Schweitzer Fachinformationen
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Der Nebel war dicht. Der federnde Waldboden, durchtränkt vom Regen der vergangenen Tage, dämpfte den festen Schritt der Söldner. Margaud blickte nicht zurück. Nicht, weil sie in den feuchten grauen Schwaden des Novembermorgens kaum einen der geduckten Hausgiebel ihres Heimatdorfes hätte erkennen können. Sie blickte nicht zurück, weil es nichts gab, was sie noch einmal sehen wollte. Am Grab war sie gestern gewesen. Sie hatte der Mutter eine der letzten Rosenblüten auf die feuchte Erde gelegt und ihr erklärt, warum sie fortmusste, fort aus diesem untergehenden Dorf, fort vom ständig betrunkenen Vater, fort aus der bitteren Armut. Nach zwei Missernten und einer marodierenden Soldateska hatten die verwüsteten Felder in diesem Herbst zum dritten Mal keinen Ertrag gebracht. Verzweifelt und sittenlos sei das Leben hier auf dem Lande, hatte Margaud der Mutter erklärt, es bleibe kein anderer Ausweg, sie müsse nach Paris. Zärtlich hatte sie ein neues Kreuz aus Weidenruten geflochten und auf den Grabhügel gesteckt. Sei mein Schutzengel, schwebe über deiner Tochter, ich werde mich gewiss nicht leichtfertig in Gefahr begeben, Maria ist ja mit von der Partie. Das Leben ist woanders, Mutter.
Margaud war sicher, dass die Mutter ihren Plan billigte. Nie hätte sie dem Vater zugestimmt, Margaud mit dem halbirren Sohn des Dorfvorstehers zu verheiraten. Dessen Idee war vor zwei Jahren aufgekommen, als Margaud zwölf Jahre alt war, und seitdem hatte sie sich des grinsenden, schielenden Kerls kaum erwehren können, der mit beachtlichen Kräften nach ihr griff, wann immer er ihr begegnete. Die Hochzeit wurde immer wieder verschoben, da Margauds Vater die Mitgift nicht aufbringen konnte. Schließlich hatte der Dorfvorsteher auf die Mitgift verzichtet. Kein Wunder, dachte Margaud, die der Ekel unwillkürlich heftig schüttelte, der Junge wuchs ihnen über den Kopf. Zwei Mädchen des Dorfes hatte er bereits Gewalt angetan und die Eltern mussten zahlen. Statt einer Mitgift sollte der Debile in Margauds Familie übersiedeln. So wollten die Eltern den unbequemen Sohn loswerden. Aber nicht mit mir, dachte Margaud und band entschieden das Tuch, das die wenigen Dinge enthielt, von denen sie sich nicht trennen mochte, fester um ihre schmale Taille. Die Soldaten waren zwar nicht minder bedrohlich als der schwachsinnige Dorfvorstehersohn, aber wenn sie alles beherzigte, was ihre Freundin ihr geraten hatte, konnte Paris ihre neue Heimat werden.
Margaud griff nach Marias Hand, die stumm, mit gesenktem Kopf, neben ihr durch den feuchten, winterdunklen Morgen schritt, eine mit Streitäxten gefüllte Holzkarre hinter sich herziehend. Maria war zwei Jahre älter als sie, im Nachbarhof groß geworden, und sie hatten alles gemeinsam getan, als wären sie Schwestern. Ihre Tatkraft, ihr Durchsetzungsvermögen und ihre Schönheit bewunderte Margaud neidlos. Im Gegensatz zu Margaud war Maria von lieblicher Molligkeit, hatte blondes Haar und wunderschöne bernsteinfarben schimmernde Augen.
Maria drückte Margauds Hand.
»Wirst sehen, in Paris kann eine Frau reich werden, ohne dass sie heiraten muss«, raunte sie. Margaud nickte zustimmend, obwohl die Freundin ihr Nicken im Dunkel des Waldes nicht sehen konnte.
»Und ihren Spaß kann sie auch haben, wenn du verstehst, was ich meine!« Maria stieß Margaud in die Seite.
Margaud hatte keine Ahnung, welchen Spaß Maria meinte. Wein in großen Mengen sollte angeblich eine Menge Spaß bringen, aber der Vater war alles andere als lustig, wenn er gezecht hatte, und er hätte auch den letzten silbernen Livre der Mutter, den Margaud hütete wie einen Schatz, vertrunken, wenn er ihn bei seiner berserkerhaften Suche im Haus gefunden hätte. So musste er sich damit begnügen, alles zu zerstören, was ihm in den Weg kam, er schmiss Tische und Stühle umeinander, riss das Bord mit dem Geschirr von der Wand, sodass sie zuletzt gezwungen war, einen Topf von der Nachbarin zu leihen, um den Hirsebrei zu kochen. Im Spiel mit kleinen Kindern konnte Margaud viel Spaß haben, aber . Margaud wollte den Gedanken verscheuchen, doch das Bild hatte sich so fest in ihr eingebrannt, dass sie es nie wieder auslöschen konnte.
Die Soldaten hatten den kleinen Bruder, der sein erstes Lebensjahr noch nicht erreicht hatte, aus der Wiege gerissen. Gröhlend hatten sie sich den Säugling zugeworfen, bis einer, verärgert vom gellenden Schreien des winzigen Wesens, das Bündel nicht mehr mit der Hand, sondern mit der Spitze seiner Pike aufgefangen hatte. Mit der blutigen Trophäe war die Horde brandschatzend und plündernd durchs Dorf gezogen.
Margaud hatte das entsetzliche Spiel vom Heuboden aus beobachtet. Sie hatte sich den Zipfel ihrer Schürze in den Mund gestopft, um nicht laut zu schreien. Nicht auszudenken, was die Soldaten ihr angetan hätten, wäre sie von ihnen entdeckt worden.
Nein, das Leben konnte nur besser werden in Paris. Margaud erwartete keinen Spaß, sondern ein bescheidenes Auskommen, ohne sich an einen Mann zu ketten, der sie schlagen oder auf andere nicht auszudenkende Arten quälen würde. Wurden Mägde nicht stets gesucht von den Stadtleuten? Margaud wusste, was im Haus zu erledigen war. Von klein auf hatte sie nichts anderes getan, als auf dem Feld und im Haus zu arbeiten, und stets hatte die Mutter sie gelobt, weil alles gut wuchs, das Geflügel prächtig gedieh und der Lehmfußboden des kleinen Hauses jeden Abend sauber gefegt war. Spaß, das war, wenn Margaud mit der Mutter nach einem harten Tag ein Bad im See nehmen und auf dem Heimweg einen Strauß Feldblumen pflücken konnte.
Das Fähnlein des Herzogs Johann von Burgund trabte zügig durch den Wald, von gefährlicher Lautlosigkeit wie ein Rudel Wölfe. Nur die Streitäxte und Morgensterne klirrten leise am Gürtel beim Laufen. Hin und wieder hörte Margaud ein Keuchen, einen unterdrückten Fluch, wenn sich eine Pike in tief hängenden Ästen verfing, und immer wieder das Schnauben der Pferde von den Berittenen, die weit vorn den Zug anführten.
Margaud wusste nicht, wie viele es waren. Sie ging hinter dem Fähnlein, das dreihundert Söldner umfassen sollte, aber es waren weniger. Margaud hatte gesehen, wie der Hauptmann die Werber geprügelt hatte, weil sie nicht die erforderliche Anzahl von Armbrustschützen, Pikenieren und Hellebardieren zusammengebracht hatten. Dieser Hauptmann, dessen Umrisse sie nur im Morgendämmern unter den Wehlauten der Werbersoldaten gesehen hatte, schien ein brutaler Kerl zu sein, sie musste sich vor ihm in Acht nehmen.
Maria und Margaud waren nicht die Einzigen, die dem Fähnlein folgten. Den Tross bildeten fast ausschließlich Frauen und Kinder aus Burgund. Ihr Herzog, Jean Sanspeur, der furchtlose Johann genannt, zog aus dem heimischen Burgund nach Paris.
Es hieß, sie sollten vor den Stadttoren von Paris in der Nähe des herzoglichen Besitzes, Hotel de Bourgogne genannt, Quartier beziehen. Warum? Die Frauen wussten es so wenig wie das Fußvolk. In Frankreich herrschte nicht mehr König Charles der Weise, es herrschte Charles VI. mit seiner ausländischen Königin, die sie Isabel de Baviére nannten, und seinem furchtbaren Konnetabel, dem Herrn Krieg. Als Margaud geboren wurde, herrschte der Krieg bereits in voller Brutalität und Ungerechtigkeit. Die Alten nannten ihn den Hundertjährigen Krieg. Nicht einmal der Dorfälteste konnte sich an Zeiten des Friedens erinnern. Der Krieg in Frankreich hatte bald sein siebzigstes Jahr erreicht, aber er stand in voller Manneskraft. Mal hier, mal dort loderte er auf wie Waldbrände in trockenen Sommern, und immer ging es nur um eines: die königliche Thronfolge. Mal dienten die Soldaten den Burgundern, mal den Orléanisten, mal den Engländern, die die Normandie besetzt hielten, mal deren Gegnern, den Schotten. Aber der Sold blieb immer wieder aus, die Söldner wurden nur als Routiers für drei Monate bezahlt oder die Heere wurden aufgelöst, wenn die Herzöge wieder einmal zahlungsunfähig waren. Daher zog, wer niemanden fand, bei dem er sich verdingen konnte, plündernd durch die Lande. Ehefrauen zogen mit ihren Männern, Schwestern versorgten ihre Brüder, Marketenderinnen verdienten Geld mit der Versorgung der leiblichen, aber auch weiterer körperlicher Bedürfnisse der Männer, von denen Margaud gehört und vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte. Margaud war diesen Gefahren bisher entgangen und hatte ihre Jungfräulichkeit, ihr höchstes Gut, wie die Mutter gesagt hatte, stets bewahrt. Viele Frauen schleppten den Söldnern Waffen und Munition hinterher, wie Maria, damit der Tross dem Zug direkt folgen konnte und die Söldner bei einem Angriff schnell zum Nachschub greifen konnten. Die Männer wurden für den Kampf gebraucht, als Lastesel waren sie zu schade.
Es war heller Tag, als das Fähnlein nach vielen Stunden Marsch und einem mehrstündigen Transport auf Flößen die Seine hinunter vor den Stadtmauern von Paris das Lager aufschlug. Margaud erschien es riesig, es besaß jedenfalls mehr Zelte als ihr Dorf Hütten und doppelt so viele Söldner wie Einwohner. Eine Frau behauptete, hier sei der Treffpunkt von zwei Fähnlein. Der Herzog sei mit 600 Bewaffneten losgezogen, um Paris und den König zu schützen. Wovor? Die Frau zuckte nur die Achseln: Was weiß unsereins schon. Da ist ständig Streit, zwischen den Herzögen Burgunds, Orleans, Anjou und Bourbon. Alle wollen König sein. Sie sollten besser einig gegen die Englischen kämpfen. Aber was verstehen wir arme Leute davon. Und wandte sich ab, ihren Kessel über dem Feuer aufzuhängen und Wasser hineinzugießen, das ein kleiner Junge in einem Ledereimer brachte.
Maria stieß Margaud an: »Komm! Wir müssen hinein, solange die Tore geöffnet...
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