Kapitel 1
Gender, Sprache und Wirklichkeit
Hätte man vor 50 Jahren in Deutschland nach "Gender" gefragt, hätte fast niemand darauf eine Antwort geben können. Heute ist das anders. Der Begriff "Gender" ist heute aus dem deutschen Sprachraum nicht mehr wegzudenken. "Gendern", "Gendersprache", "Genderstern", "Gender_Gap", nur wenige dürften von diesen Ausdrücken noch nie etwas gehört haben. Doch was ist "Gender(n)"?
Das englische Wort "Gender" heißt auf Deutsch "Geschlecht". Im Gegensatz zur deutschen Sprache gibt es im Englischen zwei Ausdrücke für "Geschlecht": Sex und Gender. Sex ist das biologische Geschlecht, also das Geschlecht, das auch die meisten Deutschen unter "Geschlecht" verstehen würden. Gender hingegen wird im Deutschen meist als "soziales Geschlecht" bezeichnet. Doch was muss man sich darunter vorstellen?
Es geht bei "Gender" um sexuelle Orientierung, um Geschlechtsidentität, aber auch um das Rollenverständnis der Geschlechter. Bei den meisten Menschen ist das biologische Geschlecht verknüpft mit der Selbstidentifikation mit dem eigenen Geschlecht. Biologische Frauen fühlen sich als Frauen und biologische Männer fühlen sich als Männer. Diese Menschen werden auch als cis-Gender oder Cisgender bezeichnet. Transgender Menschen sind biologisch das eine Geschlecht, sie fühlen sich aber als das jeweils andere Geschlecht. Intersex-Personen sind biologisch weder eindeutig weiblich oder männlich, sondern besitzen Merkmale beider biologischen Geschlechter. Diese Menschen wurden früher auch als Hermaphroditen bezeichnet.
Die sexuelle Orientierung bezeichnet die Ausrichtung zwischen den Geschlechtern. Bei heterosexueller Orientierung fühlen sich Menschen zum jeweils anderen Geschlecht hingezogen, bei homosexueller Orientierung zum eigenen, gleichen Geschlecht. Es beschreibt also lesbische und schwule Personen. Daneben gibt es noch die Gruppe der Bisexuellen, deren sexuelle Orientierung zu beiden Geschlechtern besteht und schließlich Menschen, die sich als Queer bezeichnen, die sich in keine der nicht-heterosexuellen Kategorien einordnen lassen wollen. Ein interessantes, von der Tagesschau-Redaktion produziertes Kurz-Video erklärt dies sehr anschaulich.2 Gender beinhaltet aber auch das soziale Rollenverständnis: Was ist "typisch" für das jeweilige Geschlecht, bezüglich Kleidung, Berufsbild etc. und ist diese "Typisierung" noch zeitgemäß?
Was hat das Ganze mit der Sprache zu tun? Seit den 50er Jahren wird diskutiert, inwieweit das Rollenverständnis der Geschlechter nicht nur durch das biologische Geschlecht, sondern auch durch die frühkindliche Erziehung und andere äußere Faktoren beeinflusst werden. Von Simone de Beauvoir, einer französischen Schriftstellerin, Philosophin und Feministin stammt der Satz: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es."3
Der neuseeländische Sexualwissenschaftler und Psychologe John Money, selbst bisexuell, ging davon aus,4 .
"dass es keinerlei wesensmäßige Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gäbe und Männlichkeit und Weiblichkeit nur erlernte Geschlechtsrollen seien"
und die amerikanische feministische Philosophin Judith Butler sprach von einer "Zuweisung" des Geschlechts bei der Geburt:5
"Geschlechtsnormen wirken, indem sie die Verkörperung bestimmter Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit verlangen [.] indem ein 'Zum-Mädchen-Werden' erzwungen wird",
sagte sie sinngemäß.6 Diese "Zuweisungshypothese" ist in feministischen Kreisen weit verbreitet, und wird z. B. von dem Diplombiologen und Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voss unter der Überschrift "Biologisches Geschlecht ist gemacht - und das in vielfältigen Ausformungen" so formuliert:7
"Biologisches Geschlecht ist gesellschaftlich hergestellt. Menschen werden in Gesellschaft hineingeboren und lernen in ihr; ihr Denk- und Sagbares ist damit durch Gesellschaft (u.a. Sprache) beschränkt. Das gilt auch für die Rede über 'biologisches Geschlecht'."
Als Vater eines Sohnes und einer Tochter sind meine Erfahrungen ganz andere. Die frühkindlichen Verhaltensmuster meiner Kinder waren sehr unterschiedlich, entsprachen ihrem biologischen Geschlecht und wurden ihnen keineswegs von uns Eltern anerzogen. Herr Voss würde dem natürlich widersprechen. Ich halte die Aussage von Voss jedoch für völlig falsch. Als Biologe sollte er die biologische Geschlechtsentwicklung kennen, insbesondere die Wirkung der Geschlechtshormone auf den frühkindlichen Körper.
Nicht nur seine Thesen, sondern auch die namhafter Gendertheorie-Begründer werden von der überwältigenden Mehrheit der auf diesem Gebiet forschenden Naturwissenschaftler nicht ernst genommen, da sie den Erkenntnissen der Entwicklungs- und Evolutionsbiologie fundamental widersprechen.8 Aus diesem Grund stehen diese naturwissenschaftlichen Disziplinen bei nicht-naturwissenschaftlichen Gender-Forschern auch unter Ideologie-Verdacht, wohingegen Letztere sich selbstverständlich "völlig frei von Ideologie" sehen.
Eine der Kernthesen der Genderphilosophie, die Herr Voss und andere vertreten, besagt sinngemäß, dass Sprache ein (mit-) prägendes Element der Geschlechterentwicklung sei. Deshalb müsse sie der Unterschiedlichkeit der Geschlechter und ihrer gesellschaftlichen Rollen Rechnung tragen. Mit anderen Worten, Sprache beeinflusse die Ausprägung des "sozialen Geschlechts", also des Gender. Dieses Argument ist eine wesentliche Rechtfertigung für eine "gendergerechte" oder "gendersensible" Sprache. Man kann zu genderphilosophischen Thesen stehen, wie man will, aber es ist schon interessant, nein beängstigend, festzustellen, dass Soziologen, Sexologen, Philosophen und Erziehungswissenschaftlern, ja sogar Mathematikern9, 10 heutzutage in Sachen Geschlechtsentwicklung eine höhere Kompetenz zugestanden wird als Biologen.
Wenn man im Internet nach "Gendersprache" sucht - ein Ausdruck, den die Befürworter dieser Sprechweise nicht besonders mögen - wird man sehr bald auf Seiten stoßen, die "gendergerechte" Sprache in ihrem Text beinhalten. Das impliziert, dass die Standardsprache "ungerecht" sei. Damit wird auch gleich eine Begründung geliefert, warum man die Gendersprache verwenden solle: wegen der Gerechtigkeit.
Nun stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Sprache überhaupt gerecht oder ungerecht sein kann. Gerecht oder ungerecht können die Verhältnisse sein, die die Sprache beschreibt oder das, was der Sprecher damit ausdrücken will, aber die Sprache selbst? Zumindest muss bezweifelt werden, ob typografische Zeichen, die in die Grammatik einer Sprache eingreifen, auf die "Gerechtigkeit" dieser Sprache irgendeinen Einfluss haben. Wie fast immer, gibt es auch dazu gegensätzliche Meinungen. Angebliche Beweise für die Ungerechtigkeit der bisherigen Sprache werden aus den Genderstudien abgeleitet, auf die ich in Kapitel 2.3 näher eingehen werde.
Frauen seien, vor allem durch das generische Maskulinum, in der deutschen Sprache bisher "unsichtbar" geblieben, so die Feministin und Mitbegründerin der "feministischen Linguistik" Luise F. Pusch. Eben dieser Umstand sei u. a. für die fehlende oder zu geringe Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft verantwortlich zu machen. Es gehe darum, die deutsche Sprache "gerecht" zu machen, denn unzählige Strukturen und Elemente des Deutschen seien "von Männern für Männer gemacht", so Frau Pusch. Das Ziel müsse daher sein, die deutsche Sprache einer "Feminisierung" zu unterziehen und sie dadurch zu "sanieren" und zu "humanisieren", wie Pusch sich ausdrückt.
Die in den USA promovierte und später in Deutschland lehrende feministische Sprachwissenschaftlerin Senta Trömel-Plötz diagnostizierte sogar "Gewalt durch Sprache"11 und forderte, die deutsche Sprache müsse deshalb in eine "Frauensprache" umgewandelt werden.12 Zur Einordnung ihrer These möchte ich an dieser Stelle ein Zitat aus einem 1998 aufgenommenen Interview mit Frau Trömel-Plötz wiedergeben, das aus meiner Sicht neben einem kritischen Blick auf das sprachliche Umfeld an Universitäten insbesondere ihre ablehnende Haltung gegenüber Männern im Allgemeinen zeigt. Zum Begriff "feministische Linguistik" sagte sie:
"Heute gibt es feministische Linguistik an deutschen Hochschulen kaum noch. Das heißt jetzt »linguistische Frauenforschung« oder »Gender Studies« das ist den Herren noch lieber, dann sind sie das Wort »Frau« ganz...