Schweitzer Fachinformationen
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»Anna, wir sind erst zehn Minuten unterwegs, und du guckst unentwegt auf dein Handy«, stellte Britta fest, als sie mich dabei beobachtete, wie ich zum vierten Mal in Folge verstohlen auf das Display meines Mobiltelefons schielte. Schnell schob ich es zurück in meine Handtasche.
»Ja, ich weiß. Ich will bloß sichergehen, dass zu Hause alles gut läuft«, erwiderte ich wenig überzeugend.
»Natürlich tut es das. Was soll deiner Meinung nach nicht laufen?« Darauf wusste ich keine Antwort. »Nick ist die Zuverlässigkeit in Person und obendrein ein liebevoller Vater. Das weißt du. Da gibt es andere, bei denen sich das Sorgen machen lohnen würde. Nick zählt in keinem Fall dazu. Lass deine beiden Männer mal machen!«, fügte Britta mit einem schelmischen Grinsen hinzu.
»Männer ist gut gesagt. Bis die beiden einen echten gemeinsamen Männerabend bestreiten, dürften noch einige Sturmfluten über Sylt hereinbrechen.«
Wir verfielen in albernes Gelächter. Dafür ernteten wir sofort einen empörten Blick eines grauhaarigen Mannes mit rahmenloser Lesebrille, der uns gegenüber zwei Reihen weiter saß und in einem Managermagazin blätterte. Die Frau an seiner Seite dagegen lächelte uns freundlich zu.
»Ich fürchte, unser Verhalten ist unter seinem Niveau«, flüsterte ich Britta zu.
»Das mit dem Niveau ist so eine Sache. Achte auf seine Schuhe. Unter den Sohlen kleben noch die Preisschilder.«
Ich richtete meinen Blick auf die Schuhe des Mannes. Er hatte seine Beine lang ausgestreckt und an den Fußknöcheln überkreuzt, sodass die Sohlen gut sichtbar waren. Tatsächlich, Britta hatte recht. Auf den Schuhsohlen klebten eckige weiße Preisschilder. Ich konnte sogar erkennen, dass der schwarze Originalpreis durchgestrichen und durch einen neuen Preis in roter Schrift ersetzt worden war. Den genauen Betrag konnte ich allerdings aus dieser Entfernung nicht entziffern.
»Reduzierte Schuhe mit Preisschildern tragen, aber 1. Klasse fahren, das zeugt von sehr hohem Niveau«, murmelte ich. »Hinzu kommt, dass er einen Socken auf links trägt.«
Daraufhin fingen wir erneut an zu lachen. Ich konnte mich kaum beruhigen und vermied es, Britta direkt anzusehen, sonst wäre ich vermutlich geplatzt. Ihr ging es ähnlich. Es dauerte eine geraume Weile, bis wir uns beruhigt hatten. Zu Schulzeiten waren wir wegen eines dieser Lachanfälle aus dem Deutschunterricht verbannt worden. Wir durften das Klassenzimmer erst wieder betreten, wenn wir uns beruhigt hatten, hatte uns unsere Lehrerin ausdrücklich mit auf den Weg gegeben. Wir konnten uns jedoch nicht beruhigen und nutzten diese unfreiwillige Freistunde, um Eis essen zu gehen.
Während der IC mit beeindruckender Geschwindigkeit durch spätsommerliche Gefilde glitt, sah ich gedankenverloren aus dem Fenster. Die Landschaft zog an uns vorbei wie in einem Film. Die Blätter einiger Laubbäume hatten sich bereits herbstlich verfärbt und boten im Licht der Sonne einen atemberaubenden Anblick. Ein wahres Feuerwerk der Farben. Es war Mitte September, und die Nächte wurden spürbar kühler. Morgens lag ein hauchdünnes Vlies aus Tau über dem Boden. Die Luft roch manchen Tag bereits nach Herbst. Natürlich hatte Britta recht damit, dass Nick mit unserem Sohn zurechtkommen würde. Christopher war mittlerweile zehn Monate alt und ein sehr pflegeleichtes Kind. Ich hatte für die Tage, an denen ich nicht zu Hause sein würde, alles bis ins Detail organisiert. In zwei Tagen würde ich wieder auf Sylt sein. Eine laute Männerstimme riss mich aus meinen Gedanken.
»Die Fahrscheine bitte!«
Ein beleibter Bahnangestellter mit rundem Gesicht und kleinen hellen Schweinsaugen zwängte sich durch den Gang. An seinem Haaransatz hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Der Zug schaukelte unerwartet, und der Mann hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Wenn du fällst, dann bitte nicht in meine Richtung, wünschte ich mir insgeheim. Im letzten Augenblick konnte er sich an der Rückenlehne eines Sitzes abfangen. Die Fahrgäste hielten ihm bereitwillig ihre Fahrkarten entgegen, die er mit prüfendem Blick kontrollierte. Britta und ich reichten ihm ebenfalls unsere Fahrscheine, als er bei uns angekommen war. Er nahm sie kurz in Augenschein, nickte und wünschte uns eine angenehme Fahrt. Ich fragte mich, wie er in dem kurzen Augenblick überhaupt erkennen konnte, ob eine Fahrkarte gültig war. Mir wäre es schwergefallen, aber ich verfügte auch nicht über sein geschultes Auge.
»Also, ich bin sehr gespannt, wer alles auf dem Klassentreffen erscheinen wird«, erklärte Britta und verstaute ihre Fahrkarte sicher in ihrem Portemonnaie.
»Das bin ich auch«, erwiderte ich. »Wie ich Franka am Telefon verstanden habe, haben 22 ehemalige Mitschüler zugesagt. Das sind wirklich viel von insgesamt 28.«
»Somit wären wir nahezu komplett. Na, wir werden sehen, ob alle ihr Wort halten und tatsächlich kommen«, sagte Britta und lehnte sich entspannt in ihren Sitz zurück. »Ich würde gerne Musik hören, wenn es dich nicht stört«, ergänzte sie, zog ihren MP3-Player aus der Tasche und sah mich fragend an.
»Warum sollte mich das stören? Mach ruhig! Ich wollte lesen. Zu Hause komme ich in letzter Zeit selten dazu. Tagsüber habe ich keine Zeit und abends bin ich meistens viel zu müde. Spätestens nach der dritten Seite fallen mir die Augen zu«, antwortete ich und schlug mein Buch auf, das ich auf den Knien liegen hatte.
»Wenn ich einen Mann wie Nick neben mir im Bett liegen hätte, könnte ich nicht ansatzweise einen Gedanken an ein Buch verschwenden. Wie lange seid ihr zusammen?« Britta sah mich mit einem schelmischen Grinsen an.
»Britta, bitte!«, erwiderte ich und merkte, dass ich rot wie eine überreife Tomate anlief.
»Ich meine ja nur.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Hör Musik und lass mich lesen!«, entgegnete ich.
Während Britta mit geschlossenen Augen der Musik lauschte, tauchte ich ein in eine andere Welt und vergaß für eine Zeit lang alles andere um mich herum.
Nach Husum, Heide und Itzehoe hielt der Zug nun im Hamburger Hauptbahnhof. Viele Fahrgäste verließen an diesem Haltepunkt den Zug, aber ungefähr genauso viele stiegen zu. Das war kein Wunder, denn es war Freitagnachmittag, und das Wochenende stand unmittelbar vor der Tür. Einige Reisende waren bepackt, als wenn sie eine Weltreise antreten wollten. Sie kämpften sich mit riesigen, unbequem wirkenden Rucksäcken auf dem Rücken und Reisetaschen in beiden Händen durch die Menschenmenge. Vielleicht standen sie tatsächlich am Anfang einer langen Reise, kam es mir in den Sinn. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Menschen. Ein Pärchen lag sich in den Armen und sah dem nahenden Abschied schmerzerfüllt entgegen. Die junge Frau weinte. Ihr Begleiter hielt sie fest im Arm und streichelte ihr tröstend übers Haar. Bei diesem herzzerreißenden Anblick bekam ich schlagartig Heimweh. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und hätte den nächsten Zug in Richtung Westerland genommen. Ich wusste, dass mein Impuls albern war, und schämte mich im selben Moment dafür. Ich war eine erwachsene Frau. Wir hatten erst vor wenigen Stunden die Insel, die jetzt meine Heimat war, verlassen. Ich sah zu Britta, die neben mir eingeschlafen war. Ihr Kopf lehnte seitlich gegen die Kopfstütze ihres Sitzes. Bestimmt würde ihr Nacken schmerzen, wenn sie aufwachte. Offensichtlich hatte sie die Musik so entspannt, dass sie glatt eingenickt war. Sie lächelte im Schlaf. Da sie friedlich schlief, beschloss ich, sie trotz allem nicht zu wecken. Die drohenden Nackenschmerzen nahm ich in Kauf, sie würden schnell abklingen. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Wenn der Zug den Hauptbahnhof von Hannover pünktlich erreichen sollte, lag noch über eine Stunde Fahrtzeit vor uns. Das mit der Pünktlichkeit bezweifelte ich jedoch, denn wir hatten zum jetzigen Zeitpunkt bereits 15 Minuten Verspätung. Ich überlegte, ob ich meinen Eltern die Verspätung telefonisch ankündigen sollte, damit sie nicht unnötig lange auf mich warten mussten. Sie hatten darauf bestanden, mich vom Bahnhof abzuholen. Ein Veto wäre zwecklos gewesen. Ich zögerte und gab die Hoffnung nicht auf, dass der Zug die Verspätung unterwegs aufholen würde. Daher beschloss ich, ihnen später Bescheid zu geben, wenn absehbar war, dass wir in keinem Fall pünktlich ankommen würden. Ich sah aus dem Fenster. Auf dem Bahnsteig herrschte ununterbrochen emsiges Treiben. Einige Reisende hetzten mit schnellen Schritten durch die Menge, den Blick abwechselnd auf die Uhr und die Anzeigetafeln gerichtet. Ihren Gesichtern entnahm ich, dass sie auf dem Weg zu ihrem Anschlusszug waren, den sie unter keinen Umständen verpassen durften. Andere hatten es weniger eilig. Sie warteten gelangweilt neben ihrem Gepäck sitzend oder stehend, einen Pappbecher mit Kaffee oder eine Papiertüte mit etwas Essbarem vom nahe gelegenen Backshop darin in der Hand. Eine Mutter mit zwei Kindern bahnte sich den Weg auf eine ältere Frau zu, die die Großmutter zu sein schien, denn die Kinder rissen freudig die Arme in die Höhe und stürmten auf die Frau zu. Die Oma stellte ihren Koffer ab, ging leicht in die Knie und nahm ihre beiden Enkel mit ausgebreiteten Armen in Empfang, um sie dann fest an sich zu drücken. Eine rührende Szene wie aus einem Film. Doch hier führte das echte Leben Regie. Wie viele Geschichten oder Schicksale spielten sich da draußen in diesem Augenblick wohl ab, überlegte ich. Ein schriller Pfiff ertönte, und der Zug setzte sich in Bewegung. Wir ließen den Bahnhof bald hinter uns. Nachdem wir die Stadt mit ihren hohen Häusern, Straßen und Gewerbegebieten verlassen hatten, fuhren...
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