Schweitzer Fachinformationen
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Etwas zerfällt. Mit noch geschlossenen Augen kann er es schon sehen. Der Raum um ihn hat sich über Nacht verschoben, sich ausgetauscht, während er schlief. Nichts ist verortbar in diesem Zimmer, das er gestern erstmals betreten hat. Er hatte die Tür geöffnet und etwas war verloren gegangen. War ersetzt worden durch etwas anderes. Durch ein Abbröckeln von Dingen, von Gedanken vielleicht. Wie schnell, fragt er sich, beginnt das Vergessen.
Er hat, daran erinnert er sich, das Licht nicht eingeschaltet, als er ankam. Hat die Wände nicht nach Halterungen für sein Moskitonetz überprüft. Er hat den Rucksack abgestreift und sich im Dunkeln zum Bett vorgetastet. Ist unter die Laken gekrochen, ohne sich umzusehen. Hat das Gesicht in die Kissen gepresst. Als könnte man sich so in den Schlaf stürzen. Als würde das helfen.
Hoch über seinem Kopf hört er den Ventilator. Das Geräusch schält sich in sein Bewusstsein. Träge rotierende Blätter in dickflüssiger Luft, angeschoben vom Dröhnen des Generators im Hinterhof. Manchmal ein Klacken. Ein Innehalten, wenn sich die staatliche Stromversorgung zuschaltet und der hoteleigene Generator verstummt. Ein Stocken in der auslaufenden, sich dann gegenstemmenden Bewegung. Bis zum nächsten Umsprung.
Er weiß, wo das Fenster sein müsste. Wo die Tür, der Schrank, das Bett, in dem er liegt. Die Anordnung der Möbel im Zimmer. Der Lageplan des Hotels, der Ort. Es lässt sich einkreisen. In Burma muss er sein, immer noch. Aber dann.
Kann nicht sein, dass ich Dich nie wieder sehen soll. Das lasse ich nicht zu.
Vor ihm ein Bild. Von jemandem. Von ihr womöglich. Schon jetzt ist es überlagert, beginnt sich zu verfälschen. Was wird bleiben. Die Farbe ihrer Augen etwa. Die gezackte Narbe auf ihrem linken Handrücken. Oder die Krümmung ihres Rückens, als sie sich von ihm wegdrehte.
Diese Schwere in seinen Gliedern. Er versucht, sich zu bewegen. Seine Füße, seine Finger: alles bleibt reglos. Selbst sein Atem scheint ihm nicht zu gehorchen. Sein Brustkorb ist fest, er hebt sich nicht, senkt sich nicht.
Luft will er holen, einfach anatmen gegen die Starre. Hat aber vergessen wie. Das ist ihm als Kind einmal passiert. Er hatte die Eltern gefragt, wann man schluckt. Beim Einatmen oder beim Ausatmen, ob davor, danach, währenddessen. Sie konnten ihm damals nicht antworten, verstanden nicht, dass es ihm Ernst war. Lächelten über die Frage. Und er saß auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und starrte sie an. Wie sie schmunzelnd vom Sofa auf ihn herunterblickten, während sein Mund sich mit Speichel füllte und er versuchte, sich an den Vorgang zu erinnern. An die Mechanik, das Ein, das Aus, das Zusammenziehen der Brustmuskulatur, das Ausdehnen der Lunge, den Unterdruck. Bis ihm die Spucke über das Kinn auf den Boden troff, sein Gesicht blau anlief, bis sein Vater ihn hochnahm, ihn schüttelte und anschrie, ihm auf den Rücken trommelte, ihm schließlich ins Gesicht schlug und er erschrocken Augen und Mund aufriss und scharf nach Luft schnappte.
Daran versucht er sich jetzt zu erinnern: das Gefühl des kalten Sauerstoffs, der ihm durch die Luftröhre schoss, so schnell und hastig, dass sein Hals noch Tage später schmerzte. Er zwingt sich zu der Bewegung, die er seitdem verinnerlicht hat. Die er geübt hat. Damit ihm so was nicht noch einmal passiert. Das Öffnen des Mundes. Ein kurzes Anatmen. Ein heftiges Ausstoßen. Bis sich die Gedanken, die ihm durcheinander geraten sind, wieder ordnen.
Er dehnt den Kiefer. Holt endlich Luft. Lauscht. Kann die eigenen Atemzüge wieder hören. Sie scheinen jetzt aus der anderen Ecke des Raums zu kommen. Ein Schnaufen, fremd, unregelmäßig, wie von ihm abgetrennt. Einen Moment lang verändert er den Rhythmus. Will sicher gehen, dass nicht doch eine andere Person dort drüben steht. Die ihm aus dem Halbdunkel des Zimmers entgegen atmet. Fast glaubt er schon, den Luftzug in seinem Gesicht zu spüren, den verdrehten Kreislauf, mit dem ihm der andere die Luft beim Ausatmen ins Gesicht bläst. Doch dann folgt das Geräusch seinem eigenen, umgewandelten Takt. Der da atmet, ist er. Niemand sonst im Raum. Auch wenn es sich anders anfühlt. Als wäre seine Atmung nun völlig außerhalb seines Körpers. Als hätte er sich verzweifacht und stünde seinem gedoppelten Ich gegenüber.
Als wäre das, was verloren ging, er selbst.
Mitten in der Nacht war er in Mandalay angekommen. Er war aus dem Bus gestiegen, hinein in den nächstgelegenen der wartenden Pick-ups: bringt mich zu einem Guesthouse, irgendeinem, vielleicht ist sie dort. Noch im Bus hatte er versucht, zu erraten, wohin sie gehen würde. Nach Preislisten hatte er seinen Reiseführer durchsucht, nach Stadtteilen, Hinweisen auf ihre mögliche Unterkunft. Schließlich hatte er das Buch beiseite gelegt, war müde geworden angesichts dieser Vielzahl von Möglichkeiten. Hatte begonnen, aus dem Fenster zu starren, auf Straßenkanten, abfallende Kurven im nächtlichen Felsgebirge. Den im Regen zerbröckelnden, aufschwemmenden Abgrund vor Augen. Die unbekümmert schwungvolle Fahrt des Betelnuss kauenden Busfahrers.
An einer der Haltestellen hatte er sich eine Flasche Whiskey gekauft, flach, klein, hatte den Amerikaner abgewehrt, den sie neben ihn gesetzt hatten, dessen Angebot, take my pills, they make you sleep.
Er hatte getrunken, in tiefen, stetigen Zügen, die Fensterscheibe zur Seite geschoben, den Kopf in den Fahrtwind gehalten, dem Sprühregen entgegen, während der Amerikaner mit offenem Mund neben ihm schlief. Hatte versucht sich abzulenken. Zu errechnen, beispielsweise, ob er sich würde retten können, falls das Fahrzeug vom Weg abkäme, die leer laufenden Räder im plötzlichen Nichts, der Sturz in die Schlucht. Ein beherzter Sprung aus dem Fenster vielleicht, ein Griff nach Wurzeln, nach Geröll, wäre mein Leben das wert.
Die Bilder von Sine, die er auch jetzt noch auszublenden versucht. Ihr Gesicht, erst ungläubig, fragend. Dann vor Wut verzerrt. An der Kreuzung von Shwenyaung war es passiert. Sie hatte es herausgefunden. Er hatte es kommen sehen, die ganzen zwei Wochen über, ein sich enger ziehender Kreis. Einen kurzen Augenblick lang hatte sie versucht, auf ihn einzuschlagen. Hatte ihre Hände zu starren Fäusten geballt, auf ihn eingehämmert, sein Brustbein, seine hängenden Schultern. Auffangen wollte er sie, sie mit seinen Armen umschließen, ich kann das erklären, Sine, so hör doch, hör, aber dann riss sie sich los, schrie ihm ins Gesicht, vor den Augen der verwunderten Burmesen, die im Straßenstaub still mit ihnen auf den Bus warteten, sie stieß ihn von sich, während sie schrie und schrie, screaming on top of her lungs, wie die schrill kreischenden Todesfeen der Iren, banshee, banshee, wie konntest du. Warum.
Er hatte nicht verhindern können, dass sie in den Bus sprang. Dass sie den Busfahrer anflehte, ihn nicht mit an Bord zu nehmen. Dass alle ihn anstarrten, what did you do to this girl. Stumm blieb er stehen und blickte auf die sich schließenden Türen, den aufwirbelnden Sandstaub, das zweifach beschriftete Schild im Rückfenster, birmanische Schriftzirkel und lateinische Buchstaben, Bestimmungsort: Mandalay.
Den ganzen Tag hatte er auf den nächsten Bus warten müssen. War dort sitzen geblieben, auf seinen Rucksack gekauert, den Kopf in den Händen vergraben, den Körper über die Erklärungen gebeugt, die er nicht loswerden hatte können: versteh doch, wir sind da hineingeschlittert, ich wollte das nicht, der Fehler lag am Beginn, sagen hätte ich es dir müssen, längst schon, aber ich wollte dich nicht verlieren, didn’t want to loose you, Sine, listen, listen to me. Please. Der Regen begann beim Einbruch der Dunkelheit, als er in den endlich heranrollenden Bus stieg.
»Wohin?«, hatte ihn sein Hausarzt stirnrunzelnd gefragt. Und war nicht der einzige gewesen. Das vielfach umgetaufte Land. Burma, Birma, Myanmar. Verständnislose Blicke. Wie soll man es nennen. Zweimal so groß wie Deutschland? Wie kann das sein? Ja, wo denn nur? Und wieso.
Weil Du mir davon erzählt hast. Weil ich die Bilder gesehen habe. Ein weiter, endloser See, auf dem ein dürrer Fischer mit breitkrempigem Strohhut seine Reuse schwenkt. Goldbauchig aufschwingende Kuppeldächer von Pagoden. Lachende Frauen mit weiß bestrichenen Gesichtern, die, schwerelos, tönerne Krüge auf dem Kopf balancieren. Deine Augen, wenn Du Dich erinnertest. Deine Gesten, die weich wurden, oder lebhaft. Aber das Militär, sagten die, die etwas wussten. Das sozialistische Regime. Die Kindersoldaten, die Rauschgiftfelder.
Ich habe Deine Argumente übernommen. Die Argumente von einer, die dort war. Dass das Land sich öffnen muss. Dass es für die, die nicht hinauskönnen, ein Zeichen ist, wenn wir kommen. Dass man die staatlichen Hotels meiden muss. Das staatliche Transportwesen. Die Staatsträger, wo immer man kann.
Polio, Hepatitis A, Hepatitis B, Twinrix am besten. Eine Malaria-Prophylaxe empfehle ich nicht, sagte der Hausarzt. Die Nebenwirkungen, toxische Effekte im Zentralnervensystem, da haben Sie nichts mehr von Ihrem Urlaub. Kaufen Sie sich ein Moskito-Netz, einen Schnelltest, ein Gegenmittel, kostengünstig übers Internet, aus Holland, das muss reichen. Ich gebe Ihnen ein Schreiben mit, mit Briefkopf, mit Stempel und Unterschrift. Bewahren Sie es bei den Medikamenten auf, sonst kommen Sie mir in Schwierigkeiten: for medical purpose only.
In kürzestmöglichen Abständen war er zu den Impfungen gegangen. Hatte nur einmal eine heftige Gegenreaktion entwickelt, Gelbfieber, scherzten die Freunde. Die Fluggesellschaft feierte ein...
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