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Was geschah alljährlich während der geheimen Rituale im Demeter-Tempel von Eleusis?
Jeder Bewohner des Stadtstaats konnte - unter der Bedingung, Griechisch zu sprechen und keinen Mord begangen zu haben - in die Mysterien von Eleusis eingeweiht werden. Es war ein populärer Kult, der sich an jeden wendet, Mann oder Frau, arm oder reich, an Bürger, Metöken[1] oder Fremde, man kann sich vorstellen, dass im Laufe der Jahrhunderte die meisten von ihnen Zugang bekamen. Doch wissen wir auch heute noch nicht genau, worin diese Mysterien bestanden. Da sie im Laufe von neun Tagen im Monat Boedromion, zwischen dem 21. August und dem 21. September, vollzogen wurden, handelte es sich zweifellos um ein Erntefest, einen Hymnus an das Wunder des Getreides, welches dem Inneren der Erde Verzehrbares entreißt.
Im Folgenden wollen wir etwas Licht in das Mysterium bringen, indem wir zwei Untersuchungen miteinander kreuzen, eine über die plastischen Darstellungen und eine andere im eigentlichen Sinne semantische Untersuchung über den Ursprung und die Bedeutung einiger Wörter.
Baubo, Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung
Die Statuetten
1898 haben deutsche Archäologen in Priene,[2] genauer gesagt in den Ruinen eines der Demeter geweihten Tempels aus dem 4. Jhd. v. Chr., seltsam aussehende Statuetten entdeckt: mit einem großen Kopf, der ohne Rumpf dazwischen auf einem Paar Beinen aufsitzt, mit Augen an der Stelle der Brüste, einem Mund unmittelbar über der sichtbaren Einkerbung eines weiblichen Geschlechts, und Armen dort, wo man Ohren erwarten würde. 1898 weiß man noch nicht, welchen Namen man ihnen geben sollte.
1901 stößt Hermann Diels[3] bei der Edition der Fragmente des Empedokles auf ein Wort, das er nicht präzise zu definieren vermag: Baubo.
Der Mythos
Homer beschreibt in seiner Hymne An Demeter die Göttin als Mutter, die »ausschließlich ihrer Tochter zugewandt« ist?. Eines Tages aber verlässt jene, die Persephone werden sollte, ihre Mutter, um wunderbare Blumen, herrliche Iris, Hyazinthen und Narzissen zu pflücken?. Da tat sich plötzlich Nysas' Erde auf, um den Wagen des Aïdoneus (Hades) durchzulassen, der das Mädchen entführte und in die Tiefen der Totenwelt, seines Reichs, verschleppte. Als ihre Mutter ihren Schreckensschrei hörte, begriff sie augenblicklich, dass ihrer Tochter ein Unglück widerfahren war. Noch bevor sie wusste, was genau geschehen war, wurde sie von Trauer und Angst überwältigt.
Ihr aber ward das Gemüt noch weher vom grausigen Elend [.]. [.] und saß so / Voller Betrübnis lang auf dem Sitz und ließ nichts verlauten. / Keinen begrüßte sie, weder mit Worten noch mit Gebärden; / ohne zu lächeln, ohne zu essen, ohne zu trinken, / Voller Sehnsucht und Harm um die tiefgegürtete Tochter [.][4]
Da Demeter untröstlich war, verdorrte die Erde und keinerlei Vegetation spross mehr?. Demeters Trauer manifestierte sich in der Verkümmerung der Erde.
Nun kommt ein bestimmtes Verhalten der Dienerin der Stätte ins Spiel, die Homer Iambe nennt, die bei Demeter für einen Stimmungswandel sorgen wird:
[.] bis endlich die trefflich erfahrene Iambe mit Scherzen, / oft auch mit leisem Spott die Waltende, Heilige stimmte, / Endlich zu lächeln, zu lachen, ihr gütiges Herz zu erschließen.[5]
»Scherze«, »Spott«: Homer belässt es in Bezug auf das wirkliche Verhalten der Dienerin bei Anspielungen?.
In der Version des Clemens von Alexandria, eines Kirchenvaters aus dem 2. Jahrhundert, gelangt die trauernde Demeter auch nach Eleusis. Dort bringt eine Dienerin, die dieses Mal Baubo heißt, sie mit einer magischen Geste zunächst zum Lächeln und dann zum Lachen, wodurch das Leben auf Erden neu geboren werden kann. Ich zitiere Clemens:
[.] da [deckt] Baubo [.] ihre Scham auf und zeigt sie der Göttin; Deo aber freut sich an dem Anblick und nimmt jetzt endlich doch, erfreut durch den Anblick, den Trank an.[6]
Und Clemens empört sich: Das sind die geheimen Mysterien der Athener!
Er dachte zweifellos an sexuelle Zurschaustellungen, heilige Hochzeiten, das heißt an junge Menschen, die in den Furchen der gepflügten Erde Gottheiten darstellen, vielleicht aber auch an simulierten Sex mit Tieren, insbesondere Mutterschweinen.
Die Wörter
Das von Hermann Diels entdeckte Wort Baubo besitzt mehrere Bedeutungen: Baubo ist der Name einer Person, die im Bericht über den Besuch Demeters in Eleusis auftaucht und bei Homer den Namen Iambe trug. Baubo ist aber auch ein Allgemeinbegriff, der »Vulva« bedeutet. Und Baubon, das offensichtlich von derselben Wurzel abstammt, bedeutet »Scheinphallus« (aus Leder). Daher die Idee, dass Baubo eine Personifikation des weiblichen Geschlechts sein könnte, wie Phallos die Personifikation des männlichen Geschlechts ist.
Daraus ergibt sich nun eines der von den Archäologen entdeckten grundlegenden Elemente des Ritus: Terrakotta-Statuetten, die eine Geschlechts-Person, eine personifizierte Vulva darstellen, mit anderen Worten »Madame Vulva«?.
Das ist meiner Ansicht nach das erste Geheimnis von Eleusis: ein Ritus, der einer weiblichen Gottheit, genannt Baubo, »die heitere Vulva«, als Heilmittel gegen Trockenheit und Winter dargebracht wird.
Das zweite Geheimnis lautet: Persephone, die Tochter, um die Demeter, durch ganz Griechenland irrend, trauert, ist ein Getreidekorn, das, scheinbar tot und gleichsam vom Gott der Unterwelt geraubt, traurig in seiner Schale gefangen ist, aber nach vier Monaten in seiner winterlichen Bleibe von neuem heiter dem Licht entgegenstrebt?.
Mehrere Quellen lassen vermuten, dass man während dieser Riten auch Gebäck in Form von Vulven zu sich nahm. Oder dass in Momenten der Ekstase in einer Ackerfurche die Paarung von Heroen nachgeahmt wurde, die Gottheiten darstellen sollten. Auf diese Weise eignete man sich einen Teil der Fruchtbarkeit der Götter an, die zwischen der Fruchtbarkeit der Menschen und der Fruchtbarkeit der Erde vermittelt.
Wie hat man den Scherz der Baubo, die vor Demeter ihre Vulva enthüllt, zu verstehen?
Sollte Gaia, unsere Mutter Erde, personifiziert durch Demeter, nur beim Anblick der heiteren Fruchtbarkeit der Menschen damit einverstanden sein, ihre Wohltaten von neuem zu erweisen? Wäre das nicht die erste Lektion in Ökologie, die uns Intelligenz und Kreativität abverlangt, wenn wir weiterhin die üppigen Früchte der Erde genießen möchten? Wenn die Menschen rituell beweisen, dass sie ihre Sexualität heiter leben, werden die Götter im Austausch dafür ein weiteres Jahr das Getreide wachsen lassen.
Baubo, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
In diesem Ritus steckt aber noch mehr. Im Rahmen einer Initiation, die jedermann zugänglich war, handelte es sich sehr wahrscheinlich speziell um die Initiation junger Frauen, die entweder frisch verheiratet waren oder kurz vor der Hochzeit standen. Man lehrte sie, dass eine Frau dem Mann nichts schulde. Dass ihre Initiation strikt Sache der Frauen sei und sie auf ihr Organ, die Vulva, stolz sein sollen, wie die Männer auf ihren Phallus stolz sind.
Baubo wäre so ein Hymnus auf die spezifische Macht der Frauen, eine Macht, die den Männern nichts schuldig ist.
Zum Weiterlesen: Homer, »An Demeter«, in: Homerische Hymnen, hg. von Anton Weiher, München, Zürich: Artemis 1989. Georges Devereux, Baubo. Die mythische Vulva, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M.: Syndikat 1981. Maurice Olender, »Aspects de Baubô. Textes et contextes antiques«, in: Revue de l'histoire des religions, Bd. 202, Nr. 1, 1985, S. 3-55.
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1 Griech. für »Mitwohnende«, die in einem Stadtstaat lebten und arbeiteten (z. B. als Handwerker oder Kaufleute), aber nicht dessen Bürgerrecht besaßen (A. d. Ü.).
2 Griechischer Stadtstaat in Ionien, heute in der Nähe des Dorfes Güllübahçe in der türkischen Provinz Aydin.
3 Vgl. Hermann Diels (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, gr.-dt., hg. von Hermann Diels, 1. Bd., Berlin: Weidmann 41922, S. 277 [Nr. 153] (A. d. Ü.).
4 Homer, »An Demeter«, V. 90-91 u. 194-201, in: Homerische Hymnen, hg. von Anton Weiher, München, Zürich:...
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