Schweitzer Fachinformationen
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HERKOMMEN
Woher kommst du?« Diese Frage höre ich oft. Manchmal ist es beinahe kindliche Neugier, manchmal offensichtliche Arroganz. Woher soll ich denn kommen? Welche Antwort ist denn zufriedenstellend? Die Antwort »Berlin« ist es nicht, denn auf diese folgt die zweite oft gehörte Frage:
»Woher kommst du wirklich?«
Als würde ich lügen. Vielleicht sollte ich einfach lügen, denn ich sollte mich nicht rechtfertigen müssen. Ich komme wirklich von nirgendwo anders her. Ich war immer schon hier. In Kreuzberg.
Friedrichshain-Kreuzberg ist von der Fläche her mit 20,4 Quadratkilometern der kleinste Bezirk in Berlin und gleichzeitig der Bezirk, der am dichtesten besiedelt ist. Pro Quadratkilometer leben hier 14 172 Menschen. Insgesamt sind es 289 120 Menschen, etwas weniger als die Hälfte davon Menschen mit Migrationshintergrund. Man müsste also meinen, dass sich die Leute an den Anblick, meinen Anblick, gewöhnt haben. Ich bin eine Kreuzbergerin und keine Exotin. Wir alle leben hier auf engstem Raum. Deutsche und Menschen aus etwa 180 anderen Nationen, also aus aller Welt, manche davon sind weniger und manche mehr deutsch. Was auch immer das heißen soll. Bin ich deutsch, weil ich den deutschen Pass besitze? Wahrscheinlich schon. Bin ich libanesisch, weil meine Eltern aus dem Libanon kommen? Wahrscheinlich schon. Aber bin ich deutsch, weil ich Termine perfekt organisiert und in mehrere farbige Kategorien unterteilt in meinen Kalender eintrage? Bin ich libanesisch, weil ich meine Freunde gerne zum Essen einlade und wir danach eine Schlägerei beim Bezahlen der Rechnung in Kauf nehmen? Das ist doch bescheuert. Stereotypen sind bescheuert. Fragt mich jemand mit diesem speziellen Unterton, woher ich komme, hat sich in seinem Kopf schon eine Palette an Vorurteilen gebildet, und er sagt eigentlich: »Du gehörst nicht dazu.« Ich werde ausgegrenzt.
Ob ich das nicht schon selbst mit meinem Hijab tue? Nein, ich grenze mich nicht selbst aus. Ich möchte das Kopftuch tragen, und ich möchte boxen, weil ich Sport liebe. Zwei Dinge aus unterschiedlichen Welten, die in mir zusammenwachsen. Das ist eben meine Identität. Das war nicht immer so selbstverständlich für mich. Aber beginnen wir von vorn.
Ich wurde am 14. Januar 1998 in Kreuzberg geboren und lebe immer noch hier. Baba ist Bauarbeiter und kommt abends manchmal mit weißen Haaren und einer Hand im Rücken nach Hause, aber er beklagt sich nicht. Er ist Mitte fünfzig und hat noch über zehn Jahre bis zur Rente. Meine Mama ist Mama von ganzem Herzen. Sie wird nie in Rente gehen, wird immer ein Auge auf uns vier haben. Wir vier, das sind meine große Schwester, ein jüngerer und ein älterer Bruder und ich. Wir alle verbringen gerne Zeit miteinander, besonders lieben wir unser gemeinsames Frühstück.
Jeden Sonntag gibt es Manakish, eine Art libanesische Minipizza. Im Libanon werden sie traditionell freitags gegessen, aber wir haben nun einmal sonntags frei. Während der Teig in einer Schüssel Blasen wirft, wird ein kleiner tragbarer Ofen aus gebürstetem Stahl rausgeholt. Mama streicht den Teig in kreisenden Bewegungen aus, bis er rund und flach ist. Baba sitzt nicht bei uns Kindern und schaut zu, sondern macht das Gleiche wie Mama oder belegt gleichzeitig schon die Fladen. Einen mit Käse, einen mit Tomaten und einen mit Za'atar, das ist eine Gewürzmischung aus Thymian, Sesam und Sumach. Dann schieben sie die Fladen in den Ofen, und wir können sehen, wie der Teig langsam braun wird.
Fast mehr als das Frühstück an sich liebe ich diesen Anblick: Mama und Baba, wie sie das Essen vorbereiten. Wie Mama neckisch die Arme in die Hüften stemmt und Baba lacht, wie uns Geschwistern schon das Wasser im Mund zusammenläuft, wie die Küche immer wärmer wird und die Manakish schließlich in der Mitte des Tisches landen, dazu Minze und Hummus.
An Weihnachten gibt es eine Gans. Kein Witz. Eine duftende gebratene Gans. Einmal hatten wir sogar eine Tanne. Wir feiern nicht die Bedeutung von Weihnachten, jedenfalls nicht die religiöse, aber in dieser Zeit kommen wir als Familie zusammen und genießen die Feiertage. Mama und Baba haben den Großteil ihrer Familien im Libanon zurückgelassen, und das sind wirklich große Familien. Mama hat sieben und Baba zwölf Geschwister. Mama kommt aus einem eher unspektakulären, aber schönen Dorf aus dem Libanon und Baba aus Tyr, einer Großstadt mit Wolkenkratzern, lebendigem Treiben und einem lauten Markt. Tyr war einmal das antike Tyros, eine der bedeutendsten Städte der Phönizier, der Römer, aber nicht der Griechen - Alexander der Große hat vergeblich versucht, es zu erobern. Wenn ich dort zu Besuch bin, so etwa einmal im Jahr, kann ich nur staunen. Über das Hippodrom, in dem 30 000 Menschen Platz finden konnten, um die Pferde und Wagen bei den Rennen anzufeuern. Über die Ruinen, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören. Dort säumen die Säulen einen hundertfünfundsiebzig Meter langen Weg, der ans Meer führt, wo sich das Salz weiterer Säulen annimmt. Das Meer ist sauber und spiegelt den türkisfarbenen Himmel wider. Am Strand spielen Touristen Volleyball, und Libanesinnen sonnen sich in Bikinis oder gehen in ihren Burkinis schwimmen. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung ist muslimisch, der Rest besteht zum großen Teil aus Christen. Es kann so schön sein, wenn alle miteinander leben und sich akzeptieren. Aber so harmonisch ist es im Libanon nicht immer und war es auch nicht immer. Das Land wird schon lange von Krisen gebeutelt und hat auch heute seine Herausforderungen zu meistern.
Aktuell heißt das, den wirtschaftlichen und politischen Kollaps abzuwenden. Bis zu 300 000 Menschen haben im letzten Jahr ihre Arbeit verloren, das Wasser ist verschmutzt, Strom ist nur bis zu fünf Stunden am Tag verfügbar, Treibstoff und Heizöl werden knapp, aber leisten können sich das sowieso nicht mehr viele. Trotzdem wollte die Regierung weitere Steuern erheben und erhöhen. Seit Oktober 2019 gehen deshalb Menschen auf die Straße, sie demonstrieren gegen Korruption in der Regierung und den Behörden und gegen die schlechte Infrastruktur. Während ich die Proteste im Fernsehen verfolge und das erste Mal bei den Nachrichten Tränen in den Augen habe, weil es mich so wütend macht, kennen meine Eltern das Grauen aus der Realität.
Seit Mama denken kann, ist das Land in einer Krise. Frieden? Ein theoretisches Wort, ohne Bedeutung. Doch wenn sie nicht länger darüber nachdachte, was sie sah, was sie hörte, worüber die Nachbarn sprachen, dann konnte sie so etwas wie Frieden finden. In Momenten, in denen sie auf der Schaukel saß, wenn sie sich so stark vom Boden abstieß, dass die Seile hoch oben in der Luft einknickten. In denen sie mit ihren Freundinnen in den Wald rannte und wilden Thymian und Salbei pflückte, um sie voller Stolz nach Hause zu tragen. Sie will es nicht hören, das Propellergeräusch, nicht sehen, was da aus dem Flugzeug geworfen wird. Beim ersten Mal dachte sie, es wären Fallschirmspringer oder Essen. Aber die Explosion, etwa zwanzig Kilometer weit weg von ihrem Heimatdorf, ließ keinen Raum für Spekulationen. Einige Städte waren nur noch Vergangenheit, überall Schutt, überall Schmerz. Überall die Erinnerung an das, was nicht mehr da ist und auch nie wieder zurückkommen wird.
Wenn es kein Zurück mehr gibt, dann muss man vorwärtsgehen. Mama musste gehen. Sie war erst zwanzig Jahre alt, eine bildhübsche Frau mit hohen Wangenknochen und dieser sanften und trotzdem tatkräftigen Ausstrahlung. Jetzt würde sie ein neues Leben beginnen. Mit einem Mann, der wusste, dass es das gibt - ein besseres Leben, auch für die Kinder, die sie einmal haben würden. Er lebte bereits in Deutschland und mochte es sehr. Er hatte sogar Arbeit gefunden. Mama stellte also einen Antrag, das macht man schließlich so in Deutschland. Er wurde abgelehnt. Familiennachzug gab es nicht für Verlobte.
Doch wenn Mama sich etwas in den Kopf setzt, dann bekommt sie es auch. Meinen starken Willen habe ich von ihr. Sie hätte gerne den Flieger genommen. Es gefiel ihr nicht, illegal einzureisen. Es gefiel ihr nicht, unwillkommen zu sein, aber anders ging es eben nicht.
Die Schlepper verlangten viel Geld und brachten sie zusammen mit etwa fünfunddreißig anderen Menschen bis nach Prag. Oder war das hier schon Deutschland? Das erste Mal in ihrem Leben sah Mama den Schnee. An diesen Tagen begrub er alles unter einer friedlichen Decke, und die perfekt gebauten Häuser waren eingehüllt in dieses strahlende Weiß, das auch in der Dunkelheit strahlte. Es war nachts, vielleicht auch schon frühmorgens. Mama sah nicht nur das erste Mal den Schnee, sie spürte ihn auch. Er reichte ihr bis zu den Knien.
Die Schlepper sprachen kein Arabisch, sie scheuchten die Geflüchteten einfach an der Endstation aus dem Bus und bedeuteten ihnen, zu Fuß weiterzugehen. Befehle brauchen keine Sprache. Mama schaute die anderen an, sie liefen zu zweit, zu dritt in Reihen, und Mama tat sich mit den einzigen zwei Frauen zusammen. Was konnte sie schon tun? Sie stapften den Schleppern hinterher. Wie ein Storch hob Mama die Beine und senkte sie wieder, und da passierte es: Einer ihrer Schuhe blieb stecken. Sie wühlte in dem festen Schnee, versuchte den Schuh zu ertasten, während ihre Gruppe sich immer weiter von ihr entfernte.
»Wartet, wartet!« Hätte sie gewusst, dass sie wie Müll in der Kälte ausgesetzt würde, hätte sie keine Schuhe mit Absatz eingepackt und dickere Klamotten. Sie rannte den anderen hinterher, hinkte hinterher und zog schließlich auch den anderen Schuh aus. Als sie die Gruppe einholte, spürte sie ihre Füße schon nicht mehr. Sie ging weiter und fragte sich, ob sie dickere Klamotten eingepackt hätte, wenn sie gewusst hätte, was sie...
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