Die Spende
Die Bäckerei in der Fußgängerzone der Kleinstadt war zwischen der großen Metzgerei auf der einen und dem Textilhaus auf der anderen Seite gelegen, in Eins-a-Lage angesiedelt und demnach ein florierendes Unternehmen.
Herr und Frau Bartels betrieben die Bäckerei nun schon seit 30 Jahren. Herr Bartels, der bekannt war für seinen Geiz, war in zweiter Ehe verheiratet mit einer viel jüngeren Frau. Diese war - im Unterschied zu ihrem Mann - eine fröhliche und großzügige Person, eine Katholikin und sehr fromm. Gegensätzlicher hätten die beiden eigentlich nicht sein können.
Der ersten Ehe entstammten zwei Kinder - ein Sohn, der als Rechtsanwalt in einer entfernten Stadt eine Anwaltskanzlei betrieb, und eine Tochter, die auf dem Land wohnte und vier Kinder von drei verschiedenen Vätern hatte. Diese hatten sich alle dünnegemacht. Keiner von ihnen zahlte Unterhalt, allenfalls nur sporadisch, wenn die Lohnpfändung mal erfolgreich gewesen war.
Als junges Mädchen war die Tochter sehr flippig und stets das Sorgenkind der Familie gewesen. Nach der zweiten Heirat des Vaters wurde das Zerwürfnis zwischen Vater und Tochter so schwerwiegend, dass er ihr die Wohnung in seinem Haus kündigte, worauf sie auszog und hochschwanger den erstbesten Mann heiratete, der ihr über den Weg lief.
Nun saß die junge Frau mit den vier Kindern allein da. Der älteste Sohn war acht und die jüngste Tochter zwei Jahre alt. Sie versuchte mehr schlecht als recht, mit dem Erziehungsgeld über die Runden zu kommen. Mit dem dazukommenden Kindergeld und dem vom Jugendamt eingegangenen Unterhalt der Väter war alles recht knapp bemessen. Das Geld reichte nur in den seltensten Fällen bis zum Monatsende, vor allem dann nicht, wenn mal wieder Schuhe oder Kleidung gekauft oder Anschaffungen für die Schule getätigt werden mussten.
Das führte dazu, dass die Familie immer mehr verarmte, zumal die Tochter zu stolz war, ihren Vater um Hilfe zu bitten. Dieser Geizkragen, dem zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit eine lehrmeisterhafte Phrase glatt über die Lippen ging, hätte sowieso nichts rausgerückt. Das Verhalten des Herrn Bartels erregte die Gemüter der Nachbarn und darüber hinaus die des ganzen Dorfes, sodass sich das Ganze mittlerweile zu einem regelrechten Skandal hochgekocht hatte.
Die Bäckersfrau spielte seit Jahren im Lotto, und eines Tages, wie der Teufel es will - der ja bekanntlich nie auf einen kleinen Haufen macht -, hatte sie gewonnen. Sie vergoss Tränen des Glücks und dem ganzen Haus blieb nicht verborgen, dass es 60.000 Euro waren, die sie gewonnen hatte!
Frau Bartels, eine regelmäßige Kirchgängerin, hörte kurz darauf, an einem Sonntag, in der Kirche eine Predigt von einem Gastpriester aus Ghana. Er hieß Jonas Mobungo. Er predigte sehr überzeugend und eindringlich über die Armut in seinem Land, auch über die infolge von Aids elternlos gewordenen Kinder, und bat um Spenden. Diese Predigt muss bei Frau Bartels einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, denn sie war danach entschlossen, die Hälfte ihres Lottogewinns nach Afrika zu spenden.
Durch einen dummen Zufall wurde dieses Vorhaben im Haus bekannt, denn ein Lehrmädchen aus dem Laden hatte zufällig ein Telefongespräch zwischen Frau Bartels und einer kirchlichen Institution mit angehört. Die junge Frau sprach darüber mit ihrem Freund Karl, dabei war es ihr und ihrem Freund hinlänglich bekannt, wie es um die finanzielle Situation der Stieftochter von Frau Bartels bestellt war. Die beiden ärgerten sich über das Vorhaben der Bäckersfrau, ihr Geld nach Afrika zu spenden, obwohl sie über die wirtschaftliche Not ihrer Stieftochter Bescheid wusste. Sie schmiedeten daraufhin einen Plan, um das Vorhaben von Frau Bartels zu hintertreiben, deren Spendenverhalten "zum Himmel schrie", wie sie meinten. Dabei hatte das Lehrmädchen die Aufgabe, seinen Freund zu informieren, wann Frau Bartels das Geld bei der Bank abholen beziehungsweise wann sie es zur Kirche bringen würde.
An einem Montag war es dann so weit. Frau Bartels bat das Lehrmädchen, für zwei Stunden allein den Laden zu führen, weil sie auf der Bank einen wichtigen Termin wahrnehmen und noch eine Besorgung in der Stadt machen müsse. Das Lehrmädchen rief daraufhin per Handy den Freund Karl an. "Du Karl, die Alte hat jetzt den Termin bei der Bank, ich glaube, dass sie danach auch gleich zur Kirche geht. Hau ab und mach was!"
Karl steckte sich einen Bolzenschneider in den Rucksack, stieg in sein Auto und fuhr in die Stadt. Er schlich sich in die Kirche und versteckte sich hinter einem Pfeiler, sodass er nicht gesehen werden konnte.
In der Zwischenzeit ließ sich Frau Bartels in der Bank 30.000 Euro in Fünfhunderteuroscheinen in ein größeres Kuvert packen und steckte es in ihre Handtasche, um schnell damit zur Kirche zu gehen, die ständig geöffnet war.
In der Kirche kniete sie sich in einer der letzten Bänke zu einem kurzen Gebet nieder. Anschließend zündete sie als Dank für ihren Lottogewinn der heiligen Mutter Gottes eine Kerze an und ging zum Opferstock, der eigens für Afrikaspenden aufgestellt und mit einer schweren Eisenkette mit der Wand verbunden war. Sie steckte das weiße Kuvert mit dem Geld in den Schlitz.
Die Klappe mit dem Schlitz war mit einem kräftigen Vorhängeschloss gesichert, was aber kein Problem für Karl war, der in seiner Lauerstellung abgewartet hatte, bis Frau Bartels die Kirche verließ. Er holte seinen Bolzenschneider hervor, kniff den Bügel des Vorhängeschlosses durch und griff sich das Kuvert heraus. Dabei widerstand er der großen Versuchung, sich noch mehr Geld zu nehmen, wofür er einige Sekunden mit sich ringen musste. Schließlich gewann aber seine gute Erziehung die Oberhand und er ließ es bei dem einen Kuvert bewenden. So, wie er sich in die Kirche geschlichen hatte, schlich er sich auch wieder hinaus, fuhr in sein Dorf zurück und wartete, bis es dunkel wurde.
Nun kam der letzte Akt des Planes. Er fasste sich ein Herz und steckte das Kuvert mit dem Geld in den Briefkasten der jungen Frau mit den vier Kindern. Dabei hatte er - oh Schreck! - ganz vergessen, sich vor der Aktion Handschuhe anzuziehen; er war eben kein geübter Dieb.
Am anderen Tag war die Freude bei der fünfköpfigen Familie riesengroß. Mit Tränen in den Augen zählte die junge Frau die Scheine immer und immer wieder. Endlich konnte sie ihre Kinder vernünftig einkleiden; sogar ein kleiner Ausflug in die nähere Umgebung war geplant. Jedenfalls wäre bei einer richtigen Einteilung für die nächste Zeit genug Geld da, um einigermaßen über die Runden zu kommen.
Die junge Frau hatte natürlich auch irgendwie von dem Lottogewinn ihrer Stiefmutter gehört und zweifelte nicht daran, dass sie es gewesen sein musste, die ihr das Kuvert in den Briefkasten gesteckt hatte. Sie sprang über ihren Schatten und rief ihre Stiefmutter an. Mit anfänglichem Stottern und in halben Sätzen bedankte sie sich für das supersolidarische Verhalten und das Geldgeschenk von 30.000 Euro. Es komme genau zum richtigen Zeitpunkt für die Einschulung ihres zweitjüngsten Sohnes.
Zunächst war am anderen Ende der Leitung nichts zu hören, dann kam ein ungläubiges Gestammel. Frau Bartels fragte, was das denn für Geldscheine gewesen seien. Irritiert von dieser Frage, meinte die junge Frau, sie müsse es doch selbst wissen, dass in dem Kuvert alles Fünfhunderteuroscheine gewesen seien. Frau Bartels legte fassungslos den Hörer auf und die junge Frau verstand nun überhaupt nichts mehr.
Vollkommen davon überzeugt, dass es ihre Spende war, rief Frau Bartels den Pfarrer an. Sie fragte, wo ihre Spende von 30.000 Euro geblieben sei. Der Kirchenmann hatte inzwischen die Polizei benachrichtigt, die den Bruch des Opferstockes zu Protokoll nahm. Bisher konnte sich auch die Polizei keinen Reim darauf machen, dass das Schloss aufgebrochen und doch noch so viel Geld im Opferstock geblieben war, aber nachdem der Pfarrer per Anruf von Frau Bartels über die Höhe der Spende und den Telefonanruf ihrer Stieftochter informiert wurde, war allen klar, was geschehen war.
Drei Monate vergingen, bis die Polizei alle Spuren verfolgt hatte und auf den jungen Burschen Karl gestoßen war. Dessen Fingerabdrücke befanden sich auf dem Kuvert, das die junge Frau zufälligerweise noch verwahrt hatte. Ein Leugnen vonseiten Karls war zwecklos. Die Polizei nahm ihn fest.
Der Pfarrer hatte inzwischen mit dem Bischof telefoniert, was da wohl zu machen sei. Dessen Meinung war, dass alles, was sich im Opferstock befand, der Kirche gehöre und ein Entnehmen schwerer Diebstahl sei und zur Anzeige gebracht werden müsse.
Da war aber noch Jonas Mobungo, dessen Meinung in diesem Falle war, dass er allein die Befugnis über den Opferstock hätte, weil dieser speziell für ihn - respektive für sein Land in Afrika - aufgestellt worden sei. Folglich wäre es sein Geld, wobei die Tatsache, dass der Opferstock in der Kirche stand, juristisch keine Bedeutung hätte. Er würde sich schwertun, einen...