II. Durch den Kaukasus
Inhaltsverzeichnis Während meiner Bemühungen, die grauenhaften Folgen der schweren Hungersnöte von 1921 und 1922 in Rußland zu mildern, traf ich in Moskau den Präsidenten der Republik Dagestan, Samursky. Auch in Dagestan war die Not groß, und Samursky bat mich inständig, die Zustände mit eigenen Augen kennenzulernen und nach Möglichkeit zu helfen. Ich konnte seinem Ruf damals nicht folgen und schickte nur einen Vorrat notwendiger Heilmittel, doch versprach ich, ihn später einmal bei Gelegenheit zu besuchen. So hatte ich denn jetzt von ihm und seiner Regierung eine herzliche telegraphische Einladung bekommen, über Dagestan nach Hause zu reisen. Ich konnte nicht widerstehen und telegraphierte zurück, daß Quisling und ich über Wladikawkas nach Dagestan kommen würden.
Wir wollten die lange Eisenbahnfahrt in weitem Bogen östlich um den Kaukasus herum über Baku, dann an der Küste des Kaspischen Meeres entlang und über Derbent nach Dagestan vermeiden und statt dessen mit dem Automobil auf der sogenannten georgischen Militärstraße quer über den Kaukasus fahren. Man erzählte uns allerlei wilde Gerüchte von den Abenteuern, die einem auf diesem Wege zustoßen können. Im vergangenen Jahr war ein Postkutscher von der Seite seines Fahrgastes abgeschossen worden, der Fahrgast selbst wurde bis auf die Haut ausgeplündert und nackt seinem Schicksal überlassen. In diesem Frühjahr war ein Reisender im Postauto von einer Kugel getroffen worden. Beide Kniegelenke waren durchschlagen, und der Arme ist nun auf beiden Beinen lahm. Die unbändigen Gebirgler in ihren abgelegenen Hochtälern, wo jeder Mann bis an die Zähne bewaffnet einhergeht, können ihre alten Gewohnheiten nicht lassen. Seit kurzem, so hieß es, sei aber der Weg sicher.
Die Bergkette des Kaukasus
Die Kaukasuskette erstreckt sich als scharf abgesetzter, verhältnismäßig schmaler Rücken ohne Unterbrechung quer über die Landbrücke zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer. Sie beginnt bei Baku im Südosten und endet am Asowschen Meer im Nordwesten. Bei einer Länge von 1100 und einer Breite von 70 bis 170 Kilometern bedeckt sie eine Fläche von mehr als 120?000 Quadratkilometern. Auf einer Strecke von 700 Kilometern sind die Berge über 3000 Meter hoch. Diese Felsenmauer mit ihren engen, steilen und schwer gangbaren Pässen, die 2300 bis 3000 Meter über dem Meere liegen, hat in der Geschichte eine wichtige Rolle gespielt. Sie war ein Hindernis für die von Norden und Süden her brandenden Völkerwanderungen und zwang die Völkermassen, die sich heranwälzten, ihren Weg entweder östlich am Kaspischen Meer oder westlich am Schwarzen Meer entlang zu nehmen.
Der Kaukasus verdankt seine Entstehung einer mächtigen Wölbung oder Faltung der Erdkruste. Im Norden verlaufen einige kleinere Falten in gleicher Richtung. Die Hauptfalte ist in der Mitte zwischen den Quellen des Kuban und Terek am höchsten aufgebauscht. Dort ist sie nach Süden übergefallen und bildet schwindelnde Abstürze. Der Rücken besteht in diesem mittleren Teil aus kristallinischem, granitartigem Gestein. Vielleicht liegt hier das eigentliche Urgestein zu Tage, das in andern Teilen des Gebirges unter dicken Ablagerungsschichten verborgen liegt.
Nördlich von diesem Urgesteinsrücken sind in verhältnismäßig später Zeit zwei gewaltige Vulkanmassen aufgebrochen, die jetzt über dem Urgestein ruhen: im Nordwesten der Vulkan Elbrus oder Dschin-Padischan (»der Geisterkönig«, 5629 m), der höchste Gipfel des Kaukasus, und im Südosten der Vulkan Kasbek (5043 m). Diese Vulkane bilden die höchsten Gipfel der Bergkette, mehr als 20 unter ihnen sind höher als der Montblanc, häufig sind sie vom Hauptrücken und der Wasserscheide durch Längstäler getrennt. Sie bestehen großenteils aus Trachyten, aber auch Basaltlava ergoß sich in gewaltigen Strömen über ihre Felslenden herab.
Der südöstliche Teil der Gebirgskette vom Quellgebiet des Terek, nahe dem Kasbek, bis zum Kaspischen Meer und der Gegend von Baku, besteht zum großen Teil aus Sedimentärschichten, die in lückenloser Folge Lias-, Jura-, Kreideformationen und die Anfänge des Tertiärs aufweisen. Der nördliche Rücken, die sogenannte Andikette in Dagestan, verläuft zwischen Tschetschenien und der Ebene westlich von Petrowsk und scheint eine Art Fortsetzung des Gebirges von Meschien und des Surnamrückens mit der niedrigen Wasserscheide zwischen den Tälern des Rion und Kura zu sein. Sie erstreckt sich von Südwesten nach Nordosten und wendet sich dort, wo die Hauptkette nach Südosten abbiegt, ostnordöstlich und östlich. Auf diese Weise ist der Gebirgsgürtel im Bergland von Dagestan breiter als im mittleren und westlichen Teil des Kaukasus. Dafür sind in diesem östlichen und südöstlichen Teil die Berge nicht so hoch, doch gibt es auch hier Gipfel von mehr als 4000 Metern.
Die Südwand des Kaukasus stürzt gegen die seichten Talmulden des Kura und Rion ab, der Nordhang senkt sich gegen die flachen Steppen Südostrußlands.
Die Flüsse folgen droben im Gebirge meist den Längstälern, fließen also in der Richtung der Bergkette, dann aber durchbrechen sie irgendwo in tiefen engen Schluchten den Felsrücken. Die Schneegrenze liegt auf der Südseite des Kaukasus bei 2900 bis 3500 Meter, auf der Nordseite bei 3300 bis 3900 Meter. Der Kaukasus hatte wie die Alpen seine Eiszeiten. Er war von ausgedehnten Schnee- und Eisgletschern bedeckt, die weit bis ins Tiefland hinableckten. Sonderbarerweise sind aber die Täler kaum U-förmig ausgehöhlt, wie das sonst der Fall zu sein pflegt, wo Gletscher am Werk waren. Auch die tiefen Binnenseebecken fehlen hier. Sie sind sonst ein besonderes Kennzeichen der vom Eis ausgearbeiteten Landstriche, wie etwa Norwegens oder der Schweiz. Die Kaukasustäler sind tief und eng zwischen V-förmig stehende Wände eingeschnitten, der Talgrund ist also schmal, und oft kann man sich nur mühselig zwischen den steilen Felswänden hindurchzwängen. Die Flüsse haben sich manchmal ihren Weg durch tiefe, schmale Canons gebohrt. Seen gibt es nicht, die Flüsse tosen durch ihre engen Klammen der Ebene zu, ihr Wasser ist meist trüb, weil es nirgends zum Stillstand kommt und sich unterwegs in keinem See klärt. Dadurch ist das Wasser zur Berieselung von Ackergrund besonders geeignet, auch hinterläßt es am Fuß des Gebirges Ablagerungen. Die ungewohnte Form der Täler ist wohl darauf zurückzuführen, daß die Eisgletscher an den steilen Wänden nur wenig Widerstand fanden, Wasser und Frost haben hier das Gestein stärker ausgewaschen, als das Gletschergeschiebe es abschleifen konnte. Die Gesteinsarten sind größtenteils weich, konnten also dem Frost und dem Wasser nur wenig Widerstand leisten.
Da die Höhenrücken des Kaukasus allmählich durch Faltung und Zusammenpressung der Erdkruste entstanden, müssen sie ursprünglich viel niedriger gewesen sein als heute. Die Erosion hat dann tiefe Täler in die Rücken eingeschnitten und manche Bodenerhebung überhaupt abgetragen. Dadurch wurde die Erdkruste leichter und hob sich entsprechend höher. Die von der Erosion nur wenig angegriffenen Gipfel und Rücken zwischen den Tälern wurden auf diese Weise bis zu ihrer heutigen Höhe emporgehoben.
Noch jetzt arbeitet dieser Teil der Erdrinde und wird oft von gewaltsamen Erdbeben heimgesucht. Erst vor wenigen Jahren fiel Leninakan in Nordarmenien einem Erdbeben zum Opfer. Auf solche vulkanische Ereignisse geht wahrscheinlich die Sage vom Vogel Simurg zurück, der auf dem Gipfel des Dschin-Padischan (Geisterkönig, Elbrus) horstet. Der Simurg sieht mit dem einen Auge in die Vergangenheit, mit dem andern in die Zukunft. Wenn er sich aufschwingt, zittert die Erde unter seinem Flügelschlag, die Stürme heulen, das Meer gerät in Aufruhr, und alle Mächte der Tiefe erwachen aus ihrem Schlaf.
Die Hebungen und Senkungen der Erdoberfläche im Kaukasus und in den angrenzenden Landstrichen ließen wohl auch so viele warme Quellen an der Süd- und Nordseite des Gebirgszuges entstehen. Außerdem gibt es eine Menge kalter Mineralquellen. Diese warmen und kalten schwefel-, eisen-, alkali-, jod- und bromhaltigen Quellen sind von alters her wegen ihrer Heilkraft berühmt, viele Kurorte und Bäder sind zur Heilung von allerlei Krankheiten und Leiden entstanden. Der Sage nach sollen schon die Soldaten Alexanders des Großen an solchen Quellen Heilung gefunden haben.
In den Ausläufern des eigenartigen Gebirges wurde an vielen Stellen, namentlich in den jüngsten geologischen Schichten, Naphtha gefunden. Am bekanntesten ist das Naphthagebiet bei Baku am Kaspischen Meer und weiter südlich, jenseits der Kuramündung. Ein anderes reiches Feld, das heute wohl ebensoviel Öl liefert wie die Naphthafelder von Baku, ist die Gegend von Grosnyj am Südufer des Terek und an seinem Nebenfluß Sunsha. Auch in der Ebene südlich von Petrowsk, an der Küste des Kaspischen Meeres, hat man Ölquellen gefunden und ebenso am entgegengesetzten nordwestlichen Ende des Gebirges, und zwar auf der Nordseite, nahe der Halbinsel Taman am Asowschen Meer. Endlich wird auch in Georgien am Südabhang des Gebirges zwischen dem Kura und seinem Nebenfluß Alasán Öl gewonnen. An mehreren Stellen entströmt dem Erdboden brennbares Gas, dessen Flammen schon vor urdenklichen Zeiten den Anlaß zur Feueranbetung gegeben haben mögen.
Große Metallschätze hat man bis jetzt im Kaukasus noch nicht gefunden. Zwar führen einige Flüsse etwas Gold, doch lohnt die Ausbeutung nicht, wenn auch der alte Strabo vom Hörensagen berichtete, die Flüsse seien »reich an Gold, das die Barbaren mit Hilfe durchlöcherter Häute und vermoderter Tierfelle auswaschen, woraus die Sage vom Goldenen Vlies...