Schweitzer Fachinformationen
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Der Fluss funkelt. Unten, von der Engelsbrücke aus, könnte man sehen, wie brackig und von Algenschaum und Plastikmüll durchzogen der Tiber ist, aber von hier oben zeigt sich Rom in allerbestem Licht. Die Abgase der Autokolonnen versehen alles wie mit Weichzeichner, und die Herbstsonne taucht die von Taubenkot ganz pockigen Kirchkuppeln in goldenen Glanz.
Adrian versucht, sich weiter rückwärts über die Brüstung der Engelsburg zu biegen, aber es gelingt ihm nicht. Der hüfthohe Glaszaun, den sie vor die Steinbrüstung gesetzt haben, ist ihm im Weg. Er seufzt. Das Problem ist der Winkel. Die Sonne steht falsch. Wenn unter ihm die Stadt leuchtet, ist er eine Silhouette.
Ein Anfängerfehler ist das. Normalerweise berechnet er den Sonnenstand und richtet seine Photosessions danach aus. Oder er hat seine Ausrüstung dabei, seinen Tripod, oder wenigstens den Saugnapf aus Silikon, mit dem er sein Handy überall befestigen kann. Aber heute hat er sich mitreißen lassen, so wie überhaupt dieser Tag ihn mitreißt. Noch am Vormittag war mit der Einladung zu diesem Casting nicht zu rechnen gewesen. Dann kam der Anruf: Für eine Rolle in einer deutsch-italienischen Serie wolle man ihn vorsprechen lassen, ja, morgen vor Ort, nein, nicht online - und schon Stunden später stieg er in Fiumicino aus dem Flugzeug. In einer kleinen Pension hinter dem Bahnhof Termini warf er seine Sachen ab. Sein Zimmer ist winzig, ohne Bad und ohne Balkon, ohne Spiegel, dafür mit hoher Stuckdecke, grünen Damastvorhängen und mit einem durchgelegenen, mit der Wand verschraubten Einzelbett, das er seinen Fans und Followern ganz bestimmt nicht zeigen wird. Im Schreibtisch entdeckte er den versprochenen Kühlschrank und verstaute dort die Einkäufe, die er im Untergeschoss des Bahnhofs noch schnell erstanden hatte: eingelegte Artischocken und Oliven, Mozzarellabällchen mit grünem Pesto, Salami, Cocktailtomaten und ein paar Dosen Peroni. Dann ging er sofort los, hinein in das Gewimmel, durch Gassen und über Stufen, bis zur Engelsburg, hinauf auf ihre Aussichtsplattform, die Terrazza dell' Angelo. Rom von hier oben im Sonnenuntergang, das war das Ziel. Oder genauer: er, Adrian, von der Ewigen Stadt umsäumt.
So schwer kann das nicht sein.
Adrian dreht sich hin und her, das Smartphone in den Himmel gereckt. Auf dem Bildschirm kann er sein eigenes Gesicht sehen. Er sieht fahl aus. Nur seine Augen leuchten ihm aus jeder Position entgegen, das Blau, das seine Agentur so gerne preist: ein Schauspieler, in dessen Blick man versinkt. Aber dieser Blick wirkt jetzt müde, man sieht ihm die Erschöpfung an. Direkt innerhalb der App wird er das Bild aufnehmen müssen und einen der Schönheitsfilter anwählen, dann muss er sich nicht umständlich selbst an die Bearbeitung machen. Das Problem ist, dass Instagram die Nutzung von Filtern inzwischen kennzeichnet. Glamour-Filter by Koknox plärrt es unter den Videos und Bildern hervor, jeder kann sehen, dass man sich virtuell verschönern musste, aber das ist ja das Ziel. Die Nutzer sollen unterscheiden zwischen Sein und Schein.
Als wäre es dafür, denkt Adrian und dreht sich noch etwas weiter nach links, nicht haushoch zu spät. Die Wirklichkeit ist längst verloren, sein Beruf ist dafür der Beweis. Das hat er vor Kurzem auf der Bühne so gesagt, auf einem Filmfestival. Er sprach in die vielen Handykameras hinein, deren Frontaugen ihn aus dem Zuschauerraum anstierten. Der Moderator, der der Einzige war, der sich in diesem toten Raum noch bewegte, nickte ihn gelangweilt an.
Adrian seufzt noch einmal. Er muss sich beeilen, bevor das Licht verschwindet. Es ist wichtig, dass er heute noch postet, dass er Likes und Kommentare einsammelt, bevor er morgen zum Vorsprechen geht. Seine Beliebtheit in den sozialen Medien kann, das weiß er, für die Filmproduzenten das Zünglein an der Waage sein. Vielleicht kann er sein Handy auf einer der weißen Steinbänke absetzen und sich mit Selfie-Modus und zehn Sekunden Zeitverzögerung aufnehmen, darin ist er geübt. Oder er bittet eine der Touristinnen aus der japanischen Reisegruppe, die sich da unter der hoch auf der Burgspitze thronenden Engelsskulptur zusammenflockt, ihn zu photographieren. Aber das geht meistens schief, niemand hat einen besseren Blick auf Adrian als er selbst.
Dieser Engel ist überhaupt ein tolles Motiv. Wie der da mit weit ausgebreiteten Schwingen sein Schwert zückt. Das Haar so lockig, die Gesichtszüge ebenmäßig, der ganze bronzene Körper kraftvoll, bis in die Flügelspitzen hinein. Ein Selfie mit dem muss her.
Aber der Engel ist hoch oben, Adrian muss sich auf dem steinernen Terrassenboden auf die Zehenspitzen stellen, um sie beide zusammen aufs Bild zu bekommen. Zwischen ihnen gähnt der Ausgang, durch den man aus der Burg hinaus auf die Engelsterrasse tritt, das stört ihn, aber es lässt sich nicht ändern. Irgendwo beginnt eine Glocke zu schlagen, und gerade als Adrian abdrückt, stürzt ein Greis durch die Türöffnung, mit wirrem Haar und zuckendem Blick. Auf seinem Screen kann Adrian sehen, wie der Alte in seinem Rücken den Mund aufreißt und direkt auf ihn zustürmt. Er wirbelt herum, weicht zurück, und dann geht alles sehr schnell.
Jemand fällt auf ihn. Von oben scheint derjenige auf ihn herabzukrachen, das kann gar nicht sein, aber Adrian denkt nicht nach und packt einfach zu, damit sie nicht beide rückwärtstaumeln, über die gläserne Absperrung und die Festungsmauern hinweg. Irgendwer schreit, hoch und schrill, Adrian spürt das Gewicht des Körpers, der ihn mit sich in die Tiefe zu reißen droht, er hakt seinen Fuß um einen metallenen Sockel, ein Münzfernglas oder eine Informationstafel, egal was das ist, es dient ihm als Hebel, er stemmt sich vorwärts, und sie fallen gemeinsam nach vorne, auf den sonnenwarmen Boden.
Der Aufprall ist hart, in seinem Ohr ist ein Keuchen und ein Kitzeln wie von Federn, jemand applaudiert, Kameras klicken, Adrian rollt sich herum und rappelt sich auf, so schnell er kann. Zu seinen Füßen ist eine Bewegung. Erst jetzt sieht Adrian, wen er da mit sich gerissen hat, einen jungen Mann, fast noch ein Junge, der ihn unter flatternden Wimpern anstarrt. Der Typ murmelt etwas, in einer Sprache, die Adrian nicht versteht. Engelszungen, denkt er sofort und muss sich das Grinsen verkneifen, denn wer da vor ihm auf dem Boden liegt, ist ein Engel. Seine Flügel sind weit gespreizt und haben durch den Sturz ein paar Federn verloren, der Lendenschurz ist verrutscht, die Locken schweißverklebt. Ein Kleindarsteller muss das sein, in vollem Kostüm, so wie die Gladiatoren, die vor dem Kolosseum darauf warten, dass man mit ihnen photographiert werden möchte. Sogar ein Schwert hat der, kaum zu glauben, dass das aus Plastik sein soll, es wirkt täuschend echt, mit Rostflecken und allem.
»Sorry«, sagt Adrian, als er die Hand ausstreckt und dem Jungen auf die nackten Füße hilft. »Blöd von mir, I didn't see you there, scusi!« Aber der Engelstyp legt seinen Kopf schief und lächelt und sagt auf Deutsch: »Gerettet hast du mich.«
Der wirre Alte, der das alles ausgelöst hat, ist nirgends zu sehen.
Als Adrian am nächsten Morgen erwacht, schmerzt ihm der Nacken. Er hat in der Nacht die Damastvorhänge nicht nahtlos geschlossen, ein schmaler Lichtstreifen fällt durch die Lücke und zieht sich quer über sein Bett. Draußen im Hof hört er ein klackendes Geräusch, der Gesang einer Frau hallt gegen die Hauswände, Klimaanlagen rattern, eine Taube gurrt. Im Zimmer selbst ist es still, nur der kleine Kühlschrank surrt in seinem hölzernen Haus vor sich hin.
Adrian stöhnt und presst sein Gesicht in die Kissen. Das darf nicht sein, er kann sich keinen Kater leisten, nicht heute, nicht, wenn er endlich mal wieder zu einem Vorsprechen eingeladen wurde, einem internationalen noch dazu, von einem der wichtigsten Streamingdienste. Sein Atem riecht schal. An eine Bar kann er sich erinnern. An eine Uhr auf der rohen Backsteinwand, deren Zeiger bei jedem neuen Hinsehen um Stunden vorwärtsgesprungen zu sein schienen. An Zigarettenrauch und Gelächter und einen flimmernden Fernseher, vor dem alte Männer auf ein Pferderennen starrten. Auf einen Grappa hatte er den Jungen doch nur einladen wollen, einen Schnaps auf den Schreck, hatte er gerufen, und er weiß noch, dass sie sich gemeinsam vor den Japanern verbeugt hatten, bevor sie die Burg verließen. Aber ab da wird es verschwommen. In seiner Erinnerung sieht er Fruchtfliegen, die ein Glas umschwirren, ein Schälchen mit abgeknabberten Olivenkernen und zerbrochenen Pistazienschalen, eine Hand, die aus dem Nichts kommt und ihnen die langstieligen, geschwungenen Gläser füllt. Dazwischen blitzt das Engelsgesicht vor ihm auf, die riesigen Augen, die ihn so aufmerksam ansehen, die dichten Wimpern, die faltenlose Stirn. Dass der Junge mehr aus seiner Jugend machen müsse, hat Adrian irgendwann gerufen, Vergänglichkeit is a bitch! Später hat er dann wahrscheinlich noch angefangen herumzubrabbeln, von den Rollen, die ihm schon jetzt, mit Ende dreißig, nicht mehr angeboten werden, von den Filmemachern, die bei der Besetzung eines Films auf die Followerzahlen der Schauspieler schielen, vom Zwang, immer jung zu bleiben, jung zu wirken, jung zu sein.
Gut, dass er dem Engel nie wieder begegnen wird.
Sie haben ihre Kontakte nicht ausgetauscht. Der Junge - wie hieß er noch - hatte keinen Account, nirgends. Adrian wunderte das nicht. Er kennt einige junge Offliner. Das ist die Rebellion der seit ihrer Geburt durchleuchteten Generation: digital detox, #mentalhealthmatters. Wer kein Profil hat, kann nicht blockiert werden. Und wer nicht erreichbar ist, über den zieht jeder Shitstorm hinweg.
Wenn er...
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