Schweitzer Fachinformationen
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Die Geschichte der europäisch-chinesischen Beziehungen ist eine Erzählung mit Höhen und Tiefen. Gerade für Deutschland war die Zusammenarbeit mit China in den letzten dreißig Jahren eine echte Erfolgsstory: Deutschlands Wirtschaft hat unheimlich von Chinas Aufstieg profitiert und ihn gleichzeitig befördert. Er hat uns reicher gemacht und resilienter gegenüber den kleinen und großen Krisen, die uns begegnet sind. Auch wegen des florierenden China-Geschäfts war Deutschland in der Lage, die Rolle eines finanziell potenten Stabilitätsankers in Europa zu spielen - von der Eurokrise bis zur Coronapandemie.
Das Gute am China-Geschäft war das hohe Maß an Komplementarität. Einfach ausgedrückt bedeutete dies: China brauchte Kapital, Technologie und Innovation; deutsche Konzerne brauchten günstige Produktionsmöglichkeiten und neue Märkte. Das passte hervorragend zusammen. Und tatsächlich: Deutsche Autos, deutsche Maschinen und deutsche Chemieprodukte verkauften sich brillant in China. Wenn die Grundlage der Modernisierung Chinas der Aufbau einer eigenen Industriebasis war, dann lieferte Deutschland dafür die Bauteile. Wie es einmal ein ehemaliger Geschäftsführer eines deutschen Mittelständlers zu mir sagte: »Wir kamen überhaupt nicht hinterher zu produzieren, so rasant wuchs der Bedarf in China. Da brauchtest du keine Werbung und kein Marketing. Einfach nur rausgehauen haben wir die Produkte. Was wir nur konnten.« Die zweistelligen Wachstumszahlen des chinesischen Marktes, vor allem in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren, schufen ein Klima der ungeahnten Möglichkeiten. Deutsche Konzerne waren wie im Rausch. Mehr China. Mehr Markt. Mehr Gewinne. Mehr, mehr, mehr .
Deutschland verlor dabei - anders als die USA - nur wenige Jobs nach China und auch nicht die eigene industrielle Basis. Ein Konzern wie Volkswagen produzierte nicht günstig in China, um dann in Wolfsburg Arbeitsplätze abzubauen. Der Kuchen wurde einfach immer größer.[31] Für Europa in Europa, für China in China wurden so immer mehr Autos verkauft. Mehr als so mancher Ingenieur des Traditionskonzerns vielleicht je zu träumen gewagt hatte. Deshalb haftete dem China-Geschäft in der breiten deutschen Öffentlichkeit auch kaum negativer Beigeschmack an. Solange die Kanzlerin bei ihren insgesamt zwölf China-Reisen immer die Menschenrechtslage ansprach, war für viele Bundesbürger:innen alles in Ordnung. Für Jahrzehnte schien es zu stimmen, dieses win-win, von dem die chinesische Führung immer sprach. Alle konnten sich als Gewinner fühlen.
In jüngster Zeit allerdings ändert sich die Stimmung zunehmend. Es sind Brüche aufgetreten. Und dabei ist es bemerkenswert, dass der erste wirklich laute Weckruf gerade aus der deutschen Wirtschaft kam. Noch verwunderlicher ist es, dass es ausgerechnet der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) war, der die Botschaft in der Breite zur Diskussion stellte. Der BDI steht selten im Verdacht, revolutionäre Umstürze anzuzetteln, gehört er doch eigentlich eher zum konservativen Spektrum des deutschen Verbandswesens. Aber im Januar 2019 war es ein Positionspapier[32] ebendieser Organisation, das etwas tat, was andere bisher vermieden hatten: die Entwicklungen, die man als Unternehmer:in vor Ort beobachten konnte, weiterzudenken und das Problem, das sich da zusammenbraute, klar zu benennen. Es war der Moment, an dem eine neue Form des Wettbewerbs ins Spiel kam, genauer: der »Systemwettbewerb«.
In den sonst doch oft etwas trockenen Debatten des deutschen und europäischen Politikbetriebs kam dieser Moment einem echten Paukenschlag gleich. Die Formulierung »Systemwettbewerb« versuchte, die Herausforderung zu beschreiben, der sich deutsche Konzerne im nach wie vor florierenden China-Geschäft gegenübersahen. Der Wandel von Komplementarität zu Konkurrenz. Und er räumte im selben Atemzug mit einem Mythos auf: der Illusion des friedlichen Aufstiegs der Volksrepublik, der nur Gewinner und keine Verlierer kenne.
Um China ranken sich viele Mythen und Allgemeinplätze. Das ist nicht verwunderlich. Für die meisten Deutschen ist China weit weg, das politische System wenig einladend, die Sprache kompliziert. Aber es haftet eben allem auch ein Hauch Mystisches, etwas Jahrhundertealtes, kulturell Beeindruckendes an. Die Verkürzungen und Vereinfachungen, mit denen einem sehr komplexen Land und einer sehr komplexen Beziehung begegnet wird, sind nicht mehr angemessen. China ist zu wichtig geworden. Es erfordert, genauer hinzusehen. Während wir in Deutschland intensiv die Entwicklungen in den USA verfolgen, ein Präsidentschaftswahlkampf dort in den Medien hierzulande eine zentrale Rolle spielt, bleibt die Beschäftigung mit China noch vergleichsweise kursorisch. In deutschen Schulen wird die pazifische Dimension des Zweiten Weltkriegs kaum gelehrt und bleibt die Auseinandersetzung mit Chinas Geschichte und Kultur eher eine Fußnote.
Hinzu kommt, dass viele der entstandenen Glaubenssätze, mit denen versucht wird, das Phänomen China zu fassen, Versionen der Wirklichkeit und Geschichtsschreibung sind, die von der Kommunistischen Partei Chinas ganz bewusst verbreitet und immer wieder wiederholt werden. Realität entsteht auch durch das Ausbleiben von Widerspruch, und Repetition sorgt für Gewöhnungseffekte. Wenn ein großer Kommunikations- und Propagandaapparat bestimmte Sätze in Dauerschleife von sich gibt, dann werden sie irgendwann kaum noch hinterfragt. »Die Kommunistische Partei Chinas hat 400?Millionen Menschen aus der Armut befreit« ist so ein Satz, oder: »China hat noch nie ein anderes Land angegriffen und kolonialisiert«, »Eine Entkopplung von China ist nicht möglich«, »China ist nicht Russland«, »Ohne Zusammenarbeit mit China ist globaler Klimaschutz unmöglich«, »China will das eigene System nicht exportieren«.
Aber nicht nur die Partei hat den Mythos des modernen China geschaffen, viele andere Akteure haben kräftig daran mitgebaut: Unternehmer:innen, die davon schwärmen, wie effizient die Dinge in China geregelt sind und mit welcher Geschwindigkeit Projekte auf den Weg gebracht werden können; Politiker:innen, die beeindruckt von der Art, wie ihnen der Empfang bereitet wird, und angesichts der schieren Möglichkeiten und technischen Finessen, die ihnen in China von Robotern serviert werden, den Abstieg des Westens voraussagen; Expert:innen, die Chinas kulturelle Besonderheiten beschwören und deshalb jede umfangreichere Kritik an der Kommunistischen Partei zur Anmaßung erklären.
All die Überhöhungen und absoluten Aussagen trüben den Blick dafür, zu beschreiben, was derzeit passiert. Das ist schon ohne diese ganzen argumentativen Strohmänner, die es aus dem Weg zu räumen gilt, kompliziert genug. Obwohl sich der Blick auf China in den vergangenen fünf Jahren deutlich verändert hat, größere Skepsis und Kritik lauter wird, schleichen sich die Aussagen nach wie vor in die Reden und Beiträge von Unternehmensvertreter:innen, Politiker:innen und Vertreter:innen europäischer Regierungen ein und verhindern als vermeintliche Wahrheiten eine dringend notwendige Debatte.
Auf Englisch würde man sagen, dass diese Argumente unpacked werden müssen, also ausgepackt, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, seziert.
Zur ehrlichen Argumentation gehört deshalb auch Klarheit darüber, dass die Antworten auf die Herausforderungen, vor die China uns stellt, mit Kosten und Umverteilung von Macht und Wohlstand verbunden sein werden. Es werden sich Chancen bieten, es wird Gewinner, aber eben auch Verlierer geben. Wie also kann eine Transformation unseres Umgangs mit Xi Jinpings China gelingen, bei der möglichst viele profitieren und möglichst nachhaltig und langfristig Deutschlands Rolle als führende Volkswirtschaft in Europa und der Welt gesichert werden kann? Wie sieht eine solche sicherheitspolitische, gesellschaftliche und ökonomische Kosten- und Risikoabschätzung mittel- und langfristig aus? Lohnt es sich, einige Schritte früher zu gehen und mit anderen...
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