus, wir brauchen ihre Hilfe. Joe ist ganz verzweifelt und kann nicht mehr richtig schlafen. Seine Eltern wollen sich trennen und wir haben Angst, dass er und seine Schwester in ein Heim müssen. Bitte helfen Sie uns", redet Lucas auf den Vertrauenslehrer ein. Herr Sommerhaus schaut Joe und Lucas durch seine Rundbrille an. Er erkennt sofort, dass es ernst ist. Ruhig erwidert er:
"Für jedes Problem auf dieser Welt gibt es eine Lösung und wir werden sie gemeinsam für dich finden Joe", er legt seine Hand auf Joes Schulter und meint weiter, "Passt auf, ab elf Uhr habe ich unterrichtsfrei und ihr habt bildende Künste. Ich rede mit eurer Kunstlehrerin, dass sie euch für diese Stunde freigibt, dann kommt ihr zu mir ins Lehrerzimmer und wir besprechen alles Weitere". Lucas und Joe nicken dankbar und rennen dann auf den Pausenhof.
Kurz nach elf Uhr sitzen sie bei Herrn Sommerhaus und der lässt Joe erst einmal alles erzählen, was er auf dem Herzen hat. Der Vertrauenslehrer versteht auf Anhieb, welche Ängste Joe umtreiben. Er kennt auch Joes Mutter von den Elternabenden, konnte jedoch nur kurz mal ein Wort mit ihr wechseln. Um sich ein genaues Bild zu machen, wäre vielleicht ein Gespräch mit den Eltern sinnvoll. Das schlägt er jetzt Joe vor. "Vielleicht wird meine Mutter böse, wenn sie erfährt, dass ich Ihnen alles erzählt habe", meint Joe unsicher.
"Ach was, wir machen das ganz clever, Joe. Ich habe vergessen die Arbeitsblätter zu verteilen und bringe sie meinen Schülern persönlich vorbei", antwortet der Lehrer lachend. "Es gibt E-Mails, Herr Sommerhaus", meint Lucas vorwurfsvoll.
"Ja, aber es geht nichts über den persönlichen Kontakt. Wir wollen doch nicht in der digitalen Welt gefangen sein", meint dieser augenzwinkernd.
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Es ist schon kurz nach vier Uhr nachmittags, als Herr Sommerhaus am Wohnhaus von Joe vorradelt. Kein schickes E-Bike, nein, er hat ein altes Rennrad, dass er jetzt vor dem Haus abstellt (ohne Schloss): "Abschließen ist nicht nötig", lacht er immer, "so ein altes Rad will niemand mehr haben". Ein paar Minuten später ist er in der Wohnung und begrüßt Joe und seine Mutter freundlich und erklärt, dass er noch ganz altbacken die Arbeitsblätter vorbeibringen will, und freut sich, in Kontakt mit den Eltern und seinen Schülern zu bleiben. Joes Mutter ist zunächst etwas irritiert, aber Herr Sommerhaus hat eine so gewinnende und freundliche Art, dass Joes Mutter ihn hereinbittet und gleich einen Kaffee macht. Und so kommen sie ins Gespräch.
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"Und? Erzähl Joe. War Herr Sommerhaus gestern bei euch?", fragt Lucas neugierig. "Ja, gegen vier ist er gekommen. Mama hat gleich Kaffee gemacht und dann haben wir uns alle drei unterhalten. Zuerst hatte ich echt Angst, dass meine Mutter sauer wird, weil ich in der Schule über die Streitereien erzählt habe. Aber Herr Sommerhaus hat das irgendwie klasse hinbekommen.
Irgendwann hat meine Mama eingesehen, dass mir das alles Angst macht und so nicht weitergehen kann. Er hat vorgeschlagen, dass sie sich bei verschiedenen Beratungsstellen informieren kann und er hat eine Bekannte, die genau so was macht, Familien zu helfen und zu beraten in schwierigen Situationen. Und wenn man früh anfängt, kann man das Ärgste noch abwenden, bevor es zu spät ist. Und wenn meine Mama will, lässt er ihr die Telefonnummer hier und dann können meine Mutter und mein Vater dorthin gehen und sich einfach mal auskotzen. Da ist dann die Freundin von Herrn Sommerhaus, die das begleitet, damit es nicht in einen Streit ausartet. Fand Mama gut", schließt Joe ab.
Lucas denkt nach: "Joe, du übernachtest am Wochenende bei mir. Es ist jetzt wieder warm und lass uns das neue Zelt im Garten aufbauen und dort übernachten. Herr Wittenstein schläft mit bei uns und du kannst abschalten von dem Stress, den du die ganze Zeit daheim hattest". "Mensch Lucas, das ist eine klasse Idee. Klar, da bin ich sofort dabei. Wir fragen heute Nachmittag unsere Eltern", erwidert Joe freudig. Ein herber Schlag für die beiden Jungs, denn die Eltern von Lucas hatten schon ein Familienwochenende bei den Großeltern geplant.
Die Mutter von Lucas meint tröstend: "Passt auf, ihr zwei Lkw-Fahrer, am nächsten Wochenende dürft ihr von Freitag bis Montag im Zelt draußen im Garten übernachten. Vorausgesetzt, das Wetter spielt mit und deine Eltern, Joe, erlauben es".
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Die nächsten Tage ziehen sich wie Kaugummi. Mittlerweile ist es Donnerstag und Joes Vater kommt morgen wieder heim. Joe ist etwas aufgeregt und er fragt sich, wie sein Vater das alles annehmen wird. Seine Mutter hatte gleich am nächsten Tag des Besuchs von Herrn Sommerhaus bei der Beratungsstelle angerufen und mit der Bekannten des Vertrauenslehrers gesprochen.
Und weil der Vater die ganze Woche unterwegs ist, haben seine Eltern sogar am Samstag einen Termin bekommen. Das Schwesterchen nehmen die Eltern mit zu ihrem Termin und Joe, ja, Joe wird wohl für die Schule lernen, dachte er sich. Er und Lucas sind in der vierten Klasse und nach den Sommerferien gehen sie gemeinsam auf das Gymnasium. Joe ist sehr stolz und Lucas ist sehr froh, dass sein Freund Joe ihm...