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Zu den vier überwiegend aus der US-amerikanischen Forschung stammenden Theorieansätzen, die Dittmar (1997) in den Grundlagen der Soziolinguistik aufzählt:
Soziale Dialektologie oder Variationslinguistik,
Sprachsoziologie,
Ethnographie der Kommunikation,
Interaktionale Soziolinguistik,
wollen wir die Sprachbarrierenforschung hinzurechnen, die sich in Großbritannien entwickelt hat und großen Einfluss auf die Soziolinguistik der deutschen Sprache ausgeübt hat ( Kap. II.1). Dabei müssen wir uns aus Platzgründen auf jeweilige Hauptvertreter und auf einige Grundgedanken und Grundbegriffe beschränken, wodurch der Aspektreichtum der jeweiligen Ansätze leider nur verkürzt und in Auswahl dargestellt werden kann.
Der britische Soziologe Basil Bernstein (1924-2000) hat sich mit den Sprachfähigkeiten von Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und dem Zusammenhang mit der Schulbildung beschäftigt. In seinen Schriften entwickelte er seit Ende der 1950er Jahre die These, dass der Bildungs- und Aufstiegserfolg von Gesellschaftsmitgliedern entscheidend vom Grad der Wohlorganisiertheit ihrer Sprachverwendung abhängt (Dittmar 1973: 1). In diesem Zusammenhang traf er die Unterscheidung einer >öffentlichen< Sprache der sozialen Unterschicht und einer >formalen< Sprache der Mittelschicht, die er in späteren Schriften als restringierten (RC) und elaborierten Code (EC) bezeichnete. Die durch die Sprache vermittelte unterschiedliche soziale Erfahrung deutet Bernsteins Orientierung an der Sapir-Whorf-Hypothese an, auf die er selbst mehrfach verweist.
Bereits in den frühen Schriften nimmt er eine Beschreibung der beiden Sprechweisen vor, die starke linguistische Kritik auf sich gezogen hat, wie er auch selbst in der Einleitung zu seinen Schriften konstatiert (z. B. 1972: 42). Besonders die Merkmalslisten des restringierten Codes gleichen einer Mängelliste (1972: 88). Das hat mit dazu geführt, den Bernstein'schen Theorieansatz als Defizitkonzeption zu bezeichnen, da die Unterschichtangehörigen über eine geringere sprachliche Variationsbreite zu verfügen scheinen: »Diese zentrale Annahme, daß die Unterschichtsprache unqualifizierter und beschränkter als die Mittelschichtsprache ist, wollen wir im folgenden Defizit-Hypothese nennen.« (Dittmar 1979: 1)
Schon in seinen frühen Schriften präsentiert Bernstein Charakteristika der beiden Codes (Tab. I.2.1).
Es verwundert die unklare Begrifflichkeit, die Vermischung linguistischer und psychologischer Charakterisierungen, die Schlichtheit des Schichtungsmodells, der hohe Allgemeinheitsgrad und Verallgemeinerungsanspruch sowie vor allem die mangelnde empirische Validierung und der offensichtliche Wertungsmaßstab.
Empirische Validierungsversuche stammen eher von späteren Schülern und Mitarbeitern Bernsteins (wie Coulthard, Hawkins, Henderson, Lawton). Bernstein selbst hatte seine Daten auf eine Stichprobe von 61 5-18jährigen Besuchern der Berufsschule (Arbeiterschichtgruppe) und 45 in Alter und Geschlecht gleichgesetzten Besuchern von Public Schools bezogen, die alle eine freie Diskussion zum Thema >Abschaffung der Todesstrafe< durchführten. Untersuchungsvariablen waren u. a. Häufigkeit und Länge von Sprechpausen, Gesamtlänge der Äußerungen, Anzahl und Klassifikation einzelner Wortarten, v. a. von Personalpronomen. Die Anlage der Untersuchung und die Analyse wurden einer detaillierten Kritik unterzogen (vgl. v. a. Dittmar 1973: 58ff., Neuland 1975: 44ff.).
Selbst wenn man bedenkt, dass der Autor nicht auf linguistische Vorbilder oder Traditionen zurückgreifen konnte, kann man der zusammenfassenden Kritik an den Merkmalslisten der linguistischen Codes von Dittmar (1973: 24) nur zustimmen:
Sie geben nur sehr global an, welcher Natur Unterschiede zwischen den zwei Sprechweisen sein können.
Die Trennung zwischen linguistischer Ebene und anderen Ebenen ist nicht geklärt.
Die Charakterisierungen gehen von Normvorstellungen aus, die weder gesellschaftlich hinterfragt noch durch ein explizites wissenschaftliches Modell gerechtfertigt werden.
öffentliche Sprache
formale Sprache
1
Kurze, grammatisch einfache und oft unvollständige Sätze, die das Aktiv betonen.
Genaue grammatische Struktur und Syntax regulieren das Gesagte
2
Einfacher und sich wiederholender Gebrauch von Konjunktionen
Grammatisch komplexe Satzkonstruktionen und der vielfältige Gebrauch von Konjunktionen und Relativsätzen
3
Häufiger Gebrauch kurzer Befehle und Fragen.
Häufige Verwendung von Präpositionen, die auf eine logische Beziehung und auf einen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang verweisen.
4
Häufiger Gebrauch von Adjektiven und Adverbien.
Differenzierende Verwendung von Adjektiven und Adverbien.
5
Gelegentlicher Gebrauch von unpersönlichen Fürwörtern als Subjekte von Bedingungs- und Hauptsätzen.
Häufige Verwendung unpersönlicher Fürwörter.
6
Fragen implizierende Feststellungen, die eine »sympathetische Zirkularität« in Gang bringen.
7
Begründungen und Folgerungen werden zu einer kategorischen Behauptung vermengt.
8
Häufig individuelle Auswahl aus einer Gruppe idiomatischer Wendungen.
Ein Sprachgebrauch, der auf die Möglichkeiten verweist, die sich in einer komplexen Begriffshierarchie zur Einordnung von Erfahrungen finden.
9
Angewandte Symbole weisen eine niedrige Allgemeinheitsstufe auf.
Expressive Symbole mit der Funktion, eher das Gesagte zu untermalen, als dessen Inhalt in logischer Hinsicht verständlicher zu machen.
10
Die individuelle Qualifikation liegt implizit in der Satzorganisation: Es ist eine Sprache impliziter Bedeutungen.
Die individuelle Qualifikation wird durch die Struktur und die Beziehungen innerhalb und zwischen den Sätzen vermittelt. Es handelt sich somit um eine explizite Qualifikation
Tab. I.2.1: Bernstein-Thesen zur öffentlichen und formalen Sprache (1972/1959: 88f.) (gekürzt und kontrastiv geordnet v. E.N.)
Auch die später eingeführten Merkmale: universalistisch (EC) vs. partikularistisch (RC) sowie geringe (EC) vs. hohe Vorhersagbarkeit(RC). tragen nicht zu einer grundlegenden Klärung bei. Umso mehr verwundert die unkritische bis euphorische Rezeption der Begrifflichkeit wie der Thesen Bernsteins zur damaligen Zeit, die sich angesichts der weiter vorn skizzierten wissenschafts- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen ( Kap. I.1) vielleicht nur aus dem Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Bestätigung offensichtlich schichtspezifischer Differenzierungen des Homogenitätsmodells erklären lassen.
So ist schon der postulierte Zusammenhang sozialer und sprachlicher Aspekte bei Bernstein diffus geblieben. In folgendem Schaubild hatte er versucht, diesen für die Entwicklung der Soziolinguistik wesentlichen Kernpunkt zu klären:
Abb. I.2.1: Auswirkung der Sozialstruktur auf linguistische Codes (Bernstein 1972/1959: 249)
Hier finden sich an den entscheidenden Stellen (von B nach C oben sowie innerhalb von A) Pfeile an Stellen theoretischer Explikationen. Bernsteins Code-Theorie bleibt trotzdem weiterhin eine spannende These und Herausforderung für die Sprachwissenschaft - bei aller Plausibilität seiner Ausführungen zu möglichen Folgen sozial unterschiedlicher Sprechweisen, die sich mit Mitteln der interaktionalen Kommunikationsforschung heute präziser beschreiben lassen. Auf Bernsteins Ausführungen zur sprachlichen Sozialisation werden wir in Kapitel II.1 näher eingehen.
Zur breiten Bernstein-Rezeption in Deutschland haben zweifellos die zahlreichen Studien beigetragen, die Grundgedanken Bernsteins aufgriffen und auf den deutschen Sprachraum übertrugen. Dazu zählt vor allem die Arbeit: Sprache und soziale Herkunft (1970) des Soziologen Ulrich Oevermann. Darin formuliert er als Generalhypothese:
Zwischen Kindern der Mittelschicht und der Unterschicht zeigen sich im Sprachverhalten Unterschiede, die mit der theoretischen Interpretation der linguistischen Merkmale in der Dimension »restringiert« - »elaboriert« übereinstimmen.
Diese Unterschiede zwischen der Unterschicht und der...
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