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Keine Sorge, ganz so schlimm ist es doch noch nicht gekommen. Aber wo ich Ihre Aufmerksamkeit habe: Japan ist im Wandel. Ein Satz, so beliebig, dass man ihn am liebsten gleich wieder streichen möchte. Nichtsdestotrotz kann man kaum bestreiten, dass seine Kernaussage in mehr als einer Hinsicht stimmt. Die Gesellschaft transformiert sich ebenso schnell wie die Szenerie. Die Alten werden immer älter, Neugeborene kommen kaum nach. In Tokio lebt es sich wie auf einer Baustelle: Jeden Abend fragt man sich vor dem Einschlafen, welches Haus wohl morgen nicht mehr steht, und welches stattdessen. Das ist nicht immer eine bange Frage. Ganz unter uns: Nicht jedes Haus, das in Tokio so rumsteht, hat es verdient, um jeden Preis für die Nachwelt erhalten zu bleiben.
Wandel muss also keineswegs von Übel sein, aber Wandel kann verwirren und an den Kräften zehren. Und so ist es vielleicht bezeichnend, dass Hello Kitty, obwohl die Nachrichten von ihrem Ableben stark übertrieben sind, nicht mehr die beliebteste Kreation ihres Herstellers Sanrio ist. Jahrzehntelang war sie das, was sie zu einer Art Botschafterin des Landes machte (ab 2008 war sie es sogar konkret: da wurde sie offiziell zur Tourismusbotschafterin ernannt). Während sie im Ausland für Japan steht wie kaum eine andere Symbolfigur, hat sie in ihrer Heimat mittlerweile eine Cartoon-Kreation namens Gudetama in Sachen Beliebtheit überflügelt. Der Name heißt so viel wie »faules Ei«, und tatsächlich handelt es sich um ein stets schlafendes oder zumindest müdes Stück Eigelb, das es sich am liebsten unter seiner Speckdecke bequem macht. Die Frage, was das über die japanische Volksseele aussagt, beflügelt jede Menge Japan-Interpretatoren zu küchenpsychologischen Höchstleistungen.
Japaner mögen manchmal müde sein, sie sind schließlich auch nur Menschen, doch das Land als Ganzes schläft nicht. Es ist mit Elan dabei, sich neu zu erfinden, oder sich zumindest neu zu präsentieren. Das tut man am besten mit Schlagworten. Und wenn einem die alten nicht mehr genehm sind, müssen neue her. Omotenashi statt Fukushima. In der allerersten Ausgabe dieses Buches hatte ich 2009 meinen Unmut darüber geäußert, dass über Japan im Westen anscheinend eine Nachrichtensperre verhängt sei, solange es nicht um kuriose Schmunzelmeldungen oder Neues aus der Hightech-Welt gehe. Im Frühjahr 2011 allerdings mochte man sich wünschen, es möge mal wieder etwas weniger über Japan berichtet werden. Zumindest weniger hysterisch, weniger spekulativ, weniger elendspornografisch. Nach dem Tohoku-Erdbeben und dem Tsunami an der Ostküste der größten japanischen Insel Honshu waren alle Medien überall auf der Welt voll von Japan. Die anschließende Kernreaktorhavarie in Fukushima sorgte dafür, dass das noch eine ganze Weile so blieb. Dabei wurde dem Ausland das Bild vermittelt, ganz Japan sei ein einziges Desaster, vermutlich für immer.
Dahingehend hat sich die Nachrichtenlage wieder ein wenig entspannt. Trotzdem bleibt Fukushima ein eng mit der ganzen Nation verbundenes Schlagwort, und zwar nicht unbedingt eines, das den hochgesteckten Zielen der japanischen Tourismusindustrie gelegen käme. Da musste ein neues her, und das lieferte die TV-Persönlichkeit Christel Takigawa im September 2013, als sie es dem Internationalen Olympischen Komitee und dem Rest der Welt strahlend, gestenreich und geduldig nach dem japanischen Silbenalphabet vorbuchstabierte: »o - mo - te - na - shi«. Auf Deutsch in etwa: Gastfreundschaft. Fortan war omotenashi so was von in aller Munde, dass man meinen mochte, die kleine Vokabellektion allein hätte Japan den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2020 beschert. In Japan selbst war das Wort zuvor eines unter Tausenden gewesen, ein wenig angestaubt, weder in den Medien noch auf der Straße sonderlich präsent. Doch plötzlich hatten alle eine Meinung dazu. Zu einer erfolgreichen Schlagworteinführung gehört selbstverständlich auch eine kräftige Kontroverse. Die Alten maulten, dass es die omotenashi der guten alten Schule ja gar nicht mehr gäbe. Mit dem Geburtenrückgang geht auch die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe zurück, beziehungsweise es gibt nicht mehr genügend Kunden zu bedienen, um, zum Beispiel, in wirklich allen Geschäften gewinnbringend menschliche Regenschirmtrockner und Fahrstuhlknopfdrücker einzustellen. Die sogenannten Expats, die in Japan wie im Rest der Welt oft eigene Unzulänglichkeiten verbiestert ihrer neuen Heimat ankreiden, maulten, dass diese omotenashi erstens total oberflächlich sei (dabei verwechselten sie offenbar Gastfreundschaft mit Blutsbrüderschaft), und zweitens sowieso total auf die Nerven ginge. Es muss natürlich jeder selbst wissen, ob er oberflächliche Unfreundlichkeit oberflächlicher Freundlichkeit vorzieht. (Eigentlich bin ich Anglizismen-Skeptiker, aber »Expats« scheint mir im realen Sprachgebrauch doch eher eine besondere Art von Auswanderern als Auswanderer ganz allgemein zu meinen. Und diese besondere Art meine ich hier.)
Auch wenn man nicht zu den zynischen Expats gehört, muss man zugeben: Früher war es leichter, Japan anzupreisen. Zum Beispiel vor rund zehn Jahren, als die besagte erste Ausgabe dieses Buches erschien. Das Land war die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt (inzwischen auf einem wackeligen dritten Platz), die japanische Popkultur die coolste der Welt (es gibt inzwischen asiatische Konkurrenz, über die noch zu sprechen sein wird), und von Fukushima hatte kein Mensch was gehört (das hat sich geändert). Immerhin hat die japanische Regierung begriffen, dass man auf Softpower setzen muss, wenn man sonst kaum noch Power hat. Manga, Sushi und Kimono statt militärische Invasionen und wirtschaftliche Übernahmen scheint nun das Motto zu sein, und wer würde das nicht gerne unterschreiben? Ob es jedoch eine gute Idee war, dafür gleich einen halbstaatlichen »Cool Japan Fund« ins Leben zu rufen? Schließlich ist nichts so uncool wie staatlich geförderte Popkultur. Daran scheint der bislang überschaubare Erfolg des Unterfangens nicht zu rütteln.
Japans auch popkultureller internationaler Bedeutungsverlust belastet die japanische Seele, was sich bisweilen sonderbar äußert. Kürzlich sahen meine japanische Frau und ich einen amerikanischen Thriller, in dem ein paar wenige Szenen in Südkorea spielten. Es handelte sich nicht um ein schmeichelhaftes Porträt, die Südkoreaner waren allesamt dekadente, skrupellose, sexbesessene Computerhacker. Da seufzte meine Frau wehmütig und sagte: »Ist das nicht schade? Vor ein paar Jahren hätte Hollywood dafür noch Japaner genommen.« Die fragwürdige Darstellung von »Asien« und »Asiaten« störte sie kaum (da ist man im Osten tatsächlich weniger dünnhäutig als im debattierwütigen Westen). Schlimmer war, dass man an Japan nicht mal mehr denkt, wenn es Ganoven und Perverse zu besetzen gilt.
In der vorletzten Weihnachtssaison sah ich in einer Buchhandlung ein farbiges, hochglänzendes Fanbuch zu einer südkoreanischen Boyband. Ist normal, möchte man meinen. K-Pop ist schließlich in Japan rasend beliebt. Ich sah es allerdings nicht in einer japanischen Buchhandlung, sondern in einer deutschen. Und es handelte sich nicht um ein Nischengeschäft in einem Berliner Trendviertel, sondern um eine Kettenbuchhandlung in der Fußgängerzone von Bremen-Vegesack. Da wusste ich: Das kann Japan nicht mehr aufholen. Die Pop-Weltmacht Nummer 1 außerhalb der englischsprachigen Hemisphäre ist nun Südkorea.
Aber muss man überhaupt immer die Nummer 1 sein? Nö. Wenn die Hysterie verflogen ist, wenn die Influencer und Trendhopper weitergehüpft sind, um andere Orte abzufotografieren, beginnt das gute Leben. Einmal saß ich in einer Bar in Tokio mit einem deutschen Nachwuchskünstler, mit einem Ohr einem lokalen Blues-Musiker lauschend, mit dem anderen dem Künstler. Die Stadt war gut, die Bar war gut, die Musik war gut, das Bier war gut, doch der Künstler zog Flunsch. »In Tokio ist nichts mehr los«, maulte er, »ich glaub, ich geh nach Schanghai.« Ich dachte: Bitteschön, da ist die Tür. Ein Teil des Problems weniger.
Japan hat jetzt etwas Besseres zu tun, als hip zu sein. Wer den Nabel der asiatischen Welt sucht (vielleicht damit den der Welt an sich?), wird womöglich in Korea oder China fündig. Macht nichts, sind ja auch schöne...
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