Schweitzer Fachinformationen
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Das graue Meer plätscherte sacht gegen das Boot. Heute fiel das Rudern leicht. Der Sturm der letzten Tage war abgeflaut, die See hatte ihren Zorn in der Bucht ausgetobt. Das hier war die Ruhe nach dem großen Wutausbruch. Ida war immer wieder fasziniert von den vielen Gesichtern des Meeres. Das glitzernde Sommermeer, das wie eine blau blühende Wiese dalag. Das blaugraue Herbstmeer, eben noch verräterisch ruhig, im nächsten Moment zu baumhohen, tosenden Wellen aufgetürmt, die alles unter sich begruben, was ihnen in die Quere kam. Oder das schwere, eisige Wintermeer, das zufror und mit seinen weiten Eisflächen neue Wege zum Land des Sveakönigs auftat, dem Gotland tributpflichtig war.
Die junge Ida hob den Blick und zuckte vor Schreck zusammen. Sie war mit dem Meer aufgewachsen und hatte gelernt, seine Zeichen zu deuten. Der gefährliche Nebel, der so viele Seefahrer das Leben kostete, baute sich wie eine Wand vor dem Horizont auf. Ida musste sich beeilen, wenn sie noch alle Netze einholen wollte. Die Fischgründe in Ufernähe waren ihr Revier, und ihren Fang räucherte sie anschließend in der kleinen Rauchkammer daheim auf dem Hof. Den Räucherfisch verkaufte der Vater in Västergarn an Händler, die ihn nach Visby auf den Markt brachten. Ida war stolz, dass ihre Arbeit der Familie klingende Münze einbrachte. Das Fischen in tieferen Gewässern übernahmen der Vater und die Brüder. Eigentlich war Fischen überhaupt keine Frauenarbeit, der Platz der Frau war auf dem Hof, am Herdfeuer, bei den Tieren, auf den Feldern. Aber Idas Vater hatte bemerkt, wie geschickt und tüchtig sie beim Fischen war, wie sicher sie das Boot steuerte und dass sie ein beinahe unheimliches Gespür dafür hatte, wo sie ihre Netze auswerfen musste, um den besten Fang zu machen.
Für Ida bedeutete das Meer Freiheit. Als Frau konnte sie an vielem nicht teilhaben. Die Männer, die Kirche, die Obrigkeit - alle schienen zusammenzuhalten, um die zu unterdrücken, die das Pech gehabt hatten, als Frau geboren zu werden. Einzig hier draußen auf offener See fühlte Ida sich frei, doch sie hatte große Angst, dass der Vater ihr eines Tages diese Freiheit nehmen könnte.
Sie keuchte vor Anstrengung, als sie die schweren Netze voll zappelnder Fische einholte, aber sie war glücklich über die reiche Beute. Bald war sie so in ihre Arbeit vertieft, dass sie vergaß, die Nebelbank im Auge zu behalten, die unerbittlich näher kam. Erst als kalte, nasse Nebelschwaden schon gegen die Bordwand ihres Bootes trieben, erkannte sie die Gefahr. Entsetzt ließ sie alles fallen, was sie in Händen hatte, begann zu rudern und hielt aufs Ufer zu. Sie wagte nicht, das Segel zu setzen, aus Angst, der Wind könnte sie von der Küste abtreiben. Trotz der Kälte war sie bald in Schweiß gebadet, aber all ihre Mühe war vergeblich: Der Nebel hüllte ihr Boot ganz und gar ein, sodass sie kaum den Bug erkennen konnte, als sie in die Richtung spähte, in der sie das Ufer vermutete. Ihre Hände waren von der schweren Arbeit auf dem Hof und an den Rudern abgehärtet, aber jetzt merkte sie, wie die Handflächen brannten und die Ruder glitschig wurden, als die Haut aufplatzte und zu bluten begann.
Das Meer um Ida herum war erschreckend still, die Schreie der Möwen waren verstummt, und es ging kein Wind mehr. Das Wasser war voller furchtbarer Ungeheuer, das wusste sie. Der Vater hatte erzählt, wie er weit draußen auf See mehr als einmal den bösen Geschöpfen Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Ida spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte, und in ihrer Verzweiflung ließ sie die Ruder los. Sie faltete die Hände und flehte zu Gott, er möge ihr helfen und sie verschonen, möge über sie wachen und sie sicher an Land bringen. Lange saß sie in ihr inbrünstiges Gebet versunken, wie lange, wusste sie nicht. Auf eine merkwürdige Art hatte die Zeit aufgehört zu existieren.
Sie schrie auf, als ihr Boot gegen etwas Hartes stieß. Im nächsten Moment entdeckte sie, dass es keine Klippe war, sondern ein anderes, ein fremdes Boot. Sie hörte das Segel gegen den Mast schlagen und fragte sich unwillkürlich, warum man es nicht gerefft hatte, denn es ging schon lange kein Luftzug mehr. Froh, nicht länger in dieser stillen Welt allein zu sein, rief sie einen Gruß hinüber, aber sie bekam keine Antwort. Wieder packte sie die Angst, und vor ihrem inneren Auge liefen Erzählungen von Schiffen ab, deren Mannschaft einzig aus Gespenstern und Untoten bestand, den Seelen böser Menschen, die nicht in geweihter Erde ruhen durften und deshalb dazu verdammt waren, auf ewig übers Meer zu fahren. Aber das hier war nur ein kleines Boot, kaum größer als ihr eigenes. Entschlossen packte Ida das Dollbord des anderen Bootes. Sie mühte sich, bis das Boot gleichauf neben ihrem lag, und erblickte einen Mann, der scheinbar leblos auf der Ducht lag.
Er war jung, kaum älter als sie selbst, und er trug dickes Lodenzeug, das Kälte und Nässe widerstand. Sein blondes Haar war blutverklebt. Im Gesicht klaffte auf einer Seite eine hässliche Wunde. Ida begriff, dass er einen Schlag vom Segelbaum abbekommen haben musste. Sie wollte schon in das fremde Boot hinüberklettern, aber wenn der Mann noch lebte, war es am besten, ihn so schnell wie möglich an Land zu bringen. Mit geschickten Fingern band sie sein Boot am Achtersteven ihres eigenen Bootes fest und ruderte weiter in die Richtung, in der sie das Ufer vermutete. Das war bisher schon mühsam gewesen, aber nun, da sie ein Boot im Schlepp hatte, war es noch viel schwerer. Wenn sie nur sicher sein könnte, auf dem richtigen Kurs zu sein und nicht etwa aufs offene Meer hinauszurudern! In ihrem Kopf hämmerte es, sie schmeckte Blut und salzige Tränen auf der Zunge und fürchtete, es niemals bis ans Ufer zu schaffen. Mutlos starrte sie auf die unzähligen Fische in den grob gezimmerten Holzkästen, während ihr durch den Kopf ging, was für ein hübsches Sümmchen sie eingebracht hätten.
Ein frischer Wind berührte plötzlich ihre Wange, es war, als hätte eine Riesenhand übers Meer gewischt und den dichten Nebelvorhang zerrissen. Ein Wald von Masten ragte vor ihren verblüfften Augen auf. Sie befand sich unmittelbar vor der Einfahrt eines großen Hafens. Visby, das musste Visby sein! Kein anderer Hafen auf Gotland war so riesig. Sie musste weit vom Kurs abgekommen sein, aber ihre Gebete waren erhört worden, und das gleich in doppelter Hinsicht.
Sie hatte nicht nur das Ufer erreicht, sondern war auch noch an den Ort der Insel gekommen, wo der Mann in dem anderen Boot am besten versorgt werden konnte. Wenn er noch am Leben war. Auf einmal kehrten ihre Kräfte zurück, und mit raschen Ruderschlägen steuerte sie in den Hafen, lavierte zwischen all den großen Koggen hindurch und fand schließlich einen freien Platz an der Langen Brücke unterhalb von Visbys mächtiger Stadtmauer. Die Segelzeit von April bis Oktober war gerade vorbei, und sie vermutete, dass viele der Koggen ihre letzte Fahrt hier beendet hatten, bevor die Herbststürme und das Eis des Winters es unmöglich machten, das Meer zu überqueren.
Sie war noch nie zuvor in Visby gewesen, der einzige größere Ort, den sie besucht hatte, war Västergarn. Ihr Vater hatte nie eingesehen, warum sie und ihre Schwestern in die Stadt fahren sollten. Aus dem, was der Vater und die Brüder erzählten, hatte sie versucht, sich ein Bild von Visby zu machen. Aber als sie nun auf der Langen Brücke stand, mitten im vielsprachigen Menschengewimmel, vor sich die Umrisse der imposanten Bauwerke der Stadt, die hinter der Mauer aufragten, wurde ihr klar, dass sie sich das hier niemals hätte ausmalen können.
Ida nahm all ihren Mut zusammen und wandte sich an die erstbeste Mannsperson, zeigte auf den Bewusstlosen im Boot und hoffte inständig, dass der Mann Schwede war und verstand, was sie sagte.
«Bitte helft mir. Ich habe ihn draußen auf dem Meer gefunden, wo sein Boot im Nebel trieb, und ich weiß nicht, ob er tot oder lebendig ist.»
Sie verstummte und blickte den Mann flehend an. Erst jetzt fiel ihr auf, wie vornehm er gekleidet war, er gehörte einem ganz anderen Stand an als sie selbst. Ein Herr, den sie unter anderen Umständen nie anzusprechen gewagt hätte. Beschämt wurde sie sich ihrer bäurischen Kleider bewusst.
Aber zu ihrer großen Erleichterung blieb der Herr stehen, hörte ihr aufmerksam zu, warf einen kurzen Blick ins Boot und gab dann einigen Männern, die wohl in seinen Diensten standen, ein paar knappe Anweisungen. Er sprach Schwedisch mit einem deutlichen, ziemlich harten Akzent. Ida vermutete, dass er Deutscher war. Sie wusste, dass es in Visby sehr viele Deutsche gab und dass der Rat, der die Geschicke der Stadt lenkte, mindestens zur Hälfte aus deutschen Ratsherren bestand.
«Mein Name ist Arnold van Jungingen. Wisst Ihr, wer der junge Mann ist?»
Er lächelte Ida freundlich an, und sie merkte, wie sie vor Unsicherheit und Schüchternheit feuerrot wurde. Sie wollte antworten, bekam jedoch kein Wort heraus und schüttelte den Kopf. Arnold van Jungingen rief ein paar andere vornehm gekleidete Herren herbei, die etwas weiter entfernt auf dem Kai standen und das Löschen einer der vielen vertäuten Koggen überwachten. In der Zwischenzeit hatten zwei seiner Männer den Bewusstlosen aus dem Boot gehoben und ihn auf den Kai gelegt. Ida kniete sich neben ihn, und als sie ihre Hand auf seine Stirn legte, fühlte sie, dass sie warm war. Erleichtert sah sie außerdem, dass der Brustkorb sich hob und senkte. Der junge Mann lebte.
Inzwischen waren sie von Neugierigen umringt. Alle starrten Ida und den Verletzten an. Ida hatte noch nie zuvor im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit fremder Leute gestanden, sie war verunsichert und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen.
«Den...
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