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Auch an multiple Krisen, an Transformationsaufforderungen und an Zeitenwenden kann man sich gewöhnen. Vielleicht steckt in diesem etwas lapidaren Satz fast alles, worum es in diesem Buch geht. Dass es Gewöhnungseffekte gibt, Trägheiten in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, Wiederholungen und Festhalten am Bewährten, kann einen Soziologen kaum erstaunen. Unser Gegenstand, die Gesellschaft, ist ohnehin von mehr Gewöhnung und Bewährung geprägt, als es das Gerede der Gesellschaft in der und über die Gesellschaft nahelegt. Sich darüber zu wundern, wäre also naiv - auch, sich über Veränderungsdruck und multiple Krisen zu wundern.
Aber vielleicht könnte es recht produktiv sein, sich doch darüber zu wundern. Jedenfalls soll das die Grundhaltung dieses Buches sein, denn der Gewöhnungseffekt, der mich interessiert, meint nicht in erster Linie die Gewöhnung an Krisen oder das, was wir Krisen nennen. Denn viele Parameter - vor allem in der Protestkultur, in einem Teil der Presse (nicht nur der üblichen verdächtigen Boulevardpresse), in der Form der politischen Auseinandersetzung, in der generalisierten Elitenkritik, in der Ausrufung von politischen Feinden innerhalb des demokratischen Spektrums - weisen darauf hin, dass Teile der Bevölkerung sich eher an einen Generalzweifel «der Gesellschaft» oder «dem System» gegenüber gewöhnt haben. Solche Formen erzeugen starke Bilder - und nicht zuletzt eine Normalisierung autoritärer Fantasien im politischen Raum. Anders ist der Höhenflug der AfD, einer offen rechtsextremen Partei, in Umfragen und womöglich später in Wahlen nicht zu erklären. Aber all das ist eher eine Reaktion auf merkwürdig gegenläufige Erfahrungen: Auf der einen Seite hält ein permanenter Transformations- und Nachhaltigkeitsdiskurs die öffentliche Kommunikation mit ihrem Versprechen in Atem, wie kurz wir vor der Lösung planetarer Probleme hin zu einem neugeordneten Zustand sind - auf der anderen Seite weist das Versprechen darauf hin, dass gewohnte Selbstverständlichkeiten, Sicherheiten und Routinen in Frage gestellt werden. Das kann man aus einer akademischen Perspektive schön als die Bedingung allen Wandels ansehen, aber von denjenigen, deren Geschäfts-, Lebens-, Glaubens- und Alltagsmodelle in einem fragilen Gleichgewicht von den bestehenden Bedingungen abhängig sind, wird das anders empfunden. Ein Großteil jener generalisierten Elitenkritik und der Lautstärke der extremen Seiten des politischen Spektrums, auch die antiszientistische Kritik wissenschaftlichen Wissens und nicht zuletzt die Kritik an vor allem urban-akademischen Lebensentwürfen ist sicher auch auf diese Spannung zurückzuführen.
Mich interessieren nicht die Krisen selbst, also nicht, welche CO2-Bepreisung die angemessene ist, welche Anpassungsleistungen an den bereits stattfindenden Klimawandel vonnöten sind, welches Verhältnis von Geboten/Verboten und Anreizen und Selbststeuerung am wirkungsvollsten ist, wie man richtig mit der Bekämpfung von Seuchen umgeht, welche militärpolitischen Konsequenzen neue internationale Sicherheitslagen erfordern, welche Subventions- und Schuldenpolitik die richtige ist, um klimaneutrale Produktionsformen und Produkte zu ermöglichen, welche Produktgruppen und Konsumstile angemessen sind, mit welcher Steuerpolitik man den Ausgleich zwischen ökonomischer Dynamik und der Kontinuität von Lebensformen am besten managen kann, wie man migrationspolitisch mit den unterschiedlichen Wanderungsformen umgeht oder welche Art von individueller Moral in all den Krisensituationen angemessen ist.
Mich interessiert vielmehr, wie sehr sich gesellschaftliche Routinen an sich selbst gewöhnen, wie sehr sie sich in einer Praxis einrichten, die mögliche Verunsicherungen geradezu wegmoderieren und den Alltag stärker werden lassen als jede Einsicht - übrigens etwas, das die Soziologie ohnehin lehrt. Mich interessiert, wie unbeeindruckt das bisweilen geschieht. Gesellschaftliche Praxis ist vor allem von Selbstbestätigung, von Wiederholungen, von der Selbststabilisierung des Bewährten geprägt. Man muss freilich aufhören, das nur im Modus der Anklage zu registrieren, denn auch diese bewährt sich ziemlich gut als Geschäftsmodell, das nur ein Geschäftsmodell sein kann, wenn es sich wiederholt - mit diesem Wiederholungsaspekt wird übrigens geschäftsmäßiges Handeln definiert.
Produktives Nachdenken fängt erst dort an, wo nicht nur Lösungen dekretiert werden, sondern wo man sich erstens Gedanken darüber macht, ob und wie solche Lösungen in der bestehenden Gesellschaft andocken können, und wo man zweitens mit Gegenreaktionen dieser Gesellschaft rechnet - und zwar nicht einfach in dem Sinne, diese Gegenreaktionen mit der Verstocktheit, der mangelnden Bereitschaft oder dem falschen Glaubenssystem der Adressaten zu erklären. Es stimmt schon, man kann ernsthaft daran verzweifeln, wie stabil und erwartbar viele Verhaltensweisen und Sprechakte, Strategien und Beschwörungsformeln sind. Theoretisch ausgedrückt: Systeme sind stabiler, träger als ihre Umwelt. Diese Trägheit ist genau genommen die Ordnungsleistung von Systemen, die nur deshalb dauerhaft bestehen können, weil sie die internen Möglichkeiten nicht-zufällig einschränken. Das gilt für Systeme aller Art, auch für gesellschaftliche. Das gilt für biologische, organische Systeme, die einen Trägheitsmechanismus haben, nicht alle Umweltveränderungen eins zu eins umzusetzen; das gilt für die menschliche Psyche, die sich in Mustern einrichtet und sich nicht durch jede überraschende Information verunsichern lässt; das gilt für kulturelle Systeme, deren Bedeutungen und Symbole, Zeichen und Formen stabiler bleiben als ihre kulturellen Verarbeitungsformen - und das gilt eben auch für soziale Systeme, die Routinen, Praktiken, Rollen, Erwartbarkeiten usw. ausbilden. Das ist das Terrain, auf dem sich die Soziologie bewegt, wenn sie nicht einfach nur großsprecherische Programmanzeigen und Entlarvungsgesten hinbekommt oder als Reflexionstheorie privilegierter Milieus daherkommt, auch wenn sie sich als Anwältin der weniger Privilegierten geriert.
Trägheit ist nicht einfach ein Programm, eine Marotte oder ein abzulegender Charakterzug, auch keine Geschmacksfrage, sondern ein struktureller Schutzmechanismus, der freilich auch Kosten hat. Die Krisendiagnosen jedenfalls sagen, dass schnell etwas getan werden müsste, und zwar von «uns allen». Aber es bleibt aus, zumindest sieht es so aus. Klassisch lässt es sich am Dauerthema Klimawandel beobachten, dessen disruptive Dringlichkeits- und Katastrophensemantik sich selbst routinisiert hat. Um es klar zu sagen: Die Dringlichkeit ist sehr hoch und wird immer höher, aber dringlich-schnelle Veränderungen erzeugt das nicht - eher langsame, in kleinen Schritten - und Abwehrreaktionen, die man moralisch kritisieren kann, aber wenigstens begreifen sollte. Und eher kleine Schritte taugen nicht für große Beschreibungen, aber sind womöglich wirksamer als die Disruptionssemantiken des Typs «Alles könnte anders sein» und wir könnten «Unsere Welt neu denken» oder «Wir könnten es so schön haben». Das sind Formulierungen aus Buchtiteln, auf die ich nicht direkt eingehen möchte - es reicht der Diskurstypus, der die affirmative und kritische öffentliche Wahrnehmung etwa der Klimakrise durchaus abbildet und bei aller Expertise und hohen Informationsdichte, die hier auch vermittelt wird, mit geradezu unrealistischen Chiffren versieht. Solche Perspektiven werden von vielen zu Unrecht, aber nicht grundlos gehasst. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Um es klar zu sagen: Es könnte keineswegs alles anders sein. Als Sozialwissenschaftler kann man, nein, muss man wissen, wie stabil, wie manchmal kaum auszuhalten stabil und erwartbar sich Praktiken und Routinen darstellen, wie widerständig vor allem die bewährten Alltagsroutinen, die kulturellen Chiffren und Überzeugungen, wie schwer aufklärbar Einstellungen sind und wie mächtig die Gewohnheit ist. Genau deswegen kann man sich auch daran gewöhnen, permanent damit beschallt zu werden, dass alles anders wird und nichts so bleibt, wie es ist. Dass keineswegs alles anders sein kann, bestätigt sich auch darin, dass man das Gegenteil immer wieder behaupten kann - nicht folgenlos, aber weit entfernt von der disruptiven Verve der Forderungen.
Am...
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