ICH GEHÖRE NICHT MEHR DAZU.
Vielleicht haben sich die Magnetpole umgekehrt, denn alles, was mir bisher zugehörig schien, rückt von mir ab. Ich habe mich von niemandem abgewendet, keine Türen zugeschlagen, mit niemandem abgerechnet und niemanden angeklagt. Ich musste nichts zerreißen, zerbrechen, nicht streiten oder überzeugen. Von ganz allein ist eine Lücke entstanden, ein Abstand, durch den sich die Dinge am Grund des Himmels neu angeordnet haben.
Ich halte an nichts mehr fest.
Völlig losgelöst gleite ich von einer Situation in die nächste. Um mich herum nur noch aneinandergereihte Farbflächen, Komplementärtöne. Als hätte ich keinen Platz mehr auf der Oberfläche der akkurat angeordneten Linien und Formen. Ohne einen Laut habe ich mich davon abgelöst.
Ich hatte viel dafür getan, um es bis hierher zu schaffen, heimlich, still und leise. Hinter jede Selbstverständlichkeit hatte ich ein Fragezeichen gesetzt.
Das hier ist kein Scheitern.
Es ist keine Kleinigkeit, wenn der eigene Körper nicht mehr ins Bild passt. Die beißende Kälte fühlt sich an wie ein Schnitt, wie ein neuer Anfang.
Gestern oder vorgestern noch verbanden mich alle möglichen Gewohnheiten, Glaubenssätze und Wünsche mit meiner Umgebung. Jetzt schwebe ich, getragen von einer ganz neuen Leichtigkeit.
So erschöpft wie ich bin, könnte man meinen, es hätte einen Kampf gegeben, aber so ist es nicht. Ich erinnere mich weder an Trauer noch an Tränen. Ich will mit der, die sich abstrampelte, um eine Position zu erreichen, um eine Position zu halten, um sich eine Position zu verdienen, um diese Position vor den anderen zu verteidigen, nichts mehr zu tun haben. Ich machte diesen Wettlauf mit, verbog mich manchmal bis zum Zerreißen, um stets allen Erwartungen gerecht zu werden.
Jetzt lasse ich los.
Ich wiederhole: Ich habe weder gekämpft noch mich verschanzt.
Eher das Gegenteil: Ich habe mich entschanzt, entkoppelt, bin über die Außenwelt entflohen.
Ich weiß nicht, ob irgendwo irgendwer überhaupt noch meinen Namen sagt: Claire.
Als ob ich antworten würde.
Es ist, als würde ich sogar meinen Namen loslassen.
Ich werde mir meiner neuen Perspektive bewusst. Meinem ungewöhnlichen neuen Standort im Gewusel der Stadt, auf dem Dach dieses Gebäudes.
Ich nehme an, dass ich in der Abenddämmerung kaum zu erkennen bin. Dabei verberge ich mich weder im Schatten, noch bin ich in einer Menschenmenge untergetaucht.
Zum ersten Mal überblicke ich die meisten Gebäude hier im Viertel, und man müsste schon mindestens auf meiner Höhe sein, um mich gut erkennen zu können. Zum Glück ist da keiner.
Ich bin einen Kopf größer als der Schornstein und stelle so fest, dass aus diesen Glastürmen tatsächlich Schächte in den Himmel führen, was mir fast rührend archaisch vorkommt.
Ich erforsche jeden Luftzug. Noch nie war ich so lange draußen, ohne mich zurück ins Warme zu wünschen. Um in diesen ersten Frühlingstagen auf dem Dach zu bleiben, bräuchte ich eigentlich eine Jacke oder einen guten Grund.
Es ist nicht so, dass ich abgekoppelt wäre von meinen Gefühlen. Ich nehme sie nur nicht so wichtig.
Ich mache ein paar Schritte. Offenbar bleibe ich auch bei Wind am Grund des Himmels verhaftet.
Von hier aus kann mein Blick über die verschiedenen Grüntöne schweifen - von den Baumkronen direkt unter mir bis zu der fast gelben Reihe, die an die ferne Vorstadt grenzt. Wenn die Sonne es müde ist, die Dächer zum Leuchten zu bringen, konzentriert sie sich auf diesen Streifen jenseits der blechernen Flächen, der die Häuser umfasst, ohne sich dabei für ein Stück Natur auszugeben. Die Heimat der Schrottplätze und Flughäfen.
Ich muss nicht einmal die Augen zusammenkneifen, um die Einzelheiten auszumachen. Ich erinnere mich.
Dort wurde ich geboren.
Die verstopften Straßen, die großen Kreuzungen und die Autobahnausfahrten durchzuckt in regelmäßigen Abständen ein Pulsschlag. Aber das Blut dieser vermeintlich gesunden Stadt ist schwarz.
Mein Blick umspannt, was schon immer da war, eine Landschaft, die ich jeden Tag gesehen, aber mir nie die Zeit genommen habe zu betrachten.
Einige Meter unter mir kreischen Vögel in Bäumen, die ich genauso wenig beachtet habe wie die Straßenschilder. Ich erinnere mich nur an diesen einen Ast, der so hervorragte, dass ich mich immer wunderte, warum man ihn noch nicht abgesägt hatte. Eine Hand, die sich nach dem Schleichweg hinter den Dienstwagen ausstreckte.
Meine vorübergehende Abwesenheit wird die Funktionsweise dieses Landes nicht verändern, nichts ungeschehen machen und den Lauf der Dinge nicht im Geringsten beeinflussen.
Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich hier hochgestiegen bin.
Die Aussicht beruhigt mich.
Wie ich so im Schneidersitz auf dieser geteerten Terrasse sitze und noch nicht einmal eine Alibizigarette habe, könnte man meinen, dass ich wieder zum Kind geworden bin, das geduldig auf das Schauspiel wartet, das ihm die Welt erklärt.
NIE WIEDER WERDE ICH ZULASSEN, DASS MAN MIR DIE WELT ERKLÄRT.
NIE WIEDER HÖRE ICH MIR DAS EWIG GLEICHE MÄRCHEN VON DER VERNUNFT AN.
Ich bin zum ersten Mal auf dem Dach. Es ist nicht dafür gemacht, dass man hinaufsteigt. Keine Spur von illegalen Partys in der Abenddämmerung, auf denen die üblichen Muntermacher herumgereicht werden und sich alle für die Könige der Stadt und der Welt halten. Kein Sofa, in das perfekte Körper sinken können wie in ausladende Schwimmbecken. Kein Versteck, kein exklusives Stück Paradies.
Ich verscheuche Triumphgeheul, testosterongeladene Besitzerposen und laszive Umarmungen im Dämmerlicht aus meinem Kopf.
Ich bin froh, dass das einzige Sofa, das mich hier empfängt, nichts ist als der Boden aus Beton. Und dass sonst nur Vögel da sind, ganz außer sich, weil ich ihren Platz einnehme.
Noch vor wenigen Monaten wäre ich niemals auf dieses ungesicherte Dach geklettert. Anstatt nach der Leiter zu greifen, die nur für die Feuerwehr gedacht ist, hätte ich sofort Angst gehabt, von einem Windstoß weggefegt zu werden. Schwindel und Herzrasen hätten mich derart überwältigt, dass ich mich zurück in die vertraute Welt gerettet und an eine Wand gelehnt hätte, um wieder zu Atem zu kommen.
Aber heute Nachmittag hatte ich nicht viel Zeit zum Nachdenken. Als ich die offene Luke sah, durchzuckte mich ein halb nervöses, halb befreites Kichern, noch gefangen im Dazwischen von drinnen und draußen. Ich fühlte mich plötzlich wie ein gehetztes Tier, dem die eigene Kraft in alle Gliedmaßen schießt.
Ohne zu zögern, kletterte ich die Leiter hinauf, stemmte die Luke ganz auf und setzte meine Knie auf die Kante, ein wenig konsterniert, meine Geschmeidigkeit aus Kindertagen verloren zu haben. Ich stemmte mich hoch und setzte mich hin. Mehrere Minuten verharrte ich in dieser Ankunftsposition, bevor mir die Idee kam, mich zu bewegen und den Himmel zu betrachten. Mein Körper hatte ausgeführt, was ich seit geraumer Zeit in Gedanken durchgespielt hatte: durch die Luken zu entwischen.
Ich weiß nicht, wie man am Abgrund balanciert. Für gefährliche Dächer und Klippen bin ich nicht gemacht. Jeder Windhauch lässt mich erzittern.
Mein Körper hatte schließlich jahrelang keine andere Aufgabe, als so gut wie möglich die nach der neuesten Mode geschnittene Kleidung auszufüllen. Manchmal habe ich mir gewünscht, mein Bauch würde sich selbst auffressen, um nicht über den Bund zu quellen, meine Oberschenkel würden zu Beton werden und sich nicht mehr bewegen. Wenigstens hatte ich als Jugendliche das Glück, keine Brüste zu haben, die ich hätte bändigen müssen, aber es brauchte auch nicht viel - ein Paar stabile Bügel -, um im gewünschten Moment Kurven anzudeuten, ohne dabei jemals provokant zu wirken. Je nach Anlass konnte ich entweder das Mädchen sein, von dem nichts zu befürchten war, oder die Frau, die sich offen für körperliche Annäherung zeigte.
Meine Nase sucht nach Oberfläche, nach Luft zum Atmen. Wann habe ich verlernt, nichts zu tun als meine Lungen aufzufüllen und auszuleeren? Wieso habe ich geglaubt, dass es Wichtigeres gibt als die Luft zum Atmen?
Bisher habe ich noch keine Ahnung von der Luft hier oben, von ihrer Zusammensetzung, aber bald werde ich verstehen, was sie bewegt und ausmacht.
Beim kleinsten Geräusch zucke ich zusammen, als ob mir jeden Moment jemand die Hand auf die Schulter legen und mich zur Rede stellen könnte. Dabei bin ich hier doch außer Reichweite.
Früher war es mein größter Traum, eines Tages Teil dieser Institution zu sein. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es andere Ziele im Leben geben könnte. Täglich war ich auf Tuchfühlung mit Macht und Prestige, redete zwölf Stunden lang von Projekten und Visionen und setzte Gedanken um, die nicht meine waren, aber von deren Wichtigkeit ich überzeugt war.
Von einer höheren Ebene, der sogenannten Politik, erreichten uns große - mehr oder minder vage - Ideen und Zahlenziele, die wir miteinander in Einklang bringen mussten.
Ein Balanceakt, im Rahmen dessen es mir gelang, mir jedes Thema anzueignen, sofern es dem Zeitgeist und der gängigen Moral entsprach. Ich konnte die merkwürdigsten Ideen plausibel machen. Ich kannte alle Kniffe. Ich dachte, dass ich so - wenn ich mich nur ein bisschen mehr anstrengte - die Welt verändern könnte. Ich dachte, dass ich...