Schweitzer Fachinformationen
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1. Kapitel
EINE NEUE FRAGE
»Wenn ich eine Stunde hätte, um ein Problem zu lösen, und mein Leben hinge davon ab, dann würde ich die ersten fünfundfünfzig Minuten darauf verwenden, zu überlegen, wie die eigentliche Frage lautet, denn wenn ich die eigentliche Frage kenne, kann ich das Problem in weniger als fünf Minuten lösen.«
Albert Einstein zugeschrieben
Ich wusste, dass irgendwas im Busch war, als einer der Assistenzärzte fünf Minuten vor meinem Termin mit ihm und seiner neuen Patientin an meine Bürotür in der Psychiatrieabteilung klopfte.
»Ich wollte Sie nur vorwarnen«, sagte er. »Diese Frau verlangt Antworten.«
»Auf welche Fragen?«, entgegnete ich.
»Sie will wissen, warum ihr alle, bei denen sie bisher Hilfe gesucht hat, unterschiedliche Erklärungen und Ratschläge geben. Sie ist ohnehin skeptisch, was die >Seelenklempnerei< betrifft, wie sie es ausdrückt. Sie ist um fünf Uhr morgens aufgestanden, um aus irgendeiner entlegenen Gegend hierherzufahren und Antworten von den großen Zampanos an der großen Uni zu erhalten.« Er bezog sich, mit einem süffisanten Lächeln, auf unsere prestigeträchtige Universitätsklinik und mich. Ich bat ihn um eine Zusammenfassung des Falls.
»Sie ist fünfunddreißig Jahre alt, Mutter von drei Grundschulkindern, ihre Hauptbeschwerde seit dem vergangenen Jahr ist die wachsende Sorge um nahezu alles in ihrem Leben - ihre Gesundheit, ihre Sprösslinge, die Wirtschaft, Autofahren, was auch immer. Sie hat oft ein flaues Gefühl im Magen und leidet ein- oder zweimal im Monat unter Übelkeit, das ist jedoch nicht mit einem Gewichtsverlust verbunden. Sie ist nach eigenen Angaben gereizt und erschöpft, leidet unter Einschlafstörungen. Sie hat das Interesse an Aktivitäten, die ihr vorher Spaß machten, verloren, ist aber nicht suizidgefährdet und weist auch keine anderen Symptome auf, die auf eine schwere Depression hindeuten könnten. Angst scheint bei ihr in der Familie zu liegen, aber nichts Dramatisches. Ihr Hausarzt konnte keine medizinischen Ursachen feststellen. Ich denke, es handelt sich um eine generalisierte Angststörung, aber es könnte sich auch um eine Dysthymie, eine chronisch depressive Verstimmung, oder aufgrund der Beschwerden, die sich äußern, aber einer gründlichen Diagnose entziehen, um eine Somatisierungsstörung handeln.«
Als wir uns zu Frau A. ins Untersuchungszimmer begaben, begrüßte sie uns freundlich. Als ich mich erkundigte, was wir für sie tun könnten, nahm ihre Stimme einen scharfen Tonfall an.
»Ich gehe davon aus, dass der junge Mann Sie bereits von meinen Problemen in Kenntnis gesetzt hat. Ich bin fünf Stunden mit dem Auto hierhergefahren, um einige Antworten zu erhalten.«
»Soweit ich informiert bin, hatten Sie Probleme, Hilfe zu finden«, erwiderte ich in dem Bemühen, einfühlsam zu sein. Ihre Reaktion kam so prompt, als hätte ich auf die Abspieltaste eines Gerätes gedrückt.
»So ist es, und nicht nur das: Ich habe von allen, die ich aufgesucht habe, eine andere Erklärung erhalten, angefangen bei unserem Pastor. Er ist ein netter Mann und war durchaus mitfühlend, aber er schlug mir unterm Strich vor, zu beten und Gottes Plan für mich zu akzeptieren. Ich habe es versucht, aber ich schätze, mein Glaube ist nicht stark genug. Dann habe ich mit meinem Hausarzt geredet. Er hat mich nicht einmal untersucht, sondern nur gesagt, es wären die Nerven, ich würde mir zu viele Sorgen machen. Pillen, um runterzukommen, würden nur süchtig machen, deshalb hat er mir ein Medikament gegen meine Magenbeschwerden verordnet, aber geholfen hat es nicht. Er hat mich zu einem Therapeuten geschickt, zu dem ich zweimal in der Woche kommen sollte, aber das konnte ich mir finanziell nicht leisten. Er hat kaum geredet, und wenn doch, hat er mir endlos Fragen über meine Kindheit gestellt und Andeutungen gemacht, da wäre irgendeine sexuelle Sache mit meinem Vater gelaufen, was definitiv nicht stimmt! Als ich ihm berichtete, dass sich mein Zustand verschlimmerte, behauptete er, ich würde es vermeiden, mich mit meinen Erinnerungen auseinanderzusetzen. Das war's dann für mich, aber er schickt mir immer noch Rechnungen für die Therapiestunden, die ich sausen ließ. Ich fühlte mich immer noch elend und fand im Telefonbuch einen Psychiater, weit genug von meinem Wohnort entfernt, sodass niemand etwas davon mitbekam. Er meinte, mein Problem sei auf eine erbliche Gehirnanomalie zurückzuführen, eine Art chemisches Ungleichgewicht, und ich müsse Medikamente dagegen einnehmen. Aber er hat nicht mal Blutuntersuchungen vorgenommen, und als ich mir den Beipackzettel genauer ansah, hieß es dort, dass die Einnahme Suizidgedanken auslösen kann. Deshalb habe ich beschlossen, hierher an die Uniklinik zu kommen. Vielleicht wissen Sie ja, was mit mir los ist. Ich mache mir ständig Sorgen, kann kaum schlafen oder essen, und mein Mann hat auch schon die Nase voll, weil ich ihn dauernd wegen der Kinder anrufe. Deshalb hoffe ich, dass Sie mir weiterhelfen können.«
»Kein Wunder, dass Sie frustriert sind«, erwiderte ich. »Vier unterschiedliche Erklärungen und Empfehlungen von vier unterschiedlichen Fachleuten! Und wir haben möglicherweise eine weitere Vermutung, was die Ursache betrifft. Ist es in Ordnung, wenn wir Ihnen noch ein paar Fragen stellen, um herauszufinden, wie wir jetzt am besten vorgehen?«
Sie war bereit, weitere Informationen zu liefern. Sie erzählte uns, dass sie sich schon immer Sorgen gemacht hatte und ihre Mutter oft nervös gewesen war. Es hatte keine Missbrauchs- oder Gewalterfahrungen im Elternhaus gegeben, aber ihr Vater hatte oft harsche Kritik geübt. In ihrer Kindheit war die Familie alle paar Jahre umgezogen, sodass sie sich in der Schule immer als Außenseiterin gefühlt hatte. Ihre Ehe war stabil, aber sie hatte oft Streit mit ihrem Mann, vor allem wegen seiner häufigen Geschäftsreisen und der Sorge um ihren ältesten Sohn, der an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) litt. Sie trank oft »ein paar« Gläser Wein, um einschlafen zu können. Die Angstzustände waren in den beiden vorhergehenden Jahren schlimmer geworden, ungefähr in der Zeit, als ihr jüngster Sohn in den Kindergarten gekommen war und sie versucht hatte abzunehmen. Ohne innezuhalten fügte sie hinzu: »Aber das alles hat nichts mit meinem Problem zu tun. Ich bin hergekommen, um herauszufinden, ob es sich um eine Neurose, eine Gehirnerkrankung, Stress oder was auch immer handelt.«
Ich erklärte ihr, dass ihre Symptome auf eine Kombination aus erblichen Einflussfaktoren, Kindheitserfahrungen, ihren gegenwärtigen Lebensumständen und Alkohol zurückzuführen waren. Sie runzelte die Stirn. Als ich ihr erklärte, dass Angst durchaus nützlich sein kann, die meisten Menschen aber davon mehr als nötig haben, weil zu wenig Angst zu einer Katastrophe führen kann, hellte sich ihre Miene auf. »Das leuchtet mir ein«, erwiderte sie. Als ich sie darauf hinwies, dass es mehrere effektive Behandlungsmethoden ohne schädliche Nebenwirkungen und einen ausgezeichneten kognitiven Verhaltenstherapeuten in ihrer näheren Umgebung gab, der diese anbot, entspannte sie sich und meinte: »Na ja, es wäre zumindest einen Versuch wert.« Als sie sich verabschiedete, sah sie mich an und machte eine Bemerkung, die ich heute noch im Ohr habe: »In Ihrem Arbeitsbereich herrscht das reinste Meinungschaos. Das wissen Sie, oder?«
Ich hatte es mir nie in dieser Deutlichkeit eingestanden, aber sie hatte recht. Die Aufgabe der Psychiatrie besteht darin, Menschen dabei zu helfen, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, die sie zu vermeiden versuchen. Doch Frau A. drehte den Spieß um. Ich habe bei allen Fallberichten in diesem Buch die persönlichen Einzelheiten geändert, damit die Betroffenen anonym bleiben und sich teilweise selbst nicht auf Anhieb darin wiedererkennen. Falls Frau A. die Zeilen liest und sich an ihren Besuch vor dreißig Jahren erinnert, wird sie sich hoffentlich freuen, zu erfahren, dass ihre auf den Punkt gebrachte Beobachtung meine eigenen Vermeidungsstrategien durchkreuzte. Sie löste bei mir die Suche nach einer Möglichkeit aus, über dieses Meinungschaos hinauszuwachsen.
ALS THERAPEUT IN DEN KLINIKBETRIEB EINGEBETTET
Während meiner ersten Jahre als Assistenzprofessor für Psychiatrie war ich, wie ein Berichterstatter in einem Kriegsgebiet, in eine medizinische Klinik eingebettet, zu deren Personal Medizinprofessoren, Fach- und Assistenzärzte sowie Pflegekräfte gehörten. Viele Patienten in medizinischen Kliniken haben psychische Probleme, deshalb wurde meine Hilfe wertgeschätzt. Außerdem bestand die Hoffnung, dass meine Anwesenheit Medizinstudierenden, die sich noch in der Ausbildung befanden, ermutigen würde, dem Gefühlsleben der Patienten mehr Beachtung zu schenken. Diese Hoffnung erfüllte sich auch bis zu einem gewissen Grad, aber die größere Auswirkung hatte diese Zeit auf mich selbst. Als ich die emotionalen Belastungen miterlebte, die mit der Behandlung eines endlosen Zustroms kranker Menschen verbunden sind, lernte ich, dass es die Psyche enorm schützen kann, wenn man sich ein »dickes Fell« zulegt.
Ich wurde von den Internisten oft gebeten, mit Menschen zu sprechen, die aufgrund ihrer Probleme einen Psychiater aufgesucht und sich geschworen hatten: »Nie wieder!« Einige beklagten sich darüber, dass sie ihre Zeit monatelang bei einem Therapeuten vergeudet hatten, der kaum redete. Andere erklärten, dass sie nur wenige Minuten lang einen Arzt zu Gesicht bekommen hatten, bevor sie mit einem Rezept für ein Medikament nach Hause geschickt wurden, das etliche Nebenwirkungen...
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