Schweitzer Fachinformationen
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Die Stadt zerschnitt die Luft. Zorbas und ich standen auf der Brücke unterhalb der Bornholmer. S-Bahnen sausten wie an Fäden gezogen unter uns hinweg. Sie hielten sich an die alten Trennwege, sie zogen in klaren Linien nördlich und südlich, aufwärts, abwärts, aber sie verbanden sich nicht. Ihr Rauschen vermischte sich mit dem Donnern der Flugzeuge, die aus der Wolkendecke brachen und hinter den Dächern in Richtung Tegel absanken.
»Kannst du es noch sehen«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf, dabei sah ich nichts anderes. Das Niemandsland lag uns zu Füßen. Aber ich wollte es nicht erkennen, ich wollte nicht eine von diesen staunenden Touristinnen sein, die sich hierherverirrten und die dann mit ausgestrecktem Zeigefinger über dem Brückengeländer hingen und versuchten, dort unten zwischen den Gleisen eine imaginäre Linie zu ziehen. »Ich war nie hier«, sagte ich und zog meinen Parka enger um mich, »zu jung, hat mich nicht interessiert.«
Zorbas schnalzte mit der Zunge, missbilligend. »Du warst alt genug.« Und er hatte nicht unrecht damit. Ich hatte mich, als sie vor sechs Jahren die Grenze öffneten und Stadt und Land für vereint erklärten, schon ziemlich erwachsen gefühlt. Trotzdem.
»Konnte ich doch nicht wissen, dass das nicht so bleibt«, protestierte ich.
Das. Was meinte ich mit Das. Einen Zustand, den wir für endlos hielten. Eine plötzliche Vergangenheit. Ein ganzes Land, das nicht meines war. Auch wenn wir jetzt offiziell vereint waren.
Auch wenn ich jetzt hier stand.
Auf einer Brücke, die noch immer in einen Abgrund mündete. Vom Wedding her konnte man sie befahren und belaufen, sie wölbte sich von dort aus entschlossen in die Höhe und reckte sich mit weitem Schwung dem Osten entgegen. Aber dann hörte sie - mitten in der Luft - einfach auf. Ein Holzsteg knickte an der Bruchstelle von ihr weg und verband sie notdürftig mit dem verwachsenen Straßenende im Prenzlauer Berg. Eine junge Frau im grauen Strickkleid trat dort gerade auf den Steg und polterte über die nachschwingenden, hölzernen Bretter. Sie sah wütend aus.
Zorbas nahm sie nicht wahr. Er starrte an mir vorbei, hoch auf die Bösebrücke, die nördlich von uns die Bornholmer Straße über die Schlucht hob, und nahm einen Schluck aus seiner Wodkaflasche. Er trank zu viel. Ich war mir sicher, dass meine Mutter das nicht wusste, als sie den alten Freund der Familie bat, ihrer vor kurzem dorthin gezogenen Tochter die Hauptstadt zu zeigen. Ich streckte die Hand aus. Als Zorbas nicht reagierte, entwand ich ihm die Flasche und setzte sie an meine Lippen. Der Wodka brannte in meiner Kehle, dann in meiner Speiseröhre, aber er schmeckte nach nichts.
Es war immer noch winterkalt, auch wenn die Meteorologen behaupteten, es sei Frühling. Die ersten Zugvögel waren schon vor Wochen zurückgekehrt, aber der Frost saß noch im Stein der Stadt. Mir machte das nichts. Ich war stolz auf diesen Winter, stolz darauf, dass ich einen Teil von ihm hier verbracht hatte, erstmals. Ich hatte dem Wind getrotzt, der so grob durch die Straßenschluchten fuhr. Ich hatte im Schein meiner Taschenlampe Briketts in einen klappernden Emailleimer gefüllt und aus dem Kohlenkeller bis unters Dach geschleppt, die steil aufsteigenden Treppenstränge verfluchend, wieder und wieder. Ich hatte im Mantel und mit Wollhandschuhen geschlafen und morgens heiße Instantbrühe getrunken, um Wärme in meinen ausgekühlten Körper zu flößen. Ich hatte gelernt, Briketts in feuchtes Zeitungspapier zu schlagen, damit die Asche noch glomm, wenn ich abends nach Haus kam. Es fühlte sich an wie Überleben. Überleben in einer Stadt, die ein Rätsel für mich war. Ihre verschneiten Parks und kalt gähnenden U-Bahn-Schächte. Die zerwürfelten Haltestellen der Buslinien und verkrüppelten Gleisbetten der Straßenbahnen, die ich Trams zu nennen gelernt hatte. Das Surren der Laternen mit ihren merkwürdig orangefarbenen Lichtkreisen. Die hohen Fenster und Türen der von Einschusslöchern und Graffiti überzogenen Fassaden. Die Klos auf halber Treppe, die Treppenhäuser, die immer nach Bohnerwachs rochen, auch wenn niemand sie reinigte. Die besetzten Wohnungen mit den abgesplitterten Balkonen und den mit Parolen und Anarchiezeichen bemalten, aus den Fenstern hängenden Betttüchern, zu denen ich im Vorübergehen aufsah, immer mit dem nagenden Gefühl, dort etwas zu verpassen, ein ganzes Dasein, das ich dort vielleicht hätte führen können oder sollen oder wollen. Ein anderes Leben.
Weit hinter uns stach der Fernsehturm vom Alexanderplatz hinauf in den verwaschenen Himmel. Ich mochte den Turm, obwohl ich noch nie oben im Turmkorb gewesen war. Für viele war er das Wahrzeichen der Stadt, für mich bedeutete er Heimat. Ich war mit so einem Turm aufgewachsen. Mein Turm zu Hause hieß Fernmeldeturm. Vom Badezimmer meines Elternhauses konnte man ihn sehen. Er wurde gebaut, als ich noch in den Kindergarten ging. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater mich in die Höhe stemmen musste, immer wieder, damit ich über die Sichtkante des Fensters hinweg prüfen konnte, wie hoch er schon war. Später wurde der Turm mein Orakel. Ich versuchte, an ihm meine Zukunft abzulesen. Ich stand oft am Fenster, die Stirn auf kühlem Glas, und stellte Fragen, die der Turm beantwortete. Ich deutete einfach seine Erscheinung. Mir war dann wichtig, ob er gerade im Sonnenlicht glänzte, ob er mir drohte oder winkte, zustimmte oder abriet, ob er im Nebel weich und verständnisvoll wurde oder störrisch den Regenstriemen trotzte. Der Turm verortete mich. Wenn ich in der Innenstadt war, richtete ich mich nach ihm aus wie eine Kompassnadel. Dass ich das hier, in meiner neuen Stadt, weiterführen würde können, machte mich richtig glücklich. Vielleicht hatte ich Berlin in Wahrheit deswegen gewählt. Und nicht, wie ich es jedem erzählte, wegen der vielen Theater, die es hier gab.
Zorbas grinste jetzt. Er hatte um die Augen lauter Falten, und seine Schläfen waren grau. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, wie alt er war. Oder wie er wirklich hieß.
»Weißt du, was das Erste war, das ich gemacht habe, als ich drüben war?«
Einen Kniefall, dachte ich sofort. Einen Papstkuss auf endlich erreichten Boden. Irgendetwas Feierliches bestimmt. Eine Weihung. Vielleicht hat er dort im Westen eine DDR-Fahne errichtet oder ein Gipfelkreuz - sein Pathos ist uferlos.
»Nö«, sagte ich.
»Willst du's wissen?«
»Okay.«
»Gepisst hab ich«, sagte er.
Ich nickte. Ich konnte es vor mir sehen. Wie er am Ende der Bösebrücke in den Wedding hineingedrängt wurde, im Strom der schiebenden, rufenden Menschen. Wie er seine rissige Hand ausstreckte und nach etwas griff, das ihm Halt geben konnte: einer Laterne, einem Busch, einem Strauch, vielleicht unten bei der Schrebergartenkolonie, die wir von hier aus sehen konnten. Wie er dann, als er genug Platz um sich hatte, an seiner Hose herumnestelte und begann, mit aufspritzendem Urin sein Revier zu markieren. Manchmal beneidete ich Männer darum.
»War gut?«, fragte ich.
»War richtig.«
Ich versuchte mich zu erinnern. An all die Aufnahmen, die ich doch von diesem Tag gesehen haben musste, all die Fernsehübertragungen, die Bilder, von denen mein Vater mir sagte, dass sie historisch seien. Mir fiel kein einziges davon mehr ein. Von der Mauer, ja. Tanzende Menschen, Hände, die nacheinander griffen, Körper, die sich gegenseitig an bunten Wandzeichnungen entlang in die Höhe zogen. Dutzende baumelnder Beine. Oder vorher: Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft. Der Jubel, der seinen Satz abriss: Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . Aber die Brücke hatte ich vergessen.
»Willst du da wirklich hin?«
Es dauerte einen Augenblick, bis ich verstand, dass er die Hochschule meinte. Die Hochschule für Schauspielkunst Erwin Piscator Berlin. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass sie mich angenommen hatten. Dass ich tatsächlich dort mein Studium beginnen würde, mitten im Osten der Stadt, schon in diesem Herbst.
»Klar«, sagte ich. »Wieso?«
Unter uns begannen die Oberleitungen zu sirren. Ich drehte mich um und folgte mit meinem Blick dem Gleisverlauf bis in seine Ostkurve hinein, aber ich konnte die S-Bahn noch nicht sehen.
»Du kommst aus dem Westen«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich komm aus dem Süden.«
»Nein. Dort nicht.«
Mit einem Brüllen schoss unter uns die S-Bahn hindurch und zog in den Norden der Stadt. Zorbas drehte sich mir zu. Seine Stirn war gerunzelt, er sah auf einmal ganz konzentriert aus. Als würde er mich abschätzen.
»Glaub mir: dort kommst du aus dem Westen.«
Ich lachte.
Die Schule. Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal von ihr hörte. Es gibt diese Dinge, von denen man irgendwann annimmt, dass man von ihnen einfach immer schon wusste.
Bei der Aufnahmeprüfung hatte ich behauptet, einer der Schauspieler unseres Stadttheaters hätte mir, als ich bei Handkes Stunde da wir nichts voneinander wussten mit den anderen Statisten auf unseren Auftritt wartete, davon erzählt. Aber das stimmte nicht. Ich wollte nur, dass die Prüfer den Namen dieses Schauspielers hörten, der tatsächlich auf die Hochschule gegangen war. Ich wollte, dass sie mich damit verbanden: mit einem, der es geschafft hatte. Ich dachte, sein Glück könnte abfärben auf mich.
»Dort kommst du nicht rein«, war das, was man immer hörte, wenn die Sprache auf die Piscator kam: »Das schafft man nicht.«...
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