Schweitzer Fachinformationen
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Peggy Smart war sich neunzigprozentig sicher, dass Montag war. Sie musterte die Beschriftung ihrer Pillenbox. Was für eine geniale Erfindung! Dank der einzelnen Kästchen mit den Wochentagen vergaß sie nie, ihre Tabletten zu nehmen. Und, noch viel wichtiger: Auf diese Weise konnte sie Brian nicht verpassen.
Mit einer frischen Tasse Tee bewaffnet, ging Peggy in Stellung. Sie hielt den dampfenden Becher umfasst und wartete. Er war spät dran heute Morgen, und ihre Zuversicht schwand. Was, wenn sie ihn doch verpasst hatte? Was, wenn er schon gefahren war? Dann musste sie vierundzwanzig Stunden warten, bis sie ihm wieder heimlich dabei zusehen konnte, wie er zu seinem Auto lief, das gestreifte Strandtuch lässig über die Schulter drapiert. Auf der Suche nach Trost wandte Peggy sich der Zuckerdose zu. Sie rührte noch ein Löffelchen Linderung in ihren Tee und drehte sich zum Küchenfenster zurück. Und da war er, zu ihrer großen Überraschung - lief mit einer Zeitung in der Hand vor ihrem Haus den Gehweg entlang. Brian Cornell sah zu ihrem Fenster hoch. Er lächelte. Und winkte ihr zu.
Erschrocken schüttete Peggy sich den heißen Tee auf die Pantoffeln. Halt suchend griff sie nach dem Fensterbrett. Brian hatte sie gesehen. Mehr noch. Er hatte gewinkt. In einem einzigen Augenblick lösten sich Monate des Zweifels in Luft auf, und Peggy wurde in das schwindelerregende Reich der Möglichkeiten katapultiert.
Sie wagte einen letzten verstohlenen Blick durch die Tüllgardinen. Der Gehweg war wieder leer. Brian und sein Morning Herald waren verschwunden. In Peggys Enttäuschung mischte sich Euphorie. Dieses Winken, so flüchtig es auch gewesen war, markierte definitiv einen Wendepunkt in ihrer aufkeimenden Beziehung.
Lächelnd reihte Peggy die Montagspillen auf der gestreiften Tischdecke auf - eine kleine Armee Chemiesoldaten im Kampf gegen das fortschreitende Alter. Sie hatte Teds Tablettenfläschchen immer noch im Schrank, weil sie es nicht über sich brachte, Medikamente wegzuwerfen. Die Tabletten gegen Sodbrennen zum Beispiel konnte sie bei einem verdauungstechnischen Notfall sicher irgendwann gebrauchen. Mit den Prostatapillen war es natürlich was anderes. Die müsste sie eigentlich in die Apotheke zurückbringen. Es sei denn, Brian hatte auch mit der Prostata zu tun. Peggy verdrängte das Bild seiner Silhouette. Es war sinnlos, so zu tun, als wäre das Leben perfekt. In ihrem Alter gab es keine Beziehung ohne Beipackzettel.
Die erste Pille verschwand mit einem Schlückchen extrasüßem Tee. Peggy aß einen Bissen Toast und schlug ihren Kalender auf. Sie hatte ihn letztes Jahr von ihren Enkelkindern zu Weihnachten bekommen. Jede Monatsseite zierte ein anderes Foto, auf dem Emily und Sam ohne sie ihren Spaß hatten. Doch Peggy Smart hütete sich zu jammern. Bloß nicht die Pferde scheu machen, lautete das Motto, wenn es um die Familie ging.
Peggy blätterte bis Oktober vor. Auf der Seite prangte ein niedliches Foto von Sam und Emily gemeinsam mit den Eltern ihrer Schwiegertochter beim Eiersammeln auf einem Bauernhof. Na toll. Ein ganzer Monat, um sie tagtäglich an ihren Platz in der Hackordnung zu erinnern. Kurz war Peggy versucht, Geraldine die Schneidezähne schwarz zu malen und Mike einen Schnurrbart zu verpassen. Doch das wäre reichlich kindisch für eine Frau von neunundsiebzig Jahren.
Seit sie letzten Monat die neue Farbcodierung in ihrem Kalender eingeführt hatte, hatte Peggy ihres Wissens noch keinen einzigen Termin versäumt. Sie gratulierte sich täglich aufs Neue zu ihrem Einfallsreichtum. Rot für Arztbesuche, Lila für die medizinische Fußpflege, Blau für den Friseur. Und dann gab es noch die Gold-Termine. Peggy hatte sich aus Emilys flauschigem grünem Federmäppchen einen Stift geborgt, um den Einkaufszettel zu schreiben, und vergessen, ihn zurückzugeben. Jetzt hatte der goldfarbene Glitzerstift einen Ehrenplatz neben dem Kalender. Er war für die Versammlungen des Siedlungskomitees reserviert. Immer am ersten Donnerstag im Monat. Eigentlich musste sie, seit Brian Schatzmeister war, die Daten gar nicht mehr markieren. Wenn es um Herzensangelegenheiten ging, funktionierte Peggys Gedächtnis tadellos.
Brian Cornell.
Die Vorstellung, wie er sich ihren Sonntagsbraten schmecken ließ, jagte ihr Schauder über den Körper. Sie stellte sich seine schmalen Gesichtszüge bei Kerzenschein vor und wie seine Hand auf der geklöppelten Spitzendecke nach ihrer griff. Ein einziger Bissen von ihrem köstlichen Dattelkuchen, und um den gutaussehenden Witwer wäre es geschehen.
Aber so was konnte sie unmöglich einfach nebenbei ins Gespräch einflechten. «Guten Abend, Brian. Haben Sie das Budget für die Bepflanzung der Auffahrt schon freigegeben? Oh, und wo wir gerade dabei sind: Würden Sie bei Gelegenheit zu einem romantischen Candle-Light-Dinner bei mir vorbeikommen?»
Vier Jahre Smalltalk, ein Kompliment über ihre selbstgebackenen Brötchen und die unvermeidlichen Fragen über das Befinden - weiter hatten sie sich immer noch nicht vorgewagt. Entweder handelte es sich hier um langsam schwelende Leidenschaft auf völlig neuem Niveau oder um vergebliche Liebesmüh.
Es war allgemein bekannt, dass Frauen ab einem gewissen Alter unsichtbar wurden, sogar für Männer über achtzig. Es war, als wäre Peggy Smart vollkommen neutral geworden. Sie verschmolz dermaßen perfekt mit dem geschmackvollen Dekor der Seniorensiedlung, dass sie schlicht nicht mehr vorhanden war. Das war wenig verwunderlich. Sie war weder aufregend noch glamourös. In jeder Hinsicht ausgesprochen unscheinbar. Ihre Phantasie war nichts anderes als genau das: ein Hirngespinst.
Seufzend schlürfte Peggy den sirupartigen Bodensatz aus ihrer Tasse. Eine Frau durfte doch wohl noch träumen, oder nicht? Eines Tages würde sich die perfekte Gelegenheit ergeben. Bis dahin leistete ihr die Erinnerung an Ted weiter Gesellschaft. Und Basil war schließlich auch noch da. Er schnarchte in seinem Körbchen vor sich hin, und die Frühstücksreste zitterten in seinen grauen Schnurrhaaren.
«Jetzt gibt es nur noch dich und mich, alter Knabe», sagte sie.
Vielleicht war es besser so. Wäre Ted noch am Leben, er würde sich im Grabe umdrehen.
Zweimal wöchentlich entkleideten sich die wagemutigeren Bewohnerinnen des Jacaranda Retirement Village gemeinsam in der beengten Sammelumkleide des siedlungseigenen Hallenbads. Peggy hatte jedes Mal damit zu kämpfen, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen, indem sie streng darauf achtete, den Blick nur ja auf Augenhöhe zu halten. Es war schwierig, dieses Übermaß an nacktem Fleisch mit dem von ihrer Mutter unablässig gepredigten Anstand in Einklang zu bringen. Sheila Martin war offensichtlich die Einzige, die eine ähnlich strenge Erziehung genossen hatte wie Peggy. Sie zog sich zum Umziehen sogar in eine abgeschlossene Kabine zurück wie eine viktorianische Dame in ihren Badekarren.
Die Wassergymnastik war der ultimative Gleichmacher, eine Atempause von den politischen Winkelzügen und Machtspielchen des Alltags in der Seniorensiedlung. Hier, in der Sammelumkleide, standen die Frauen Schulter an Schulter in ihren «Unaussprechlichen» - praktisch, baumwollen, in sämtlichen Weißtönen, standardmäßig industrietauglich verstärkt. Peggy hatte die Lizenz zum ungestraften Tragen vernünftiger Unterwäsche immer als einen der unerwarteten Vorzüge des Altwerdens empfunden.
Bequeme Schlüpfer. Große Schlüpfer. Die Sorte Schlüpfer, die im Dreierpack verkauft wurden.
Weil sämtliche anständigen Exemplare heute zum Trocknen auf der Leine hingen, versteckte Peggy ihren Notfallschlüpfer, solange es ging, unter den Rockfalten. Er war im Laufe der Zeit zu einem undefinierbaren Grau verwaschen, aber das Gummi war noch tadellos in Schuss, und sie brachte es nicht über sich, das Exemplar allein aus ästhetischen Gründen in den Müll zu werfen. Ihr Badeanzug sah kaum besser aus. Der schwarze Stoff war unten am Gesäß, wo sich das Elasthan bereits aufgelöst hatte, ein wenig schlaff. Aber er erfüllte noch immer seinen Zweck, und außerdem wurde das ausgeleierte Material mit jedem Tragen bequemer. Peggy hatte es nicht eilig, das fadenscheinig gewordene Stück zu erneuern. Sie hasste Einkaufen. Neue Unterwäsche war schon eine Herausforderung, aber Badebekleidung war eine Klasse für sich. Nichts passte, egal, was das Etikett behauptete. Dieser hier war als «Figurwunder» tituliert worden. Das einzige Wunder an dem Ding war jedoch, dass sie es nicht sofort ins Geschäft zurückgetragen und wegen irreführender Reklame ihr Geld zurückverlangt hatte. Sie wickelte sich das Handtuch um die Hüften, um das schlabberige Hinterteil zu kaschieren, und tippelte auf Zehenspitzen über die nassen Fliesen zum Schwimmbecken.
Um Punkt zehn Uhr überließ Peggy Smart ihre Zipperlein der Schwerelosigkeit des Wassers im flachen Nichtschwimmerbereich.
«Dann mal los, meine Damen. Schnappen Sie sich eine Schwimmnudel und suchen Sie sich einen Platz.»
Alle liebten Libby, die junge Schwimmlehrerin. Natürlich konnte es keine der Frauen mit ihrer schlanken Figur aufnehmen, und ihr Anblick war die reinste Erholung von der Grübchenparade in der Sammelumkleide. Außerdem gewährte Libby der Wassergymnastikgruppe jedes Mal bereitwillig kleine Einblicke in ihr Privatleben: ihre unzuverlässigen Freunde, ihre exotischen Reisepläne und ihr Traum vom Muttersein. Peggy empfand Libbys Geschichten als erfrischende Abwechslung zu dem üblichen Hickhack rund um das ewig gleiche Thema: «Wer übertrumpft wen mit welcher Unpässlichkeit?»
Mavis Peacock hüpfte...
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