MICHAELA GLÖCKLER
Die Ursachen der Erschöpfung
verstehen und selbst behandeln
«Die Ursachen der Erschöpfung verstehen und selbst behandeln» mag als Titel anmaßend klingen - zumindest für Ärzte und Therapeuten, die wissen, wie schwierig Diagnose und erfolgreiche Therapie auf diesem Feld sind. Zudem kennen wir das Sprichwort: «Wer sich selbst behandelt, hat einen Narren zum Arzt.» Ich will Ihnen jetzt nicht zumuten, dass Sie zu Narren werden und sich selbst behandeln. Ich bin jedoch der Ansicht, dass es bei dieser Regel Ausnahmen gibt. Zu den Krankheiten, die der Selbstbehandlung zugänglich sind, gehört die Erschöpfung und bis zu einem gewissen Grade auch das echte Burn-out-Erschöpfungssyndrom. Denn bei diesem Krankheitsbild weiß der Betroffene in der Regel am allerbesten, warum er oder sie in diese Situation gekommen ist. Da, wo man am meisten weiß, am meisten davon versteht, kann man sich auch am besten behandeln.
Ich darf hier eines meiner Lieblingszitate von Rudolf Steiner dazu stellen: als junger Student hat er einmal einen Fragebogen ausgefüllt mit vielen Fragen zur persönlichen Lebenseinstellung und Führung. Da war auch eine Frage: «Welchen Fehler würdest du am ehesten verzeihen?» seine Antwort war: «Jeden, wenn ich ihn begriffen habe.» Das war für mich ein entscheidender Augenöffner! Man kann alles verzeihen, was man versteht.
Zum Gesundwerden gehört vor allem, dass man sich verzeiht, dass man krank geworden ist. Das heißt, man muss verstehen: Wie kam ich in diese Situation? Und: will ich da heraus? Will ich wirklich wieder gesund werden? Wie lange hat es wohl gedauert, bis ich dekompensiert geworden bin? So wird es sich auch länger dauern, bis ich wieder gesund bin. In der Regel braucht es mindestens ein Drittel der Zeit die der Krankheitsprozess gedauert hat. Bei einem echten Burn-out zieht sich der Gesundungsprozess oft über ein Jahr hin. Manchmal auch länger. Der Unterschied zwischen Erschöpfung und Burn-out ist die Therapiedauer. Eine normale Erschöpfung kann man mit ein bis drei Monaten Erholung kompensieren. Man kann ihr auch vorbeugen. Erschöpften Lehrern empfehle ich z.B. dass, bevor sie wirklich in die behandlungsbedürftige Erschöpfung herein geraten, sie vorher mit dem Kollegium sprechen und um eine Auszeit bitten. Es ist viel gesünder, vorbeugend krank zu sein, als richtig krank zu werden. Denn der Riesenvorteil, wenn man vorbeugend, prophylaktisch krank wird, sich bewusst krank meldet, ist, dass man dann mit der freien Zeit etwas anfangen kann, weil man eben noch nicht richtig krank ist. Wenn man wartet, bis man richtig krank ist, ist man nicht mehr leistungsfähig.
Ich kenne manchen Fall aus meiner Zeit als Schulärztin, wo die betreffenden Kollegen, bis zur definitiven Erschöpfung gearbeitet haben und dann oft zu früh wieder kamen, um nicht zu lange vertreten werden zu müssen. Beides ist problematisch. Die Erholungszeit kann nicht für die Unterrichtsvorbereitung genutzt werden, und man ist in der Gefahr, rückfällig zu werden und längere Zeit weniger belastbar zu sein.
Ich habe einmal einen erschöpften Waldorflehrer vertreten mit der Epoche Gesundheitslehre in der 7. Klasse. Als dann die Epoche vorbei war (ich habe ihn vier Wochen lang vertreten), kam er wieder, war jedoch noch nicht wirklich wieder gesund; man hätte ihm eigentlich noch einen zweiten Monat geben müssen. Wir tun das nicht, weil wir das einfach noch nicht richtig verstehen. Man denkt leicht: Wer ist denn nicht erschöpft?! Wieso darf der oder die jetzt schon einmal prophylaktisch in Urlaub?! Da kommt einem schnell der Neid in die Quere, weswegen man das irgendwie nicht möchte. Daher traut man sich das auch nicht so recht, dies anzusprechen oder einzuführen. Es wäre aber vernünftig, denn dann könnte man in Ruhe in der Auszeit die nächste Unterrichts-Epoche vorbereiten, mal richtig ausschlafen und für Erholung sorgen. Zudem käme man dann früher wieder zurück.
Es kommt also zunächst einmal darauf an, dass man versteht, wodurch Erschöpfung zustande kommt, dann kann man sie sich selbst (und anderen) verzeihen. Dann aber kann man sie auch selbst behandeln und sich vornehmen, dass es nicht wieder soweit kommt. Das Schöne ist: Es gibt Bedingungen, wenn man die einhält, dann passiert das nicht mehr. Alles, was man lernen möchte, hat Bedingungen. Wenn man die einigermaßen respektiert, berücksichtigt, dann entwickelt sich die gewünschte Fähigkeit, und das ist dann zum Beispiel die, dass man sich nicht mehr erschöpft, weil man die Bedingungen kennt, wie man sich in einem gewissen Kräftegleichgewicht selber halten kann. Es ist ja klar, dass das ohne eine gewisse Selbstschulung nicht geht.
Verstehen ist aber nicht nur, dass man etwas durchdenkt, denn wir wissen Vieles, und wir verstehen es auch sogar, aber wir können trotzdem noch nicht die adäquaten Konsequenzen ziehen; es fehlt noch die dafür nötige Wärme, die nötige Motivation. Wenn zum Verstehen nicht das Gefühl hinzutritt, das Verstandene auch zu schätzen, so dass man es realisiert sehen möchte, dann bewirkt auch das beste Verstehen nichts. Wir wissen auch alle: Wenn man etwas Schwieriges verstehen will, dann scheut man sich auch, mit dem Gefühl wirklich hineinzugehen, weil es weh tut, nicht zu verstehen. Man muss sich überwinden, auch das Gefühlt, sich über die eigene Unfähigkeit zu ärgern.
Deswegen ist das normale intellektuelle Verstehen oft ein Scheinverständnis und nicht das Verstehen, das zu einem wirklich - wie wir dann sagen - vertieften Verständnis führt. Aaron Antonovsky, der Begründer der Salutogenese, hat das wunderbar herausgearbeitet. Er musste ja an der Universität Be'er Scheva den Gesundheitszustand älterer Frauen in Israel untersuchen und hat dabei zu seiner großen Überraschung bemerkt, dass unter den gesündesten Frauen in dieser Altersgruppe auch eine Anzahl von Überlebenden des Holocaust waren. Das hat ihn sehr überrascht, weil er dachte, die Holocaust-Opfer, die diese Hölle überlebt haben, müssten körperlich oder zumindest seelisch nachhaltig geschädigt sein. Es war aber umgekehrt. Einige unter Ihnen zeigten nicht nur keine Krankheitssymptome oder Beeinträchtigungen. Vielmehr waren sie gesünder als die, die nicht in dieser Hölle gewesen waren. Das fiel ihm sehr schwer zu begreifen. Das wollte er als Medizinsoziologe verstehen. So interviewte er seine Probandinnen mit vielen Fragen, auch zur persönlichen Lebensführung. Er wollte herausfinden, wieso diese Menschen so gesund sind, obwohl sie die Hölle überlebt haben. Die Antworten, die er bekam brachten ihm die Lösung: er konnte drei Kernmotive herausdestillieren und gab ihnen den Namen «Sense of coherance», auf Deutsch mit Kohärenz-Gefühl wiedergegeben. Denn allen drei war gemeinsam, dass es dabei um das Gefühl ging. Das war dann auch das zentrale Ergebnis, dass das Gefühlsleben die entscheidende Rolle beim Übergang von Krankheit in Gesundheit und von Gesundheit in Krankheit spielt.
Solange man sich gesund fühlt, fühlt man sich eben nicht krank, selbst wenn man krank ist. Dann kann man irgendwie überspielen, man kann kompensieren, ja, man weiß, da habe ich ein Problem, aber man fühlt sich trotzdem gut und in Grenzen lebens- und arbeitsfähig. Wer sich hingegen krank fühlt, kann dennoch erstaunlich gesund sein und ist trotzdem einfach krank.
Damit bestätigte Antonovsky eine Bemerkung Rudolf Steiners in seinem Kurs für junge Ärzte, dass sich der Arzt ein feines Wahrnehmungsvermögen aneignen müsse für das Gefühlsleben des Patienten, denn dort kündigt sich die Krankheit am allerfrühesten an. Frühdiagnostik ist Gefühlsevaluation. Wie jemand sich fühlt, kann man auch nonverbal herausfinden an der Art wie die Körperhaltung eines Menschen ist, welche Mimik er zeigt, an der Art, wie jemand spricht oder reagiert. Wir kennen ja alle das Gefühl, wenn man zur Erschöpfung neigt, weil man zu wenig geschlafen hat, sich überbeansprucht hat, dann wird man intolerant, man neigt zu aggressiver Reaktionsbereitschaft, die Empathie lässt nach. Man merkt, es beginnt mit Gereiztheitszuständen im Gefühlsleben.
Darauf kam Antonovsky dann erstmals mit den Mitteln der Wissenschaft. Er nannte die drei gesundenden «Kerngefühle» Kohärenzsinn. Gefühle verbinden uns ja mit der Welt, sie machen uns kohärent, stellen und bringen uns in den Zusammenhang mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit der Welt, in der wir leben. Er fand heraus: Es gibt drei Grundgefühle, die den Menschen immer gesünder machen wenn er sie pflegt. An erster Stelle das Gefühl, etwas zu verstehen, durchzublicken. Dann das Gefühl, dass das Verstandene auch Sinn macht, dass man ihm seinen Sinn im Kontext des Lebens geben kann - auch wenn es sich um Furchtbarste, unmenschliche Vorgehensweisen handelt. Und das Dritte, was Antonovsky herausfand war, das Gefühl der Handhabbarkeit. Er nannte diese drei dann «manageability, meaningfullness and understandability». Damit ist aber auch...