Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
If voting changed anything, they'd make it illegal. Dieser oft Kurt Tucholsky zugeschriebene Satz stammt von der amerikanischen Anarchistin und Feministin Emma Goldman (1869-1940). Nun bildet ein solcher Satz aus anarchistischer Perspektive gewissermaßen das gesamte Geschäftsmodell bereits ab. Wenn man auf freie Assoziation im Sinne Proudhons setzt oder im Sinne Kropotkins auf eine dem Menschen bereits inhärente Sozialität, erscheint jegliche intermediäre Form zwischen dem Willen von Mitgliedern eines (vorgestellten) Kollektivs und kollektiv verbindlichen Entscheidungen schon als Abweichung von einem demokratischen Ideal.[1] Das gilt zumindest dann, wenn man den Terminus wirklich beim Wort nimmt: als Herrschaft des Volkes. Wer diese Bezeichnung ernst nimmt, kann die Delegation von Entscheidungsbefugnissen an gewählte Akteure und Strukturen nur für eine uneigentliche Form der politischen Entscheidungsfindung halten.[2]
Spuren solcher anarchistischer Kritik finden sich immer wieder dort, wo Protestbewegungen ihren Unmut gegen politische Entscheidungen zu einer generellen Kritik aufrunden, die Demokratie werde durch falsche Entscheidungen abgeschafft. Die sogenannte Querdenkerbewegung während der Pandemie hat es sogar geschafft, für falsch gehaltenen politischen Entscheidungen Um-zu-Motive zu unterstellen, in dem Sinne, dass etwa Pandemiemaßnahmen explizit darauf zielten, unangemessene Macht auf die Bevölkerung auszuüben und zu testen, was möglich wäre. Man kann daran sehen, dass der performative Gebrauch des Demokratiebegriffs durchaus auch ein Kampfbegriff sein kann, der sich an Inhalten orientiert. Was man selbst will, ist demokratisch, die Gegenauffassung nicht. Demokratie als Begriff changiert zwischen einem deskriptiven Begriff für ein politisches Programm bzw. Verfahren und einem postulierenden normativen Begriff für die eigene Selbstwirksamkeit. Gerade Protestbewegungen berufen sich auf Demokratie, wenn sie die Entscheidungen in demokratischen politischen Verfahren kritisieren.[3] «Demokratie» hat einen appellativen Charakter, so appellativ, dass sich auch Autokratien und Diktaturen gerne demokratisch nennen oder genannt haben.
Begrifflich gesehen, herrscht das Volk in der Demokratie über sich selbst. Demnach ist die Demokratie eine Autokratie. Die Auswanderung der Selbstherrschaft des Volkes in eigens dafür geschaffene politische Institutionen und Verfahren erzeugt die merkwürdige Paradoxie der Demokratie, dass zwischen Herrschern und Beherrschten eine Identität herrschen soll, dass sie zugleich aber nicht dieselben sind. Zwischen den einen und den anderen stehen Wahlen und ein staatliches Organisationsarrangement, das kollektiv verbindliche Entscheidungen ermöglicht, moderiert und mit Macht durchsetzt. Man muss also schon in einem ersten Schritt konzedieren, dass demokratische Wahlen Partizipation sowohl ermöglichen und organisieren als auch deutlich begrenzen. Sie organisieren und moderieren sie, indem zumindest in der repräsentativen Demokratie Wahlakte stattfinden, aber nicht zu Einzelfragen, sondern im Hinblick auf unterschiedliche programmatische Angebote, die üblicherweise durch Parteien repräsentiert werden, deren Differenzen zugleich institutionalisierte politische Konflikte abbilden. In westlichen Industrieländern gab es nach dem Zweiten Weltkrieg die Regel zweier großer Parteien - mitte-rechts und mitte-links orientiert -, die einen Großteil der Wählerstimmen einfingen und in ihrer Differenz zugleich die Richtlinienkompetenz in der Beschreibbarkeit gesellschaftlicher Konflikte und ihrer politischen Entsprechung hatten. Das Sozialistische/Sozialdemokratische war die andere Seite des Christdemokratischen/Konservativen/Bürgerlichen - und daneben entstanden kleine Klientelakteure fürs Nationalistische, fürs Liberale, später für ökologische Belange. Dieses Organisationsarrangement hat nicht auf ein existierendes «Volk» reagiert, sondern gab und gibt dem demos der Demokratie eine zurechnungsfähige und darin intern differenzierte Gestalt - und es bindet Kommunikation schon dadurch, dass eingeführte Grundkonflikte die vielfältig auftretenden Konflikt- und Interessenfragen einfangen und damit zivilisieren können. Das ermöglicht Partizipation weniger dadurch, dass Teile des «Volkes» jeweils abgebildet werden, sondern dadurch, dass jenes «Volk» dadurch entsteht, dass es sich in einer kommunikativen Arena verhandelbarer Konflikte und lösbarer Probleme wiederfindet. Engagierter politischer Bürger zu sein ist dann eine Form der Partizipation. Es ist deshalb kein Zufall, dass das nation building vor allem mit der hoch voraussetzungsreichen Idee einer entstehenden öffentlichen Sphäre der Kommunikation assoziiert wird, einer Sphäre, in der es um so etwas wie gemeinsame Belange geht, die als solche dadurch entstehen, dass sie kommunikativ sichtbar werden und damit aktive Zugehörigkeit ermöglichen.[4]
Dieser inkludierende Mechanismus wird durch beschränkte Partizipationsmöglichkeiten konterkariert. Große Teile der Bevölkerung werden von der unmittelbaren Form der Machtausübung ausgeschlossen und auf die Rollen als Wählerinnen und Wähler und eine mehr oder weniger engagierte Publikumsrolle des politischen Prozesses begrenzt.[5] Die Paradoxie der Identität von Herrschern und Beherrschten wird letztlich dadurch aufgehoben, dass die Rollen dieser beiden Seiten tatsächlich auseinandertreten und die «demokratische» Legitimation dieser Rollendifferenzierung über diese Paradoxie hinweghilft. Insofern changiert der Begriff der Demokratie zwischen einer starken normativen Idee der Partizipation und der gemeinschaftlichen Teilhabe einerseits und einer eher institutionellen Idee der verfahrensförmigen und legitimen Entscheidungsgenerierung andererseits.[6]
In einem ersten Schritt auf der Suche nach dem Bezugsproblem des Begriffsgebrauchs von «Demokratie» stoßen wir also darauf, dass die Demokratie ein Repräsentationsproblem und ein Entscheidungsproblem lösen will oder muss, man könnte auch sagen, ein soziales Problem («wer entscheidet?») und ein sachliches Problem («was wird entschieden?»). Dieses doppelte Bezugsproblem findet sich bereits in den frühen griechischen Quellen über die Demokratie, die diese Spannung zwischen sozialer Beteiligung und Sachkompetenz breit und kontrovers diskutieren. Auf die historische «Erfindung» der Demokratie wird zurückzukommen sein, aber zunächst seien zwei Umwege erlaubt, die sich vom Begriff der Demokratie wegbewegen, aber darauf zurückkommen.
Gemeint sind zunächst die Pariser «ökonomisch-philosophischen Manuskripte» aus den Frühschriften von Karl Marx, in denen er 1844 aus dem Privateigentum die Differenz von Kapital und Arbeit ableitet und daraus als logische Folge die Entfremdung des Menschen von seinen Möglichkeiten.[7] Er schreibt: «Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.»[8] Weil Arbeit zu einem Kostenfaktor im Produktionsprozess wird und der Kapitalist seinerseits gegenüber Konkurrenten und dem Bodenbesitzer unter Kostendruck steht, verselbständigt sich die Dynamik dieser Produktionsverhältnisse in dem Sinne, dass der Arbeitslohn geradezu von selbst sinken muss und damit knapp kalkuliert ist.[9] Entfremdete Arbeit liege also nicht primär an der Arbeit, sondern an den Bedingungen des Privatbesitzes, die wiederum auf die Arbeit zurückwirken. Nun geht es hier nicht darum, die ökonomischen Analysen des frühen Marx zu würdigen oder sie gar den späteren Analysen gegenüberzustellen, die als «wissenschaftlicher» und weniger polemisch-politisch gelten.[10] Stattdessen kann Marx' Utopie des Kommunismus etwas über das mögliche Bezugsproblem der Demokratie lehren, auch wenn Marx überhaupt nicht über die Demokratie als Lösung nachdenkt, im Gegenteil.
Marx stellt sich in den Pariser Manuskripten einen dreistufigen Weg zum Kommunismus vor. In der ersten Phase löst sich der «rohe Kommunist»[11] noch nicht vom Privateigentum, sondern möchte seine Logik auf alle übertragen und bringt damit eher primitive Verhältnisse hervor. In diesem Stadium sei der Kommunismus «nur eine Erscheinungsform von der Niedertracht des Privateigentums, das sich als das positive Gemeinwesen setzen will».[12] In der zweiten Phase dann passt sich der Mensch an die Kritik des Privateigentums an, ist...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.