Ungewöhnlich stark verkatert humpelte Frank kurz nach sieben Uhr morgens ins Haus und Roscoe folgte ihm vorsichtshalber. Sein Herrchen verhielt sich seltsam, das Licht überall war fremd und die Welt roch entschieden anders als noch vor ein oder zwei Nächten. Reste der ineinander laufenden Träume pulsierten im Takt der Kopfschmerzen, sein Mund schmeckte bitter und wie Asche. Kaffee, fragte er sich, oder gleich weitermachen? Vielleicht zuerst duschen? Duschen war die Idee des Tages. Wenn man unter den Achseln nicht stinkt, war der Tag gerettet.
Ich bin multitaskingfähig, dachte er gallig, warf die Kaffeemaschine an, zog sich in der Küche nackt aus und streckte sich, ließ die Gelenke knacken und krachen. Die Abfolge der Gelenkskracher brachte ihm zum Lachen - irgendwie war das Altwerden doch ein Witz, wenn auch kein besonders guter. Man musste ihn nur verstehen, um über ihn lachen zu können. In der Dusche putzte er sich die Zähne, spülte den Mund mit Listerine und schrubbte sich mit Duschgel und einem Massageschwamm. Er war nicht sicher, ob es wirklich half, oder sich das nur einredete, aber nach der Schrubberei unter der heißen Dusche ging es ihm besser, wenn er einen Kater hatte. Kaffee und etwas Fettes essen - das half. Und Aspirin direkt. Das war die Reihenfolge: Er ging in die Küche, holte das Aspirin, riss die Packung auf und schüttete sich das Granulat in den Mund. Dann trank er eine halbe Flasche Mineralwasser ohne Kohlensäure, drückte sich einen Espresso runter und machte den Toaster an. Während sich der Toaster heißtickte, schlug Frank Eier in die Pfanne und gab Serrano dazu.
Mit dem Frühstück ging er hinaus auf die Terrasse, setzte sich an den Tisch. Aß, zog das MacBook heran und wollte ein paar Nachrichtenseiten öffnen: www.derstandard.at, www.krone.at, www.diepresse.com, www.elpais.com ... Aber alles, was er aufbekam, waren die zwei Nachrichtenseiten, die hier auf Gran Canaria auf Servern gehostet wurden. Auch Google streikte, www.duckduckgo.com, www.bing.com, nichts ging, jedes Mal meldete der Browser, dass die Seite vorübergehend nicht erreichbar sei, versuchen Sie es später noch mal.
"Später, am Arsch!", fluchte Frank und versuchte noch ein paar andere Seiten. Die Internetverbindung war da, weil er auf kanarische Webseiten zugreifen konnte, aber alles andere war tot wie ein Stein. Mit der linken Hand klappte er das IBook zu, mit der Rechten griff er sich den Teller, auf dem nur noch ein Fettfilm davon zeugte, dass da mal ein Frühstück drauf war, trug ihn in die Küche und gab ihn in den Geschirrspüler. Roscoe schlich ihm nach, die Rute zwischen die Hinterbeine geklemmt. Frank sah das, zog aber keine Schlüsse draus. Im spartanischen, aber gemütlichen Wohnzimmer, das im Kolonialstil eingerichtet war, nahm er sein Smartphone vom Rauchtisch und stellte es an. Es dauerte eine Weile, aber als es im Netz eingebucht war, kam eine wahre Klingelorgie, die ihn auf vierzehn verpasste Anrufe aufmerksam machte. Die meisten davon waren von der wahnsinnigen Ottilie, die ihn vorgestern gleich sieben Mal hintereinander angerufen hatte. Fünf waren von Franz und dreimal hatte Daniel angerufen. Das sah er an den Nummern. Ohne sich mit den Anrufen von Ottilie und Franz zu befassen, wählte er die Nummer von seinem Voicemail-Dienst und fand dort eine Nachricht von Daniel. Er sprach nicht, er schrie: "Wo zum Teufel bist du? Heb ab, heb ab, heb ab! Ich weiß nicht was ich machen soll, ich fliehe mit Rosalia aus Las Palmas Richtung Süden und ich hab einen Scheiß von Ahnung, ob das etwas bringt. Wir sind auf einer Insel Herrgott und da stürzen Flugzeuge ins Meer und Hochhäuser stehen auf einmal vor der Küste in der Brandung. Überall Panik und die Leute trampeln sich tot! Wo bist du, wenn ich dich brauche? Ruf mich an!"
Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Frank das Smartphone, so als ob es ihn ins Ohr gebissen hätte. Hörte die Nachricht noch einmal an und stellte fest, dass Daniel nicht panisch klang, sondern völlig außer Atem. Er war wütend oder aufgeregt. Oder beides. Hat er Drogen genommen? Die Roten? Frank drehte sich im Kreis und spürte ein intensives Unbehagen, in den Himmel zu sehen. Schwere Schatten rollten über die bergige Landschaft. Was in Gottes Namen habe ich die letzten Tage getan, um den Weltuntergang zu verschlafen? Gut, ich habe meine Erinnerungen niedergeschrieben. Richards Tod, meine Übersiedlung. Zuwenig über Darek, der mir so sehr geholfen hat. Und ich habe am Roman weitergearbeitet. Wenns mal rinnt, dann rinnt es ohne Unterlass, ha!
Roscoe knurrt und winselt - was ist denn los?
Etwas veränderte sich. Das Licht hatte eine neue und unbekannte Qualität, es war, als ob es nicht vom Himmel auf die Erde fiel, sondern als ob es von Metall reflektiert würde. Als er durchs Haus nach vorne ging, dachte Frank, dass er hier drinnen bleiben könnte und abwarten. Dann dachte er aber, ach Scheiße, und ging nach vorne, öffnete die Haustür. Keine Milch, keine Brote, keine Zeitung, nichts. Bei der üblichen Zuverlässigkeit von Carmelo war das schon einmal ein Indiz dafür, dass etwas nicht stimmte. Musste gar nichts heißen: Er war krank und lag im Bett oder fickte ein Mädchen oder einen Mann und hatte seinen Spaß, nur nicht mit ihm, dem es eigentlich am meisten von allen zustand. Scheiße.
Wenn es ihm nicht möglich war, zu kommen, würde seine Mutter herauffahren, und wenn die verhindert war, dann würde vermutlich der Großvater mit dem uralten Motorrad herauftuckern, um die Waren auszuliefern. Frank stand still und lauschte. Die Lautlosigkeit war ohrenbetäubend und wurde von einem hauchdünnen Winseln getragen, dem Klang des Windes, der über die Felsen ins Tal hinab strich. Keine Motoren, kein Gehämmer, keine Stimmen, kein Geklingel, nichts. Er drehte sich um und wollte schon ins Haus gehen, als Roscoe auf einmal neben ihm stand, sich an seine Wade schmiegte und zitternd heulte. Unter dem Heulen seines Hundes war ein sonores Donnern zu hören, das von einem hohen, nervenden Pfeifen begleitet wurde.
Jetzt sah Frank doch in den Himmel und suchte ihn ab, und als er das tat, bückte er sich und zog Roscoe sanft und beruhigend am Ohr und hauchte: "Oh Kacke, Mann!"
Direkt über ihm sah der Himmel aus, als würden sich zwei Universen überlagern und durchdringen. Das untere war eine überbelichtete Version eines normalen Wolkenhimmels voller rührender, Fäden ziehender Wolken, die sich ineinanderschlangen und Strudel bildeten, die verkehrt herum die Luft der Erde in den totschwarzen Himmel über sich saugten. Dahinter, hinter dem porösen Rest des Erdhimmels lagen Sternennebel und Spiralgalaxien in müßiger Drehung. Blitze fuhren purpurn herab und gewaltige, himmeltiefe Donnerschläge folgten so schnell, dass sie die halbe Blindheit auffüllten, die die Blitze hinterließen.
Das fauchende Dröhnen kam näher und Frank lief um das Haus zur Rückseite. Und von hier konnte er sehen, woher das Heulen kam. Es war ein Passagierflugzeug, das ungewöhnlich tief und taumelnd daher gerast kam, eine Maschine der Virgin Airways. Es sank und kam direkt auf ihn zu. Mit einem Klirren erstarrte Frank und stand mit offenem Mund auf seiner Terrasse, Roscoe bellte und sprang an ihm hoch wie um ihn umzustoßen. Im Näherkommen änderte sich das Tosen und Donnern in Lautstärke und Tonhöhe. Das Pfeifen wurde heller und durchdringender, das Donnern tiefer und tosender. Die Boeing 767 raste in rund einhundert Meter Höhe über die Finca hinweg und Frank konnte die blinkenden Lichter sehen, das Donnern der Triebwerke verstopfte ihm die Ohren. Das Fahrwerk war nicht ausgefahren, fiel ihm auf. Mit der rechten Flügelspitze touchierte die Boeing den Roque Nublo. Die Tragfläche riss mit einem machtvollen Knall ab, Funken und Feuer spritzten, und da verschwand das Flugzeug auch schon im nördlichen Tal hinter dem Roque mit prasselndem Krach in der Nähe der frisch geteerten Bundesstraße GC-500. Frank lief "Oh mein Gott!", schreiend ins Haus, schnappte die Autoschlüssel, steckte das Handy ein, das er noch immer in der Hand hielt, und beschloss: Ich kümmere mich jetzt mal nicht um den irren Himmel. Und ich schau, ob ich helfen kann. Der Himmel kann warten, leck mich am Arsch!
Im Auto verband sich das Smartphone via Bluetooth mit dem Autoradio. Roscoe sprang über ihn und platzierte sich auf dem Beifahrersitz, in dem er sich mit den Hinterläufen gegen die Lehne stemmte und mit spitzen Ohren höchste Aufmerksamkeit signalisierte. Frank startete den Motor und raste Richtung Tejeda, um von dort über die GC-608 nach Norden zu kommen - die einzige Möglichkeit, schnell die Stelle zu erreichen, wo er das abgestürzte Flugzeug vermutete. Das Telefon schnarrte. Frank nahm das Gespräch an. Es war Daniel. "Wo bist? Um Gottes willen, Frank, wo treibst du dich rum?"
"Ich bin im Auto und fahre gerade auf der 608 um den Roque herum. Da ist ein Flugzeug abgestürzt und ich versuche zu helfen und ..."
"Wir sind auch fast da. Wir fahren mit ihrem Motorrad. Sie fährt, wir ..."
"Was zum Teufel ist da los?"
"Keine Ahnung, aber es sieht so aus, als ob die ganze Welt einen...