Das schwere Erbe meiner Großeltern, oder: Kann denn die Vergangenheit nicht ruhen?
Unseren Hof im schönen Allgäu hatte mein Vater von meinen Großeltern Xaver und Benedikta übernommen, beziehungsweise von meinem Onkel, der früh durch einen Unfalltod verstarb. Meine Oma wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, im Jahre 1906, und ich wusste nur aus Erzählungen, wie hart, entbehrungsreich und ungerecht ihr Leben gewesen war. Elf Kinder hatte sie geboren. Ich habe sie nur in meinen ersten Lebensjahren kennengelernt, als ruhige, stets lächelnde und alles duldende Frau mit Kopftuch. Wenn sie bei uns am Tisch saß, musste ich immer auf ihre dünnen, knochigen Hände sehen. Ja, die sprachen Bände. Ich konnte darin lesen wie in einem offenen Buch. Dann verglich ich ihre Hände mit meinen eigenen und war stets schockiert, denn sie sahen meinen unglaublich ähnlich. Es waren die gleichen dünnen, sehnigen Hände, nur 78 Jahre lagen dazwischen. Alte faltige Haut und Altersflecken, mit diesen herausstehenden blauen Venen und knorpeligen Mittelhandknochen. Wenn man die Hand von der Seite betrachtete und die Finger beugte, stand der Mittelhandknochen wie ein großes Scharnier heraus. Auch von oben betrachtet stachen in dieser Stellung die Knochen markant hervor, sodass die Hand filigran wirkte, oder bildhaft gesprochen wie ein Bergzug mit Gebirgshöhen und tiefen Talsenken dazwischen.
Meine Großmutter Benedikta verschied, als ich etwa elf Jahre alt war, in einem recht hohen Alter. Mein Großvater verstarb schon früher, da war ich gerade mal ein Kleinkind. Ihn habe ich nicht mehr bewusst erlebt und auch meine Oma war nur zu Geburtstagen oder Namenstagen bei uns zu Besuch. Nachdem auch sie verstarb, zogen wir auf den Hof, den der Bruder meines Vaters führte. Er war Nebenerwerbslandwirt und Automechaniker. Eines Tages stürzte die Hebebühne auf ihn, der noch keine dreißig Jahre alt war, verletzte ihn tödlich.
Auch wenn ich kaum etwas vom Leben meiner Großmutter wusste, spürte ich ihr Leid als Frau wie eine Last auf meinen eigenen Schultern, wie ein Joch, das mich, die 1984 geboren wurde, noch immer herunterdrückte. Ich, als Mädchen, das auf diesem Hof aufwuchs, hatte meine Mutter und meine Großmutter als Vorbilder. Sie prägten mich, wenngleich unbewusst, sie waren meine Rollenmodelle, mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte. Und ich war diejenige, die diese Muster durchbrechen würde. Diejenige, die anders leben würde .
Wenn mein Vater viel zu selten von seinen Eltern und seiner Kindheit erzählte, standen häufig Tränen in seinen Augen. Das berührte mich immer sehr, denn im Allgäu sind weinende Männer so selten wie indische heilige Kühe. Auch meine Tante Balbina, sie war Ordensschwester geworden und besuchte uns im Sommer regelmäßig für ein paar Tage, sparte mit Informationen über früher. Als Kind hatte es mich sowieso nicht interessiert, und sobald ich als junge Erwachsene mit dem Thema anfing, rügte mich meine Mutter. Von einer »guten, alten Zeit« könnte freilich nicht die Rede sein.
Mein Vater erzählte neulich, dass er immer Mitleid mit seiner Mutter empfunden hatte, die ihn im Alter von 43 Jahren geboren hatte. Mitte des 20. Jahrhunderts war das für Mutter und Kind gefährlicher als heutzutage, wo die medizinische Versorgung besser ist und die meisten Geburten in Kliniken stattfinden. Damals starb über ein Drittel der Frauen im Kindsbett. Instinktiv spürte mein Vater, dass seine Mutter, meine Oma Benedikta, ihn zwar liebte, aber keine Kraft für ihn hatte. Auch von seinem Vater, einem herrischen, kalten Mann, fühlte er sich nicht geliebt. Tante Balbina erzählte einmal, dass auch Oma Benedikta unter seiner Kälte litt, immer wieder die Zuneigung und Nähe ihres Ehemannes suchte, aber nicht in der Weise bekam, wie sie es gebraucht hätte. Oft wurde im Schneider-Hof harsch gesprochen und geschrien. Oder aber geschwiegen. Tante Balbina war nicht freiwillig ins Kloster gegangen. Sie war geflohen.
Ein deutlich wärmeres Verhältnis herrschte zwischen ihr und meinem Vater. Seine 18 Jahre ältere Schwester hatte ihn aufgezogen, da ihre Mutter als Anfang Vierzigjährige erkrankt war und meist das Bett hüten musste. Meine Mutter sah diese »Krankheit« als Flucht. Flucht primär vor ihrem Ehemann und ihren »ehelichen Pflichten«. Ich kann mir auch vorstellen, dass Oma Benedikta körperlich und seelisch am Ende war.
Doch die eigentliche Bezugsperson für meinen Papa war Balbina und das spürte man auch, wenn man die beiden zusammen erlebte. Als Kinder freuten meine Schwester und ich uns immer, wenn sie zu Besuch war. Sie war äußerst warmherzig und brachte uns immer eine Kleinigkeit mit, meist etwas Gebasteltes oder etwas, was sie selbst geschenkt bekommen hatte. Als Ordensschwester verdiente sie nichts und hatte »Armut« gelobt. Sie war aber auch eine moderne, weltoffene Frau, die uns Mädchen immer Gehör schenkte und Verständnis zeigte. Auch sie hatte die knochigen Hände meiner Oma .
Seit sie damals, in den Fünfzigerjahren, dem Benediktinerorden beigetreten war, wurde sie Schwester Bernadette genannt, denn sie war ab diesem Zeitpunkt, so erklärte man es uns Kindern damals, eine Braut Gottes und brauchte einen neuen Namen. Mit diesem wollte sie Bernadette Soubirous, die mehrere Marienerscheinungen hatte und auf die der französische Wallfahrtsort Lourdes zurückgeht, gedenken.
Mama sagte immer, Tante Balbina sei ins Kloster gegangen, weil sie nicht das grausame Leben ihrer Mutter haben wollte. Ich hielt das für sehr wahrscheinlich. Natürlich hatte meine Oma nicht freiwillig so viele Kinder bekommen. Die wenigsten Frauen durchlebten wohl freiwillig elf Schwangerschaften und Geburten ohne Narkose oder Kaiserschnitt. Dass es damals keine einfühlsamen Frauenärztinnen und Hebammen mit homöopathischen Hilfsmittelchen gab, muss ich freilich nicht erwähnen. Im Gegenteil, wenn ich, was selten war, mit meiner Mutter darüber redete, hatte ich eher den Eindruck, dass die Geburt eines Kindes, die höllischen Schmerzen, eine Bestrafung der Frau für die zuvor erlebte Lust war, wenn man damals von Lust sprechen konnte. »Die hot sich ja no glegt o« oder »Des is neikomme, dann wird es au rauskomme«, hieß es dann. Diese kuriose Einstellung erinnert mich komischerweise an einen Schriftsteller, dessen Werke ich sehr schätze und dem ich mich auch als Person sehr nahe fühle, da er ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich und diese wunderbar in Worte kleiden konnte: Franz Kafka, der in diesem Buch noch öfter zu Wort kommen wird, sagte: »Der Coitus ist die Bestrafung des Glückes des Beisammenseins.« Oder: »Sexualität ist die Sehnsucht nach Schmutz.« Auch in meinem Umfeld schienen manche Menschen mit Sexualität ihre Probleme zu haben oder aber sie totzuschweigen.
Es war damals eben üblich, dass die Ehefrau ihrem Mann zu Willen zu sein hatte; wenn er Sex wollte, hatte sie zu gehorchen. Ich fand diese Vorstellung abartig und widerwärtig. Wie konnte es denn sein, dass ein Mann derart über die Frau verfügte, über ihren Geist und ihren Körper? Dass sich damalige Menschen auch auf die Kirche bezogen und den Hochzeitsspruch »die Kinder anzunehmen, die Gott ihnen schenken möge« zitierten, machte die Sache noch schlimmer. Freilich, ohne geeignete Verhütungsmittel - die Pille kam erst 1960 auf den Markt - entstand so ein Kind eben schnell mal.
Bei der kirchlichen Trauung meiner Freundin Sofie im Jahr 2012 gelobte sie ihrem Ehemann Gehorsam, während er versprach, seine Frau zu lieben. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Ist das das Konzept einer gleichberechtigten Partnerschaft? Hieß Frausein gehorchen? Nein! Dann will ich keine Frau sein! Freiheit und Selbstbestimmung sind mir so wichtig wie die Luft zum Atmen.
20. Juni 1947
Heute gab es wieder viel Arbeit. Wir mussten das Heu einfahren, trocken genug war es, und für Ende der Woche wurde Regen erwartet. Doch wir hatten eine Gaudi dabei. Die Dorle und ich lachen viel, wenn wir draußen sind. Zusammen mit den anderen Gschwistrigen und dem Knecht Adolf macht die Arbeit eine Freud. Und der Vater war nicht da, da heut die Leich vom Donelar Hans war. Wenn der Vater da ist, wird nicht so viel gelacht. Immer schimpft er mit uns, vor allem mit den Kleinen. Was hat ihn nur so hart gmacht? Vielleicht der Krieg.
Mit Freud haben wir Gabel für Gabel das Gruamat1 auf den Wagen geladen, der Franz führt den Hektor, unsern Fuchs, und so arbeiten wir uns langsam auf dem Feld voran. Am schönsten ist freilich immer die Brotzeit. Wir aßen Brot und Käse und tranken frischen Most. Die Dorle hat mich aufgezogen, ob der Franz morgen auch zum großen Feuer käme. Zum Sonnwendfeuer. Ich hab nur glacht. Woher weiß die Dorle bloß, dass ich den Franzl gern hab? »Kidderfidla seid's, läppische!«, alberte der Adolf mit uns und warf uns eine Handvoll Gruamat übern Grind, dass wir nur noch mehr lachten. Herrlich würzig duftete es und die Sonne schien uns warm auf die Haut. So unbeschwerte Sommertage gab's nicht viele.
Die Mutter macht mir Sorgen. Ich hab Angst, dass da wieder was Kleines unterwegs ist. Die Kittelschürze spannt am Bauch. Und geweint hat sie gestern auch. Ich hab's an ihren Augen gesehen, als wir abends in der Stube die Wäsch geflickt haben. Aber fragen kann ich sie ja nicht.
Bis in die Nacht ham mer des Gruamat vom Wagen abgeladen. Nur zum Nachtessen gab es eine kurze Pause. Kartoffel und Kraut. Wie gern hätten wir wieder mal was Schweiners. Aber andere haben gar nichts zum Essen. Und mit dem Gedanken an morgen arbeitet sich's viel leichter.
Der Vater ist nach dem Leichenschmaus noch in den Denna kommen und hat mitgeholfen. Der arme Johann konnt...