Schweitzer Fachinformationen
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Meine Anwältin sagte, sie sei gebeten worden, mir einen handgeschriebenen Brief zu übergeben.
»Wie schon gesagt, ich bin weder zu einem Vergleich bereit noch dazu, die Anklage fallen zu lassen. Verraten Sie mir nichts, weder Namen noch Alter noch Geschlecht. Ich bleibe dabei, das Strafverfahren wird wie geplant durchgezogen.«
Am anderen Ende der Leitung hielt Frau Kim zögernd inne, bevor sie das Gespräch fortsetzte:
»Der Brief ist von der Person, die den Großteil der Hasskommentare geschrieben hat. Es klang, als würden Sie sich kennen. Sie sagt, ich soll Ihnen nur den Brief aushändigen, es gehe ihr gar nicht darum, um Nachsicht zu bitten. Ich habe den Brief gelesen, es steht eigentlich nichts Besonderes drin. Da heißt es, Sie hätten nach Ihrem Vortrag an der Yonju-Universität etwas zusammen getrunken.«
An der Yonju-Universität? Der Yonju-Universität in der Provinz Chungcheong? Das war doch nicht etwa meine Lehrerin? Ich erwiderte hastig:
»Ich komme vorbei und hole ihn ab!«
Die E-Mail meiner ehemaligen Lehrerin hatte mich vor einem Jahr erreicht. Zu dem Zeitpunkt hatte ich etliche Zwischenfälle hinter mir. Die Berichte in den Medien, die Leserrezensionen, die Kritiken und die Verkaufszahlen waren mittlerweile etwas abgeflaut. Auch die Einladungen zu Vorträgen in verschiedenen Institutionen, Bibliotheken und Schulen wurden weniger. Davor war ich derart mit E-Mail-Anfragen überschüttet worden, dass ich irgendwann nicht mehr mit den Absagen hinterherkam.
Sobald ich meinen Laptop eingeschaltet hatte, besuchte ich wie immer erst einmal den Onlineshop catpre.com und sah mir die Bewertungen von Spielsachen und Snacks für Katzen an. Ich las die neuesten Artikel der Wochenzeitschrift Sisain und des Online-Kulturmagazins Channel Yes, überflog einen Foodblog, dessen Betreiber ich zwar nicht kannte, dem ich mich jedoch verbunden fühlte, besuchte auf Instagram ein Profil mit Bildern von kunstvoll arrangierten Büchern und ein Twitter-Profil, auf dem über Gott und die Welt hergezogen wurde. Als ich dann meine Mailbox öffnete, fiel mir eine neue E-Mail ins Auge. Von Kim Hyewon (Lehrerin der Unjin-Mädchenoberschule).
Unjin-Mädchenoberschule. Meine alte Schule. Erinnerungen aus dieser Zeit hatte ich alle verdrängt. Beim Lesen der drei Silben Kim-Hye-won öffnete sich knarrend und schwerfällig eine alte Tür, die ich bislang mit Mühe verschlossen gehalten hatte. Der Roman, den mir meine ehemalige Lehrerin geliehen hatte, stand immer noch in meinem Bücherregal. Der Buchumschlag war mittlerweile verblichen und die restlos vergilbten Buchseiten verströmten diesen speziellen muffigen Geruch alter Bücher.
Es war in meinem dritten und letzten Jahr an der Oberschule, als in den Sommerferien gerade der Zusatzunterricht stattfand. Der Aufsichtslehrer und der Sportlehrer, das einzige Mitglied des Lehrpersonals, das noch einen Rohrstock bei sich trug, waren beide nicht da. Solange wir nichts allzu Auffälliges trugen, störten sich unsere Klassenlehrer nicht daran, dass wir nicht in Schuluniform zum Unterricht kamen. Auch an diesem Tag war ich einfach in einem weißen Poloshirt und einer kurzen Sporthose zur Schule gegangen, als ich am Schultor geradewegs dem Aufsichtslehrer in die Arme lief.
Er wollte ein Exempel an mir statuieren. Niemand von uns trug die Schuluniform, aber ich allein wurde von dem Aufsichtslehrer abwechselnd am Schulranzen, am Arm oder am Ohrläppchen gepackt und ins Lehrerzimmer gezerrt. Dabei rief der Aufsichtslehrer unentwegt: »Ihr Rotznasen, ihr ungezogenen Rotznasen, ihr schludrigen Rotznasen!« Es war offensichtlich, dass seine Wut nicht nur mir galt, sondern allen in meiner Stufe, die ihre Uniform nicht trugen.
Ich bat ihn um Verzeihung, versprach, ich würde von nun an immer meine Uniform tragen. Aber alles Bitten war vergebens und ich wurde mitten im Lehrerzimmer geohrfeigt. Alle für den Zusatzunterricht zuständigen Lehrer waren im Raum. Einen Moment lang herrschte Stille. Mit einem leisen Quietschen rückte mein Klassenlehrer seinen Stuhl betont langsam nach hinten und erhob sich. Er baute sich vor dem Aufsichtslehrer auf und schubste ihn mit der Handfläche mehrmals gegen die linke Schulter.
»Was fällt Ihnen ein? Wie gehen Sie mit meiner Schülerin um?«
Gerade als der nach hinten taumelnde Aufsichtslehrer meinen Klassenlehrer zurückschubsen wollte, fasste mich eine Lehrerin - es war Frau Kim Hyewon - an der Schulter und zog mich weg.
»Komm, wir gehen nach draußen.«
Hinter dem Nebengebäude, in dem das Lehrerzimmer lag, erstreckte sich ein kleiner Hügelwald. Ich wusste nicht, von wem der Wald gepflegt wurde, ob er überhaupt gepflegt wurde, jedenfalls blühten dort zu jeder Jahreszeit andere Blumen. Zwischen den Robinien verlief ein Pfad, auf dem zwei Personen nebeneinander spazieren konnten, und am Rand waren Bänke weit genug voneinander entfernt aufgestellt, dass man sich dort ungestört unterhalten konnte. Dorthin führte mich Frau Kim.
»Es tut mir leid.«
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Frau Kim sich bei mir entschuldigen würde. Schließlich hatte mich der Aufsichtslehrer geohrfeigt und den Streit hatte mein Klassenlehrer angefangen. Als ich ihre Entschuldigung hörte, brachen sich die Tränen Bahn, die ich bis dahin zurückgehalten hatte. Ich weinte eine ganze Weile, das Gesicht in den Händen vergraben. Als ich mit Mühe geschafft hatte, meine Atmung zu beruhigen, fragte ich unvermittelt:
»Hätte mich der Aufsichtslehrer auch geschlagen, wenn ich Baek Minju wäre?«
Das Gesicht meiner Lehrerin, das dem Weinen nah war, verzerrte sich erst noch mehr, um dann in Lachen umzuschlagen. Baek Minju war die Schülervertreterin und Schulbeste im geisteswissenschaftlichen Zweig. Später beim Schulabschluss erhielt sie den Mugungwha-Preis, der nur an Absolventinnen mit herausragenden Noten und tadellosem Benehmen verliehen wurde. Über das Auswahlverfahren wurde nichts bekannt gegeben, doch niemand beschwerte sich darüber. So eine Schülerin war Minju. Meine Lehrerin strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und antwortete sanft:
»Minju hätte er natürlich nicht geohrfeigt.«
Ich musste ebenfalls lachen. Anscheinend hatte meine Lehrerin beim Verlassen des Lehrerzimmers in aller Eile ihre Sachen gegriffen und sich ein Koreanisch-Arbeitsbuch und einen Roman unter den Arm geklemmt. Letzteren hielt sie mir hin und fragte:
»Willst du dir das Buch ausleihen?«
Obwohl die Frage völlig aus dem Zusammenhang gerissen war, nickte ich und nahm es entgegen.
Über den dunkelgrünen Hintergrund zog sich horizontal ein orangefarbenes Rechteck, in dem wie mit Schreibmaschine getippt Ein Geschenk des Vogels stand. Ich las das Buch stückweise in den kleinen Pausen und in der Mittagspause. Auch in der Stunde für freies Lernen setzte ich die Lektüre heimlich fort, ohne dass es der Lehrer merkte, und wieder zu Hause las ich bis tief in die Nacht und schlief erst ein, als ich mit der letzten Seite fertig war. Bis zum Schulabschluss las ich das Buch ungefähr zwanzigmal. Das zweite Halbjahr meines letzten Schuljahrs verbrachte ich einzig und allein damit, für den nationalen Test zum Erwerb der Hochschulreife zu lernen und Ein Geschenk des Vogels zu lesen.
Ich war nicht mehr dazu gekommen, meiner Lehrerin das Buch zurückzugeben. Ich hatte das Gefühl, ohne dieses Buch keinen einzigen Tag aushalten zu können. So machte ich meinen Schulabschluss, bewarb mich an verschiedenen Unis, ging zu Aufnahme-Gesprächen und nahm im Rahmen der Aufnahmeprüfung auch am Essay-Test teil. Als schließlich die Abschlussfeier herangerückt war, war das Buch in einem erbärmlichen Zustand. Ich hatte so oft darin geblättert und die Buchseiten flach auseinandergedrückt, dass das Buch fast doppelt so dick war wie zuvor und die Kanten ganz abgewetzt waren. Während ich unschlüssig war, ob ich mich dafür entschuldigen und das Buch so zurückgeben oder gleich ein neues Exemplar besorgen sollte, und damit die Entscheidung hinauszögerte, hatte ich unversehens die Schule verlassen. Damals war ich unsicher und unbeholfen, genau wie jetzt auch noch.
Als ich unter der in der Mail angegebenen Telefonnummer anrief, nahm meine Lehrerin ab.
»Choah?«
»Oh, hatten Sie meine Nummer schon?«
»Nein, aber ich konnte mir denken, dass du es bist. Ich habe gerade eine Lesebestätigung für meine Mail erhalten.«
Da wir lange keinen Kontakt gehabt hatten, berichteten wir einander erst einmal, wie es uns ergangen war.
Meine Lehrerin arbeitete nicht mehr an der Unjin-Mädchenoberschule. Sie lehrte an einer kleinen Privatuniversität in Yonju, einer Stadt in der Provinz Chungcheong, im Fachbereich für Medien und kreatives Schreiben.
Sie hatte während ihrer Lehrtätigkeit als Koreanisch-Lehrerin an der Unjin-Mädchenoberschule nebenbei ihren Masterabschluss gemacht und Promotionskurse besucht. Anschließend hatte sie ihre Arbeit aufgegeben und als Lehrbeauftragte an der Uni gearbeitet und dabei ihre Doktorarbeit geschrieben. Sowohl in finanzieller als auch psychischer Hinsicht war es für sie eine harte Zeit gewesen. Dann hatte sie die Ausschreibung für eine befristete Professur an der Yonju-Universität entdeckt und sich um die Stelle beworben. Sie wurde zwar angenommen, aber es handelte sich um einen Lehrauftrag, der jedes Jahr aufs Neue verlängert werden musste. Sie habe eben Glück gehabt, meinte sie. Schließlich sei sie nicht mehr die Jüngste, habe weder eine Elite-Universität besucht noch könne sie einen...
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