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1 Einleitung: Der Status quo der Theoriediskussion in Österreich und im angrenzenden deutschsprachigen Raum
Dieses Kapitel stellt in Kürze den aktuellen Stand der Theoriediskussion dar. Es wird dabei nicht vertieft auf die Arbeiten in der Pflegewissenschaft eingegangen; dazu liegen andere Standardwerke vor.
Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts assoziieren viele Pflegende zu den Begriffen Pflegekonzept, -theorien und -modelle die Denkgebäude der klassischen Pflegetheoretikerinnen wie Orem, Peplau, Roper u. v. m. Seit den 1990er-Jahren ist es international ruhig um diese Art von Pflegetheorien geworden. Das große Interesse an ihnen im deutschsprachigen Raum bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich mit dem "Nachholeffekt" (vgl. Moers/Schaeffer 2006) erklären. Verantwortlich für die große Bekanntheit der theoretischen Ansätze der Pionierinnen sind nicht zuletzt die Bemühungen vieler Pflegelehrerinnen der letzten zwei Jahrzehnte, die auf die Relevanz der Theorien für eine Entwicklung in der Pflege hingewiesen haben. Theorien gelten als Bestandteil des pflegewissenschaftlichen Body of Knowledge und finden sich in vielen Ausbildungscurricula wieder.
Diese sogenannten großen Theorien und Modelle trachteten danach, die Pflege als eigenständige wissenschaftliche Disziplin in der Gesellschaft zu verorten.
Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre hat die deutschsprachige Pflegegemeinschaft viele dieser Theorien unreflektiert in den hiesigen Kulturkreis übernommen. Zu groß war und ist die Wertschätzung gegenüber den Pionierinnen, die uns solch komplexe Werke zum Denken und zur Umsetzung aufgaben, zu wenig ausgeformt war der wissenschaftliche Korpus, um die mit der Übernahme verbundenen Fragen systematisch zu bearbeiten. Wenn wir die breite Pflegeöffentlichkeit betrachten: Was ist heute aus dem scheinbar enthusiastischen Aufbruch zur Eroberung der Pflegetheorien übrig geblieben? Ist es mehr als ein Pflegen nach Theorie oder Modell XY, die die Leitbilder von Gesundheitsorganisationen zieren?
Was ist aus den Pflegetheorien geworden?
"Können Sie mir eine Organisation, eine Abteilung, eine Station nennen, wo Pflege nach einer Pflegetheorie definiert ist und wo nach ihr gearbeitet wird?", lautete meine Frage am Beginn meiner Lehre zu "Konzepten, Modellen und Rollen" an Studierende verschiedener Studien- und Lehrgänge, eine Frage, die ich vor über 15 Jahren auch mir bekannten Pflegepraktikerinnen, Pflegemanagerinnen und Pflegewissenschaftlerinnen im deutschsprachigen Europa stellte. Die meisten antworteten mit einem klaren "Nein"; manche wussten von Modellprojekten, die allerdings schon eine Zeitlang zurücklagen und von denen man nicht wusste, was aus ihnen geworden war.
"Innerhalb der Berufsgruppe wuchs die Einsicht, dass die Praxisdisziplin Pflege einen abstrakten, wissenschaftlich orientierten Rahmen aufweisen sollte" (vgl. Kühne-Ponesch 2004), so schrieb ich in der Erstauflage dieses Buches. Sowohl Menge als auch Qualität systematisch entwickelter Pflegetheorie und ihr Einsatz haben zugenommen. "Die heutige Situation der Pflegepraxis legt nahe, dass Pflegende über viel Theorie verfügen und mit praxisrelevanten Forschungsergebnissen vertraut sind" (Käppeli 2003, S. 26). Doch ob sich diese Bemühungen auch auf eine verbesserte Pflegequalität auswirken, kann bis heute nicht beurteilt werden; ebenso wenig ist eine Aussage zu treffen, ob sich dadurch das Verständnis verändert hat.
Paradigmenwechsel
Inzwischen vollzieht sich ein deutlicher Paradigmenwechsel: weg von den globalen, abstrakteren Theorien hin zu Theorien mittlerer und geringerer Reichweite und zu Praxiskonzepten.
Dennoch konnte Pflege bis heute mithilfe von Pflegetheorien nicht darlegen, was die USP (Unique Selling Proposition) der Pflege ist. Dieser Ausdruck aus der Wirtschaft ist absichtlich gewählt und meint einen der Konkurrenz überlegenen Wettbewerbsvorteil v. a. bei der Qualität. Wie im Vorwort schon zu lesen, waren auch die Bemühungen meinerseits für die dritte Auflage des Buches, Evaluierungen theoriegeleiteter Pflege in Österreich darzustellen, nicht erfolgreich. Somit ist es nach wie vor nicht möglich, wichtigen Financiers für Pflegeprojekte darzustellen, welche Geldmittel für welche Art von Qualitätsarbeit für das österreichische Gesundheits- und Sozialwesen bereitzustellen sind. Dies heißt auch, dass für externe Partner (und mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Pflegenden selbst) eine Differenzierung zwischen Pflegearbeiten, die von weniger qualifizierten Personen durchgeführt werden, und solchen, die von gut bis hoch qualifizierten Personen durchgeführt werden, nicht möglich ist. Bis dato (2021) gibt es in Österreich noch keine Pflegeberichterstattung.
Die im Kapitel "Kritik" an den Pflegetheorien und -modellen (v. a. der Pionierinnen aus dem angloamerikanischen Raum) angeführten Punkte führten u. a. zu einer Paradigmenverschiebung1 innerhalb der Pflegewissenschaft (was nicht heißt, dass es heute eine eindeutige paradigmatische Orientierung gibt).
Paradigmenverschiebung
Sicher ist eine Wende von der naturwissenschaftlichen zu einer vermehrt sozialwissenschaftlichen Orientierung - ein paradigmatischer Entwicklungsschritt in Richtung Reifen einer Wissenschaft im Sinne Kuhns (1976, S. 27). Ein weiterer Paradigmenwechsel hat mit der Fokussierung auf eine evidenzbasierte Praxis Einzug gehalten. So sehen Fawcett und ihre Kolleginnen Watson, Neumann, Walker und Fitzpatrick (2001) die Praxisentwicklung von einer theoriegeleiteten hin zu einer sich am Beginn befindlichen empirischen Entwicklung. Theorie ist heute in weiten Teilen mit dem Nachweis von Evidenz gleichgesetzt. Spannend ist die Frage, was zu diesem raschen Paradigmenwechsel geführt hat? Mit EBN (Evidence Based Nursing) beschäftigt sich Pflege in Österreich erst seit den 1990er-Jahren. Dass auch diese Entwicklung für die Pflege nicht unproblematisch sein muss, ist im nächsten Kapitel zu lesen. Kuhn (1976) glaubt, über seine Beobachtungen in der Forschungslandschaft behaupten zu können, dass es immer dann zu einem Paradigmenwechsel kommt, wenn ein Problem nicht gelöst werden kann oder wenn es eine Krise gibt. So kann man jetzt nach den ungelösten Problemen bzw. Krisen der Pflege fragen: Ist es die Krise des mangelnden Empowerments von Pflege in der Gesellschaft, ist es die Krise der nicht vorhandenen Transparenz, die dazu führt, dass die Ergebnisse der Pflege nicht benannt werden können, oder ist es die wirtschaftliche Krise, die den Kampf um die Ressourcen einer Pflegeentwicklung hemmt?
Reifen einer Wissenschaft im Sinne Kuhns
Bereitschaft zum Kulturwandel?
Die als Einstieg geäußerte Frage nach einer in der Praxis gelebten Theorie oder einem Modell in den Pflegeeinrichtungen und Organisationseinheiten der Pflege gibt es heute wohl mehr auf dem Papier, als dass sie als internalisiertes Wissen Anwendung finden würde. Nach wie vor ist Handeln ritualisiert und wenig von einem Denkprozess begleitet. Die Bereitschaft zum Kulturwandel ist eingeschränkt. Dies ist bedingt durch die Prägung der Pflege durch ein religiöses Wertesystem, durch die Motivation von Aufopferung und Berufung sowie durch die Fremdbestimmung der Medizin. Die Medizin ist vielfach auch unbewusst als Vorzeigemodell für das zu Erreichende im Gesundheitswesen verinnerlicht.
Käppeli (1999, S. 155) betont das heterogene Bild der theoriegeleiteten Pflege: "Den heutigen Pflegenden fehlen die pflegetheoretische Begründungskompetenz ihres Handelns und die Voraussetzungen zur Gesundheitsförderung weitgehend, was zur gesellschaftlichen Tendenz, die Pflege als Hilfsdienst einzuschätzen, beiträgt." Wäre das Bild von Pflege in der breiten Öffentlichkeit und in den Bezugswissenschaften ein anderes, so müsste heute kaum so intensiv um die Beteiligung an politischen Ämtern und um die Akademisierung gerungen werden. Die Akademisierung etwa setzt viele positive Akzente: Pflegende werden motiviert, Fragen aus der Praxis zu formulieren und einer Antwort zuzuführen, die Argumentationsbasis für das Handeln gewinnt an Stärke, und es wächst der Selbstwert, sich solidarisch für Kranke und Schwache einzusetzen. Dennoch ist die Entwicklung der Pflegewissenschaft nicht Garant für einen gelungenen Praxis-Theorie-Transfer, d. h. ein linearer Denk- und Pflegeprozess garantiert nicht immer die Lösung eines komplexen Problems; diese Erfahrung mussten ebenfalls viele Vorreiterinnen machen. Die aktuellen Bemühungen, Advanced Nursing Practice, die erweiterte und vertiefte Pflegepraxis (vgl. Neumann-Ponesch et al. 2013, 2014) in Österreich bekannt zu machen und zu etablieren (in Ansätzen gibt es sie schon), hat einen intensiveren und nachhaltigeren Theorie-Praxis-Transfer zum Ziel.
Fragen zur Vertiefung
Was ist ein Paradigmenwechsel?
Zu welchem Paradigmenwechsel kam es in der Pflege und wodurch wurde er ausgelöst?
Beantworten Sie die von mir gestellte Frage: "Können Sie mir eine Organisation, eine Abteilung, eine...
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