Schweitzer Fachinformationen
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"Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts" ist der Titel eines ersten, 2000 erschienenen Bandes mit Beiträgen zur Juristischen Zeitgeschichte.
An den Modellen des deutschen Kolonialstrafrechts als Teil des europäischen Kolonialstrafrechts, des Strafrechts des 1. Weltkrieges, des NS-Strafrechts, des „Rechts" der Tötung Geisteskranker (Binding/Hoche, die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920) wird belegt, wie schnell, fast mühelos rechtsstaatliches Strafrecht zerbrochen werden kann.
Keine Antwort gibt dieser erste Band auf die dringliche Frage, welche Kräfte es sind, die das rechtsstaatliche Strafrecht zerstören. Der vorliegende zweite Band mit neueren Beiträgen zur Juristischen Zeitgeschichte versucht diese Antwort: Es ist die jeweilige Politik, die sich des Strafrechts bemächtigt und dabei die rechtsstaatlichen Strukturen zerschlägt. Durch alle Beiträge zieht sich die Überzeugung, dass Strafrecht und Politik nicht zu trennen sind. Strafrecht ist Politik.
Das Schweitzer Vademecum ist ein renommierter Fachkatalog, der speziell die relevanten Angebote für juristisch und steuerrechtlich Interessierte sortiert, aufbereitet und seit über 100 Jahren der Orientierung dient. Das Schweitzer Vademecum beinhaltet Bücher, Zeitschriften, Datenbanken, Loseblattwerke aus dem deutschsprachigen In- und Ausland und ist seit 1997 wichtiger Bestandteil des Schweitzer Webshops.
Autor
Prof. em. Dr. jur. Wolfgang Naucke, Kronberg
Für das Strafrecht ist die Fragestellung des Streitgesprächs vielleicht zu eng. Ein Fortwirken der "nationalsozialistischen Weltanschauung" im strikten Sinne kennt das Strafrecht der Bundesrepublik nicht. Wissenschaftliche und praktische Beruhigung ("das Strafrecht 1933-45 war Entartung; alles ist vorbei") kann gleichwohl nicht eintreten. Es ist möglich, daß das Strafrecht der NS-Zeit nicht isolierte Perversion, sondern Anwendungsfall moderner Kriminalpolitik gewesen ist. Der eigentliche NS-Anteil im Strafrecht war dann sicher eine nicht hinwegzudenkende, aber keine notwendige Bedingung für die Erscheinungsform des NS-Strafrechts. Die Linien der Strafrechtsentwicklung sind länger und durchgehender. Das NS-Strafrecht ist ein ständig irritierender, untrennbarer Teil modernen Strafrechts. Es gibt eine Affinität zwischen dem modernen Strafrecht und dem politischen Denken 1933-45. Als Material geht es dabei nicht um die leicht herauslösbaren und dann tilgbaren, biederen (wiewohl gefährlichen) NS-Schlagworte, die im Strafrecht nach 1933 auftauchen ("Führerstrafrecht", "Blutschutzstrafrecht", "volksnahes Strafrecht"); sondern es geht um die durchgehenden Linien im modernen Strafrecht, um Linien, die das Strafrecht des 1. Weltkrieges, das Strafrecht der Revolution 1918/19, das NS-Strafrecht, das Strafrecht der Alliierten 1945-49, das Strafrecht der BRD und der DDR gleichermaßen tragen und verbinden, alle diese Strafrechte als Ausprägungen oder Ausnutzungen einer immer gleichen Grundlage auffaßbar machen.
Das Thema ist nicht Eigentum rechtshistorischer Experten, sondern Teil aktuellen Strafrechtsdenkens in Praxis und Wissenschaft.
Es ist fraglich, ob man wissenschaftlich das NS-Strafrecht der normalen Rechtsgeschichte überlassen darf. Wie unterschiedlich diese Rechtsgeschichte auch verfahren mag, stets faßt sie ihren Gegenstand eben als "Geschichte", als vergangen, geschehen und abgeschlossen auf. Für das Strafrecht 1933-45 ist diese historische Annäherung zu begrenzt und zu beschönigend. Die in den Jahren 1933-45 vergangenen ("historischen") Strafrechtstexte und strafrechtlichen Verfahrensweisen sind sicher die Veranlassung für die Erörterung des NS-Strafrechts. Die Frage "Was ist als Strafrecht 1933-45 geschehen?", ist aber oberflächlich und inhuman. Diese Frage kommt nicht darum herum, dem NS-Strafrecht das Etikett des Rechtlichen zuzugestehen. Dabei wird aber ein sehr verkürzter Begriff des Rechtlichen benutzt. Der juristische Begriff des Rechtlichen drängt sich durch. Juristen nehmen das Recht, auch das NS-Recht, als ein intellektuelles Produkt, behandeln es als ein begriffliches Wesen oder Mittel, verobjektivieren es damit und trennen es von der Banalität und Bösartigkeit der Macht. Das Entscheidende am NS-Strafrecht 1933-45 ist, daß es dreist damit rechnete und rechnen konnte, Politik in Recht überführen und damit eine besonders unwiderstehliche Form der Macht schaffen zu können. Wenn NS-Strafrecht "geschichtlich" behandelt werden soll, dann nicht als Rechtsgeschichte, sondern als Machtgeschichte. Jedenfalls braucht die Erforschung des NS-Rechts "einen neuen Typus rechtshistorischer Forschung"1.
Das NS-Strafrecht ist also nicht allein die Summe von Strafrechtstexten und wirklichen Bestrafungsvorgängen 1933-45. Der Gegenstand "NS-Strafrecht" ist viel weiter, ist die Teilgeschichte eines machtnahen, die Macht suchenden Rechtsbegriffs, ist Beispiel für die Ausformung einer allgemeinen Funktion des staatlichen Strafens, einer Funktion, die dem Jahr 1933 überlassen und die nach 1945 dem staatlichen Strafen nicht wieder abgenommen wird. Die Beschäftigung mit dem NS-Strafrecht ist nicht rechtshistorische Arbeit im traditionellen Sinne, sondern ist die besorgte Erforschung der Möglichkeiten modernen staatlichen Strafens, der Möglichkeiten, die 1933 nicht erfunden und die 1945 nicht vernichtet worden sind. Die Strafrechtswissenschaft, die sich mit dem NS-Strafrecht befaßt, befaßt sich nicht mit Rechtsgeschichte (auch nicht mit strafrechtlicher Zeitgeschichte), sondern mit strafrechtlicher Gegenwart.
Zugeschärft muß die Forschungsfrage lauten: Ist das NS-Strafrecht eine Perversion des normalen, guten Strafrechts, oder eine ständig drohende Möglichkeit des normalen, machtgeneigten Strafrechts (also, solange das moderne Strafrecht nicht neu gedacht ist, selbst normales Strafrecht)? Das Muster "NS-Strafrecht als pervertiertes Strafrecht" beherrscht die Szene. Ehe ich Einwände formuliere, zwei Beispiele.
Die Wahlfeststellung im Strafrecht ist ein fast unausschöpfbarer moderner wissenschaftlicher Gegenstand, für Studenten schwer begreifbar. Die beste Zusammenfassung dieses Instituts als Repetitorium ohne Ironie jedem Studenten zu empfehlen ist § 2b StGB in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs v. 28. Juni 1935. Die juristisch-professionell kaum übertreffbare Fassung lautet:
Verurteilung kraft Wahlfeststellung
Steht fest, daß jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hat, ist aber eine Tatfeststellung nur wahlweise möglich, so ist der Täter aus dem mildesten Gesetz zu bestrafen.
Entschlossen in dieses Gesetz von 1935 übernommen wurde freilich nur, was in der Sache vorher anerkannt war2.§ 2b StGB 1935 ist durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 v. 30. Januar 1946 "ausdrücklich" (Art. I) aufgehoben worden. Heute wird die Wahlfeststellung als unproblematisch praktiziert, wissenschaftlich abgehandelt als Anhang zu § 1 StGB (nullum crimen sine lege). Etwas verlegen wird registriert, daß "dieser für die Praxis wichtige Problemkreis von 1935 . bis 1946 ... gesetzlich geregelt" war3. Verlegen und übertrieben gelehrt klingt auch die moderne Rechtfertigung des Instituts; es sei ein gemischt materiellrechtlich-verfahrensrechtliches Institut, das mit § 1 StGB vereinbar sei, kriminalpolitischen Bedürfnissen und präventiven Erwägungen entspreche4. Bei v. Hippel 1930 liest sich das klarer: "der Satz nullum crimen sine lege schafft kein Privileg der Straflosigkeit für Verbrecher, das ebenso sinnlos wie staatsgefährdend wäre..."5. Das ist die durchgehende strafrechtliche Linie für alle Kriminalpolitiken, rechte, linke und mittlere: das Strafrecht als sinnvolle Prävention zur Abwendung von Staatsgefährdungen. Diese Linie veranlaßt stets Ausdehnung und flexible staatspolitische Anpassung des Strafrechts. Der naheliegende Gedanke, einige würdevolle Freisprüche, weil das Recht es so will, gefährdeten Präventionsergebnisse und Staatssicherheit nicht, hat in dieser Linie keine Aussicht, gehört zu werden. Diese Linie ist charakterisiert durch ihre kleinliche Suche nach Strafbarkeitslücken und durch das Schließen dieser Lücken mit Hilfe gescheiter dogmatischer Figuren.
In dem Beitrag zu dieser Vorlesungsreihe "Verbrechensbekämpfung im Nationalsozialismus" hat Monika Frommel vorgeschlagen, für die historische Forschung nicht davon auszugehen, daß staatliche Prävention durch Strafen stets einer illiberalen Logik folge; es müßten "liberale und illiberale Präventionsmodelle" unterschieden werden. Ob diese Unterscheidung hilft, ist nicht nur eine Frage für die historische Forschung, vielmehr ist dies die wichtigste Frage der aktuellen praktischen Kriminalpolitik6. Die Unterscheidung aufnehmend meine ich, daß staatliche Präventionsmodelle stets illiberal sind. akademische Präventionsmodelle mögen liberal angelegt sein, doch sind sie praktisch bedeutungslos, erweisen sich oft z.B. bei v. Liszt selbst in der liberalen Anlage noch als verpuppte Illiberalität.
Das 2. Beispiel liegt ganz in der Nähe. Alle Kennzeichnungen des NS-Strafrechts stimmen darin überein, daß sich dieses Strafrecht polizeilichen Zwecken dienstbar gemacht hat: "Verpolizeilichung des Strafrechts". Die drei ausführlichsten Monographien der letzten Jahre zum NS-Strafrecht von Lothar Gruchmann, , Gerhard Werle und Stefan Werner7 haben zu diesem Thema einen festen Befund geschaffen. Doch dieser Befund muß ergänzt werden. Werle und Werner haben dies ausdrücklich eingeräumt. Warum untersucht man nur das NS-Strafrecht auf Verpolizeilichungs-Tendenzen?
Würde man die Untersuchung ausdehnen auf die Zeit vor 1933 und nach 1945, man käme wieder auf eine langfristige Linie, eben jene der stetigen Verpolizeilichung des Strafrechts. Aus dem aufgeklärten Strafrecht übernimmt das nachaufklärerische Strafrecht des 19. Jahrhunderts als festes Strafziel die Verbrechensbekämpfung, den Beitrag des Strafrechts zur inneren und äußeren Sicherheit des Gemeinwesens. Polizeiliche und strafende Staatsziele sind nicht zu unterscheiden8. In der wissenschaftlichen Diskussion wird das undeutlich gesehen, weil diese Diskussion sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts ab auf selbst geschaffene strafrechtliche Randprobleme im Bereich der allgemeinen Strafrechtslehre zurückzieht, dabei freilich immer noch die fortschreitende Verpolizeilichung des Strafrechts spiegelt, vor allem in den Straftheoriedebatten. Feuerbach kann als Hauptbeleg gelten.
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