Schweitzer Fachinformationen
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Am 5. Oktober beginnen die Herbstferien.
Ursprünglich hatten wir geplant, nach Ägypten zu den Pyramiden zu reisen. Doch Saddam Hussein, der irakische Diktator, hat uns die Tour vermasselt. Die Reise wurde storniert. Wer möchte schon in ein Krisengebiet zu reisen, in dem alles unvorhersehbar ist, in dem sogar ein Krieg, losbrechen kann.
Also planen wir das schon oft Bewährte: Wir werden nach Ungarn fahren und in Budapest bei Ildikos Eltern wohnen und die Rückreise über Prag nehmen. Ildiko macht sich Sorgen um ihre alten Eltern. Opas Verkalkung wird von Monat zu Monat bedrohlicher. Er vergisst alles, richtet nur noch Unsinn an und ist darüber hinaus häufig aggressiv.
Ein weiterer Anlass der Ungarnreise ist mein Zahn, besser gesagt, mein fehlender Zahn. Im Frühjahr machte er Beschwerden und im April trennte ich mich von ihm. Seitdem pfeift die Luft durch die Lücke und ich lispele mehr denn je. Der Kostenvoranschlag des Zahnarztes für eine Brücke bereitete Kummer: 2200.- DM. Ist ein gestopftes Zahnloch so viel Geld wert? In Budapest lebt Marianne, Zahnärztin und Ildikos Freundin. Und Zahnbehandlungen, Zahnersatz sind viel billiger im Osten. Was also lag näher, als die Kosten der Gebissreparatur in Ungarn zu verringern.
Ildiko und ich fahren zum ersten Mal seit vielen Jahren ohne die Kinder. Eine ganz neue Erfahrung.
Die Fahrt verläuft ohne nennenswerte Besonderheiten. Wir machen die üblichen Pausen an den gewohnten Tankstellen. Selbst McDonalds steuern wir wie all die Jahre zuvor an. In Österreich Föhn: Selten sahen wir die Alpen so klar in der Ferne. Stau in Wien: Eine Stunde lang quälen wir uns durch das Gewühl.
Das neue Gefühl an der österreichisch-ungarischen Grenze kennen wir nun schon. Das grenzenlose Europa ist fast Wirklichkeit geworden. Der Traum von der unbegrenzten Freizügigkeit ist kein Traum mehr. Noch vor einem Jahr bereiteten die Stahlschranke und die bewaffneten Soldaten und das Warten auf den Stempel im Pass Angst. Heute geht der Grenzübertritt fast ohne Unterbrechung vonstatten.
In Budapest erwarten uns Ildikos Eltern und Schwester mit warmen Gefühlen und leckerem Essen.
Am Sonntagabend sind wir zum Essen bei Marianne und Janos eingeladen. Marianne ist die besagte Zahnärztin, Janos ist Jurist. Als Budapest noch die Hauptstadt einer Volksrepublik war, besuchte uns Janos zweimal in Kassel, um sich ein deutsches Auto zu kaufen, einmal einen BMW, das zweite Mal einen Opel Omega. Er brachte viel Geld mit, wir suchten gemeinsam das entsprechende Fahrzeug und Ildiko veranlasste, dass ein Notar die Schenkungsurkunde ausstellte. An der Grenze ließ sich Janos die Mehrwertsteuer zurückerstatten und verkaufte die Autos kurze Zeit später in Budapest. Mit ordentlichem Gewinn natürlich. Eine fragwürdige Art, zu Geld zu kommen. Im letzten Jahr bauten sich Janos und Marianne eine prachtvolle Villa, elegant, großzügig, allen westlichen Ansprüchen genügend.
Unsere aktive Beteiligung am Wohlstand der beiden ist sicher gering, aber nicht völlig von der Hand zu weisen. Die Einladung nehmen wir gerne an. Die beiden lieben wie die meisten Ungarn gutes Essen und Trinken und sind infolgedessen nicht gerade schlank. Marianne führt einen ständigen Kampf gegen die überflüssigen Pfunde. Sie lebte mit ihrem ersten Mann mehrere Jahre in Deutschland, sodass unsere Konversation teilweise auf Deutsch verläuft und ich nicht nur zum Zuhören verdammt bin.
Zunächst feilt Marianne meinen gesunden Zahn ab, als Stützpfeiler für die Brücke. Nach zwei Stunden etwa lässt die Wirkung der Spritze nach und wir essen zu Abend. Die Politik spielt bei dem Gespräch natürlich die Hauptrolle. Ungarn ist wie der gesamte ehemalige Ostblock im Umbruch. Alles verändert sich in einem unglaublichen Tempo und keiner weiß so recht, wie und ob er Schritt halten kann. Janos ist optimistisch, obgleich auch er nicht weiß, ob er seine Stellung beim Magistrat behalten wird. Irgendwann wird sie ausgeschrieben werden, und ob man ihn dann wieder einstellt, ist ungewiss. Aber Janos ist clever und bereit, neue Gedanken zu denken. Mit einem halben Fuß stand er sowieso schon immer im Westen.
Am nächsten Tag, einem Montag, machen wir einen Stadtbummel durch Pest. Die Stadt platzt mehr denn je aus den Nähten. Der Verkehr quält sich im Schritttempo durch die breiten Straßen. Mit viel Glück finden wir einen Parkplatz am Deak-Ter. Jahrelang haben wir hier im DDR-Kulturzentrum Bücher gekauft. Oft war das, was in der gesamten DDR nicht zu finden war, hier zu haben: Maxi Wander, Stefan Heyms Romane, Stücke von Christoph Hein. Natürlich gibt es kein DDR-Zentrum mehr. "Dieser Laden musste leider schließen. Wir danken all unseren Kunden für die langjährige Treue." Deutsche Bücher findet man noch in einigen Buchhandlungen, weniger zwar als vor dem Umbruch und teurer sind sie alle geworden. Überhaupt die Preise: explosionsartig haben sie sich im Laufe weniger Monate erhöht. Ich frage mich, wer all diese westlichen Produkte, die zum Teil teurer sind als bei uns, kaufen kann. Die Löhne sind zwar gestiegen, aber in ungleich geringerem Maße. Man merkt das an den Kosten für Dienstleistungen, die immer noch unglaublich niedrig sind. Eine Fußpflege umgerechnet etwa vier Mark, eine Reifenreparatur inklusive zweimaliger Montage acht Mark, die Straßenbahn kostet das Doppelte wie vor einem Jahr, nämlich sechs Forint, fünfzehn Pfennige. Ildikos jüngste Schwester verdient als Kindergärtnerin etwa 10 000 Forint. Was ist das schon, wenn Kleidung, Schuhe, Lebensmittel, Kosmetika, Schmuck, überhaupt alles gewaltig im Preis gestiegen sind. Die Verlockungen sind größer geworden, die Kaufentscheidungen schwieriger und der persönliche Etat vieler Ungarn kleiner. Und man bekommt alles. Markenartikel mit Rang und Namen schmücken die Schaufenster. Wenigstens gibt es in den Warenhäusern noch ungarische Produkte, weniger elegant verpackt, aber viel billiger. Ob sie deswegen schlechter sind?
Trotz des Preisanstiegs ist Ungarn immer noch Billigland für westliche Touristen. Der Schwarzmarktkurs liegt fast bei 50 Forint für eine Mark, gegenüber den offiziellen 39 Forint ein erheblicher Unterschied. Für hundert Mark gehört einem zwar in Budapest auch nicht die Welt, aber es reicht bei Weitem, um über die Verhältnisse zu leben und den Mann von Welt zu spielen. So erleben auch die Váci-utca und die Ringstraßen einen wahren Kaufrausch. Die Geschäfte sind voll, die flanierenden Kunden vielsprachig und multinational. Deutsche Wortfetzen überwiegen. Ungarn, hieß es vor wenigen Tagen im Fernsehen, sei auf dem besten Wege, das Bangkok Europas zu werden. Liebe, Rauschgift und Alkohol sind wohlfeil, Zigeuner und dunkelhäutige Banden beherrschen den Markt. Zwar wirkt auch am Abend die Stadtszene nicht bedrohlich, aber auffällig ist die Vielzahl von dunkelhaarigen und exotisch-arabisch aussehenden Männern, die an den Straßenecken und in den Unterführungen in Gruppen zusammenstehen.
An der Népköstarsasag-utca, werden wir Zeuge eines historischen Moments. Das Schild mit dem ungeliebten Straßennamen wird von einem auf einer Leiter stehenden Herren im dunklen Anzug abgeschraubt. Die Prachtstraße erhält wieder ihren alten historischen Namen. "Andrási". Die Fernsehkameras surren und am Abend kann das Ereignis auf den Bildschirmen der Nation besichtigt werden. Die Ungarn finden ihre Geschichte wieder.
Wir machen ein paar kleine Einkäufe, bummeln und kaufen Theaterkarten für drei Abende. Dann beginnt es zu regnen. Janos und Marianne haben uns zwei Dauerkarten für Sauna und Schwimmbad in einem Hotel überlassen. Was können wir Besseres tun, als uns aufzuwärmen und unsere Gesundheit zu pflegen.
Zu Hause bei Oma und Opa ist die Stimmung eher trüb. Ildikos Vater, das Sorgenkind, das ständiger Aufsicht bedarf, ist das Hauptthema. Es ist deprimierend, zu sehen, wie dieser kräftige Mann im Laufe des letzten Jahres abgebaut hat und infantil in den Tag hinein lebt. Dabei ist der Körper noch kräftig und verlangt nach Betätigung, der Geist jedoch ist unfähig geworden, diesen Betätigungsdrang zu regulieren. Spannungen sind die Folge. Was noch funktioniert, sind die ritualisierten Handlungen: waschen, essen, den Garten spritzen. Aber das geschieht zur Unzeit.
Am nächsten Tag besuchen wir die internationale Kleinplastiken-Ausstellung. Vor Jahren war dieses Kunstereignis uns eine überraschende Offenbarung: eine Fülle witzig-ironischer, anmutiger Kleinplastiken. Diesmal aber überwiegt Enttäuschung. Fast alle Objekte sind spartanisch, kaum etwas findet sich, das lustig und verspielt die damaligen Eindrücke wiederholen könnte. Immerhin fällt unser Blick in der Eingangshalle auf das Plakat einer Marilyn-Monroe-Ausstellung. Diese Ausstellung in der Innenstadt macht alles wieder gut: witzige Objekte im Pop-Art-Stil. Schmunzeln über die Verballhornung eines amerikanischen Traums.
In der Burg gibt es eine Karikaturen-Ausstellung. Eine Fülle von Ideen und wohlgelungenen bissigen Zeitbetrachtungen. Auffällig ist, dass die Karikaturisten der vormals...
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