Schweitzer Fachinformationen
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Armin Nassehi zeigt in seinem neuen Buch, warum moderne komplexe Gesellschaften mit der Bewältigung von Krisen notorisch überfordert sind. Unser sehnlichster Wunsch, aus einem Guss regiert zu werden, wird in solchen Situationen zwangsläufig enttäuscht - und das Unbehagen an der Gesellschaft nimmt zu.
Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern, sind träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Praktiken immer wieder als erstaunlich fragil und vulnerabel. In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander.
An unserem strategielos anmutenden Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise wird deutlich, dass die unterschiedlichen politischen, ökonomischen, familialen und wissenschaftlichen Instanzen der Gesellschaft eigenen Operationslogiken folgen, die sich intern und extern eklatant widersprechen. Infolgedessen muss der Versuch einer Bündelung aller politischen Kräfte zur Krisenüberwindung zwangsläufig scheitern. Forderungen nach mehr Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt klingen zwar gut, sind vor diesem Hintergrund aber illusorisch.
Armin Nassehi vertritt in seinem Buch die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben, ohne je in eine Form prästabilierter Harmonie zurückzukehren. Er deutet zugleich an, was man aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um uns für künftige Krisensituationen besser zu rüsten - ohne übersteigerte Erwartungen zu wecken.
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«Der 9. November ist der deutsche Schicksalstag.» So begann Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 9. November 2018 seine Ansprache zur Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages. «An diesem Datum verdichtet sich unsere jüngere Geschichte in ihrer Ambivalenz, mit ihren Widersprüchen, ihren Gegensätzen. Das Tragische und das Glück, der vergebliche Versuch und das Gelingen, Freude und Schuld: All das gehört zusammen. Untrennbar.»[1]
Mehr als jeder andere Tag des Jahres bewegt der 9. November die Deutschen. Landauf, landab finden Gedenkveranstaltungen statt. Die Medien erinnern regelmäßig an spezifische historische Facetten. Immer wieder wurde das Datum als Nationalfeiertag ins Spiel gebracht. Die Kultusministerkonferenz hat dazu aufgerufen, in jedem Jahr am 9. November einen Projekttag in den Schulen durchzuführen. Die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung haben Materialien erarbeitet, die helfen sollen, den historischen Gehalt des 9. November in seiner ganzen sachlichen und emotionalen Komplexität zu entschlüsseln und zu verstehen.
Es sind vor allem vier herausragende Ereignisse, die meist mit dem 9. November verbunden werden:
die Revolution, die am 9. November 1918 die Monarchien in Deutschland beseitigte und zur Gründung der ersten deutschen Republik führte («Ausrufung der Republik»)
der Hitler-Putsch von 1923
die Novemberpogrome des Jahres 1938, mit denen die öffentliche Gewalt gegen die deutschen Juden eine neue Eskalationsstufe erreichte
der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.
In allen Fällen weist die Datierung eine gewisse Unschärfe auf. Die Novemberrevolution nahm bereits einige Tage zuvor in Kiel ihren Anfang, aber mit dem Sieg und der Ausrufung der Republik in Berlin wurde der 9. November zum Symboltag der demokratischen Umwälzung. Hitlers Putsch in München begann am 8. November und scheiterte am folgenden Tag. Die reichsweiten Novemberpogrome wurden am späten Abend des 9. November initiiert und hatten ihren Schwerpunkt am 10. November. Zum Sturz der Berliner Mauer kam es am 9. November kurz vor Mitternacht, gefeiert wurde in den Nacht- und Morgenstunden des 10. November. Es ist deshalb nicht nur sinnvoll, sondern auch legitim, ein fünftes Ereignis hinzuzufügen, das oft deshalb nicht berücksichtigt wird, weil es - wie Hitlers Putschversuch - am 8. November stattfand:
das gescheiterte Attentat von Georg Elser auf Adolf Hitler im Jahr 1939.
Auch dieses Attentat gehört sachlich und terminlich in den Kontext des 9. November.
Ethisch wie emotional markieren 1938 und 1989 die Spannweite. Der 9. November 1938 steht «für den unvergleichlichen Bruch der Zivilisation, für den Absturz Deutschlands in die Barbarei»,[2] so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der erwähnten Gedenkveranstaltung, der 9. November 1989 gilt als «der glücklichste Tag der Deutschen».[3] Vor allem die extreme Spannung zwischen tiefster Scham und Schuld einerseits und größter Freude andererseits hat 1990 verhindert, dass der 9. November zum Nationalfeiertag des vereinten Deutschland wurde. Für viele war es unvorstellbar, beides an einem Tag zusammenzubringen.
Die Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 9. November 2018 kann vor diesem Hintergrund gar nicht genügend gewürdigt werden. Erstmals in der deutschen Geschichte hat die politische Elite des Landes den Versuch unternommen, den 9. November in seiner ganzen Bandbreite in den Blick zu nehmen - mit großem Ernst und Nachdenklichkeit, mit Sensibilität und aufrichtigem Bekenntnis zur Verantwortung für die Gräueltaten der Nazizeit, mit Freude und Dankbarkeit. Der Versuch ist mehr als gelungen, die Veranstaltung wurde eine Sternstunde des Parlaments und der deutschen Demokratie.
1918 - 1923 - 1938 - 1989 - und immer der 9. November. Das begründet den ganz besonderen Ruf des 9. November als «Schicksalstag» der Deutschen. Der Völkische Beobachter hat den Begriff allerdings schon 1927 benutzt, die Süddeutsche Zeitung erstmals 1946, auch Historiker haben ihn bisweilen verwendet, um auf die besondere Bedeutung des Datums hinzuweisen. Aber erst der Fall der Mauer hat ihm den entscheidenden Auftrieb gegeben, so dass heute in Medien, Politik und politischer Bildung fast flächendeckend vom «Schicksalstag» gesprochen wird. Die Bundeszentrale für politische Bildung verwendet den Begriff als Titel für Bücher und Materialien, das ZDF und n-tv als Sendungstitel, die Deutsche Welle in ihrem Internetauftritt. Kaum eine Zeitung oder ein Magazin, das auf den «Schicksalstag» verzichtet, wenn vom 9. November in der deutschen Geschichte die Rede ist.
Die griffige Formulierung soll vordergründig vor allem die herausragende Bedeutung des 9. November unterstreichen. Zugleich aber lädt sie das Datum mit mystischer Bedeutung auf, indem sie das «Schicksal» als über menschlichem Handeln stehende Kategorie ins Spiel bringt. Am 9. November scheinen geheimnisvolle Mächte im Hintergrund zu wirken. Vor solchem Denken sollten wir uns hüten - ganz besonders im Hinblick auf den 9. November. Wo die Metaphysik ins Spiel kommt, hören die Fragen auf. Zusammenhänge und Hintergründe verschwinden im mystischen Nebel. Das trübt den Blick und behindert Aufklärung.
Es ist bemerkenswert, wie häufig die genannten Ereignisse nebeneinander abgehandelt werden, ohne mögliche Zusammenhänge näher zu untersuchen. Gelegentlich wird auf der metaphysischen Ebene nach Verbindendem gesucht: «Am neunten November tritt die ideologische Leidenschaft in einen Wettbewerb mit der kühl organisierenden und vorausblickenden Vernunft - und die Affekte gewinnen.»[4] Mitunter werden die vier Novemberdaten der Jahre 1918, 1923, 1938 und 1989 ergänzt um andere, wenig bedeutsame Ereignisse in anderen Jahren. Zu welchen Erkenntnissen es allerdings führen könnte, den Tod des RAF-Terroristen Holger Meins 1974 in die Reihe der Novemberdaten aufzunehmen,[5] erschließt sich beim besten Willen nicht. Anekdotisches Aneinanderreihen ersetzt nicht Geschichtsschreibung. 2017 erschien gar ein Taschenbuch mit dem Titel 9. November - Schicksalstag der Deutschen. Heiteres und Besinnliches einer am 9. November Geborenen.
Der 9. November taugt nicht als Perlenschnur, an der entlang einzelne Geschichten erzählt werden, er eignet sich auch nicht, um metaphysische Spekulationen anzustellen. Es ging und geht am 9. November seit 1918 um konkrete und handfeste Politik, auch um Geschichtspolitik.
Vier meiner fünf Novemberdaten sind eng aufeinander bezogen. Der Putschversuch von 1923 war Hitlers Reaktion auf die Novemberrevolution und die Ausrufung der Republik am 9. November 1918, die für ihn ein traumatisches und lebensprägendes Ereignis waren. Die Novemberpogrome 1938 konnten in dieser Form nur im Kontext der jährlichen Münchner NSDAP-Feierlichkeiten für die «Gefallenen der Bewegung» am 8./9. November initiiert werden. Auch das Attentat Georg Elsers 1939 war an keinem anderen Tag des Jahres denkbar. Es war nur möglich im Rahmen des jährlich am 8. November mit großer Zuverlässigkeit stattfindenden Auftritts Hitlers im Münchner Bürgerbräukeller bei den «Alten Kämpfern». Diese Zusammenhänge erschließen sich aber nur dann vollständig, wenn man nicht nur die vier «Großereignisse» betrachtet, sondern auch den Umgang mit dem 9. November als geschichtspolitisch hoch aufgeladenem Symbol.
Der 9. November hat - beginnend mit dem Jahr 1918 - eine eigene Geschichte, die zu erzählen ist. Er ist genau seit diesem Zeitpunkt ein ganz besonderer Tag der deutschen Geschichte. Deshalb beginnt meine Geschichte des 9. November nicht im Jahr 1848, als in Wien der Revolutionär und Paulskirchenabgeordnete Robert Blum von den Kräften der Gegenrevolution standrechtlich erschossen wurde. Sachlich gehört diese Hinrichtung durchaus in meinen Kontext, aber sie hat dem 9. November als Datum noch keine eigene historische Bedeutung gegeben. Erst mit dem Sieg der Novemberrevolution beginnt das Ringen um den 9. November als historisches Symbol. Es war bis 1945 Teil des erbitterten Kampfs zwischen Demokraten und den Feinden der Demokratie. In der Zeit der deutschen Teilung wurde der 9. November benutzt, um nicht demokratisch legitimierte Herrschaft ideologisch zu stützen. In der alten...
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