Schweitzer Fachinformationen
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In einer ungewöhnlich milden Januarnacht des Jahres 1918 lief eine Frau durch München, um zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Sie hieß Sonja Lerch. Dies ist nicht der Beginn ihrer Geschichte, aber ihre Gefangennahme wenige Tage später ist auch nicht das Ende, und ihr Tod war nicht das wirkliche, geplante Ende, wie es sich für ihren Ehemann und ihre Freunde darstellte. Sie jedenfalls, Sonja, die eigentlich Sarah Rabinowitz hieß, hätte dieser Vorstellung von Anfang und Ende ihrer Geschichte entschieden widersprochen.
Der schwere Wintermantel schlug Sonja um die Knie und wollte ihren Lauf hindern. Sie genoss den Widerstand. Als der Wollstoff nachgab und wie eine dunkle Gewitterwolke hinter ihr herschlug, empfand sie wilde Freude. Schwere schwarze Hexenflügel. Sie riss die Mütze vom Kopf und stopfte sie in ihre Manteltasche, ohne innezuhalten. Wie Milch fühlte sich diese Nacht an, klar war der mondlose Himmel, und über dem Sendlinger Tor funkelten Sterne, glitzernde überirdische Hoffnungsträger. Der Föhn, der sanft von den Alpen herunterwehte, hatte der Stadt tagsüber frühlingshafte Wärme beschert, und nun diese milde Nacht, in der es sich herrlich laufen ließ. Laufen in ein neues Leben, in eine neue Zeit, von der dieses München noch nichts ahnte.
Sonja lief durch die Hauptstadt jenes eigenartigen bajuwarischen Volksstammes, der sich vor tausend Jahren im Isartal angesiedelt und die Urbevölkerung vertrieben hatte, die Kraft des wilden Gebirgsbaches ausnutzend zu Gewerken, die vor allem über Zölle Wohlstand brachten. Eine trickreiche Mischung aus religiösem Starrsinn, verbunden mit Widerstand gegen die mächtigen Kirchenvertreter, die sich über sie erheben wollten, hatte das Herrschergeschlecht als Sieger beim Kampf um die Salzrechte hervorgehen lassen, sie erst zu Herzögen gemacht, die viel später von Napoleons Gnaden profitierten und sich zu Königen ernennen ließen. Die starke Veste mitten in der Stadt stand ebenso verlassen wie die wehrhafte Residenz, im Vorgriff auf die Königswürde hatten die Herzöge Schloss Nymphenburg vor den Toren der Stadt nach Versailler Mode erbauen lassen, der König bevorzugte aber derzeit ein klassizistisches Stadtpalais und Bauerngüter im Umland.
Die ehemals gegen die Herrscher aufmüpfigen Patrizier der Hauptstadt waren durch Wohlstand und Pflege dubioser Tätigkeiten, die sie Brauchtum nannten, behäbig geworden, sodass die Zugereisten die Rolle der Aufmüpfigkeit übernommen hatten. Sie siedelten in den neuen Stadtvierteln hinter dem paradiesischen, >Englisch< genannten Park, der nach englischer Mode dem Flussverlauf malerisch folgte, statt Bäume und Sträucher ins Korsett des Barocks zu zwingen. Die behäbigen Bürger, denen ein Charivari an der ledernen Hose mehr zählte als die Schönheit der durch den pfälzischen Gartenarchitekten Skell gezähmten Natur, die nichts Nützliches hervorbrachte, hatten dem seltsamen Treiben des ältlichen, durch Erbfolge zugereisten Potentaten zugesehen und ihn mit Verachtung gestraft. Da sie wenig Neigung verspürten, ihn zu stürzen und davonzujagen, hatten sie das Gedenken an ihn ausgelöscht, Bibliotheken, Museen, Gärten, Plätze, die der Kunstsinnige gestiftet, mit Fantasie benamst, um den Namen des Stifters auszulöschen, dafür im nächsten Jahrhundert ihren ersten König davongejagt, der im Liebeswahn einer Tänzerin verfiel, und in einem plötzlichen Anfall von Romantik den nächsten König zu ihrem Liebling erkoren, einen homosexuellen Verschwender, der ihre Steuergelder für kitschige Bauwerke und schwülstige Musik hinauswarf und zum Helden wurde, weil er nicht schwimmen konnte und im See ertrank.
Bis vor wenigen Jahren hatte dem Land, durch dessen Hauptstadt Sonja lief, ein sanftmütiger Prinzregent vorgestanden, der den Anarchismus mit geistesabwesendem Lächeln besah, die Brettlbühnen mied, auf denen seine Untertanen freche Lieder gegen die Obrigkeit sangen, und die Zensur auf vermeintliche Unanständigkeiten beschränkt, sodass eine Künstlerszene gewachsen und erblüht war, die sich, relativ unbehelligt von Zensur und Behörden, ins neue Jahrhundert dichtete, malte, sang, tanzte und spielte, unterstützt von zugereisten, sogenannten landfremden Elementen, die dem Ruf der Freunde in ein freieres Land als Preußen gern folgten.
Durch diese Stadt also lief Sonja, eine jüdische Russin, oder, wie sie korrigiert hätte, eine russische Jüdin, durch Annektion keine jüdische Polin, und es hätte so schön bleiben können, hätte nicht der ehrgeizige Sohn des sanftmütigen Prinzregenten in der Hoffnung auf blühende Landschaften und Ausweitung seiner Landesgrenzen bis nach Frankreich sich auf einen Krieg eingelassen, der die gutmütigen Untertanen wieder daran erinnert hatte, dass sie starrschädelige Anarchisten und Preußenhasser waren. Seit vier Jahren verdienten westfälische Schlotbarone und preußische Giftgashersteller an diesem Krieg, der von einem >Spaziergang nach Paris< unter den blöden einglasverklebten Augen einer bornierten Generalität zur gewaltigen mörderischen Materialschlacht sich weitete, Blut, Geld, Bauernsöhne verschlingend, trauernde Frauen, Waisen, Krüppel und hungernde Kinder hinterlassend. Trauer und Hunger machen wütend, und so hatte es bereits Hungermärsche, eingeworfene Scheiben, Plünderungen und Streiks gegeben.
Sonja lief. Sie begann ihren Lauf am Kolosseum, einem der Münchner Etablissements, die mit >Wirtschaft< nur unzureichend bezeichnet waren. Die Kolosseums-Bierhalle fasste bequem die Einwohnerzahl eines mittelgroßen Dorfes und gehörte mit regelmäßigen Darbietungen der aufmüpfigen Künstler auf einer gut ausgestatteten Bühne noch zu den kleineren Bierhallen. Andere fassten ohne Weiteres die Einwohnerzahl einer mittleren Kreisstadt, um dem Bedürfnis der Menschen nach Bier, Geselligkeit und Unterhaltung zu dienen. Das Kolosseum lag, von der Brauerei geschickt platziert, zwischen den kleinen Werkstätten der Handwerker, der Gerber, Kutscher und Stellmacher, den schäbigen Arbeiterwohnungen der mittleren Manufakturen und kleineren Industriebetriebe, die sich hier, zwischen den vielen von der Isar abgeleiteten Mühlbächen, mit ihren vielköpfigen Familien angesiedelt hatten.
Sonja verließ das Kolosseum inmitten Hunderter abgezehrter Menschen. Halb verhungerte Jugendliche, Soldaten mit erschreckten Augen, Alte mit hungrigen Blicken, wütende Frauen taumelten, weniger berauscht als betäubt von dünn gebrautem Kriegsbier, hinaus ins Freie, von den Worten der Redner aufgestachelt zur sofortigen Tat.
Morgen würden sie losschlagen, sagte einer von ihnen bedeutungsvoll zu ihr, schob sich die Kappe tiefer über die Augenbrauen und schwang sich auf sein Fahrrad.
Wie gut war die Versammlung verlaufen! Klug hatte Kurt Eisner gesprochen, sachlicher als jeder andere, aber mit derart eigensinnigem Witz, dass er den Volkssängern, die sonst im Kolosseum auftraten, Konkurrenz gemacht hätte. Der überzeugte Sozialist Eisner würde einmal Bayerns erster Ministerpräsident werden, davon war Sonja überzeugt. Er war ein unglaublich kluger Kopf, weniger Politiker als Journalist und Philosoph, sie mochte ihn sehr.
Albert Winter, erfahrener Sozialdemokrat und Vorstand der Münchner USPD, grau meliert, hatte feinsinnig die Sitzung eingeleitet, nachdem die Polizei sie nicht wie gewöhnlich verboten, sondern völlig unerwartet für öffentlich erklärt hatte. Er habe in diesem Moment erfahren, lächelte Winter, dass die interne Parteiversammlung der Unabhängigen Sozialdemokraten öffentlich sei. Wie schade! Er hätte sie sonst beworben, Kaisers Geburtstag hätten bestimmt viele zum Anlass genommen, zur Versammlung zu kommen, denn Eisners Vortrag über die Friedensverhandlungen hätte Tausende interessiert. Kaisers Geburtstag! Sonja sah Schreinermeister Winter vor sich, schwer, ruhig, konzentriert wie beim Hobeln eines gewichtigen Eichenbalkens, feines Lächeln, das die in Fleisch und Blut übergegangene Bewegung begleitete, mit der er den Bleistift hinters Ohr schob, bevor er sich setzte. Keine Chance hatten die Polizeispitzel gehabt, die sich wie immer betont unauffällig unter die Versammelten gemischt hatten. Wie ironisch Eisner jeden einzelnen von ihnen begrüßt hatte! Die Anordnung werde ihn nicht hindern die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit könnten die anwesenden Herren Überwacher ihren Vorgesetzten mitteilen, sie könnten aus seinem Vortrag gewiss manches lernen. Überhaupt und überall, Eisner hatte vergnügt gegrinst, sei die Stunde gekommen, wo man nicht mehr unter vier Augen zu wispern brauche, sondern frei und offen seine Meinung sagen müsse, die sogenannten >Vaterlandsparteien< täten dies ja auch, wenn auch mehr mit Paraden und Uniformkapellen. Und zum Beweis hatte er, Vorstand der USPD, ausgerechnet das Flugblatt der SPD verlesen. Das war nicht verboten.
Sonja lachte, ohne ihren inzwischen rhythmisch sicheren Lauf zu bremsen. Die Forderungen der Sozialdemokraten gingen absolut in Ordnung, nachdem sie ausgerechnet vom konservativen Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger rechts überholt worden waren! Sie forderten freies und geheimes Wahlrecht, Trennung von Kirche und Staat, Abschaffung der Privilegien des Kaisers und des Adels. Hätten die deutschen Sozialdemokraten diese Forderungen vor 1914 durchgesetzt, wäre es vielleicht nicht zum Krieg gekommen, dachte Sonja, nun wurde es höchste Zeit, dem Beispiel der Russen zu folgen.
Sie lief an dem prächtigen Palais vorbei, in dem der russische Botschafter residiert hatte, und sandte mit den Augen einen kleinen ironischen Gruß zu den geschlossenen Läden hinauf, bevor sie in die Barer Straße einbog. Vorbei, Nikolaus II., Kaiser und Autokrat aller Reußen, hatte abgedankt, mit dem schlimmsten...
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