- Die Partnerschaft:
Dieser Grundpfeiler, vertraut zu sein mit dem richtigen Partner, findet sich nicht nur in der Menschenwelt. Die Natur lässt oftmals Paare zusammenkommen, die für den Nachwuchs sorgen und füreinander da sind. Finden sich in der Tierwelt oftmals große Gruppen einer Art zusammen, um eine Gemeinschaft zu bilden, ist es bei uns Menschen nur bedingt so. Wir sind oft auf der Suche nach dem Einen oder der Einen. Dieses Streben ist ganz natürlich. Jeder von uns wünscht sich einen festen Partner oder eine fixe Partnerin an der Seite.
Die zweite Umschreibung des Ikigai umfasst eher ein subjektives Wohlgefühl - zumindest würde dies die westliche Welt so begreifen. Im Französischen wird mit den Ausdrücken "la joie de vivre" (dt.: "Die Freude am Leben") sowie "raison d'être" (dt.: "Seinsgrund") eine ähnliche Sichtweise umschrieben. Psychologen würden das subjektive Wohlgefühl vielleicht als "Lebensinbrunst" bezeichnen. Eigentlich versteht der Westen den Begriff eher als "gesunde Leidenschaft". Die Psychiaterin Mieko Kamiya erläutert in ihrem Buch "Ikigai ni Tsuite" den Begriff "Ikigai" folgendermaßen:
"Es scheint, dass das Wort "Ikigai" nur in der japanischen Sprache vorkommt. [ .] Laut Wörterbuch bedeutet "Ikigai" "Kraft, die man braucht, um in dieser Welt zu leben, Glück am Leben zu sein, Nutzen und Wirksamkeit". Wenn wir versuchen, es ins Englische, Deutsche, Französische usw. zu übersetzen, scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, es anders zu definieren als "lebenswert" oder "Wert oder Sinn zu leben". So zeigt uns das Wort . im Vergleich zu philosophischen theoretischen Konzepten, wie sehr die japanische Sprache mehrdeutig ist, es aber gerade deshalb eine Wirkung von Nachhall und Amplitude hat."
Zitat: Mieko Kamiya in Sato, Kana. IKIGAI: Wohlbefinden steigern nach fernöstlicher Philosophie. Japans Geheimnis für mehr Seelenruhe & ein erfülltes Leben. Deutsche Kindle-Ausgabe, S.10.
Es gibt verschiedene Autoren japanischer, aber auch westlicher Herkunft, die sich mit dem Thema eingehend beschäftigt haben. Einige sehen den Hintergrund der Entstehung der Ikigai-Methode eher in der Erziehung der Kinder. Japanische Kinder wachsen mit dem Credo auf, dass sie zu einer Gruppe gehören und sich anpassen müssen. Im westlichen Teil der Erde werden Kinder eher dahin gehend gefördert, ihre eigene individuelle Persönlichkeit zu entwickeln. Zwangsläufig laufen Japaner eher Gefahr, aus einem bestimmten Kreislauf nicht mehr herauszukommen.
Die eben zitierte Psychiaterin Mieko Kamiya, die zwischen 1914 und 1979 gelebt hat, war der Ansicht, dass Menschen dazu neigen können, ihre soziale Position aufzugeben, um etwas zu erreichen, was sie schon immer einmal erreichen wollten. Nehmen wir das Beispiel einer Mutter. Die Rolle einer Mutter ist sowohl von westlicher als auch von fernöstlicher Vorstellung geprägt wie kaum eine andere Rolle in unserer Gesellschaft. Doch gerade Mütter können dazu neigen, sich nicht "nur" mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter abzufinden. Sie möchten mehr vom Leben. In den 70er-Jahren kam es überall auf der Welt zum Leitgedanken der Emanzipation. Frauen sollten selbstbestimmt entscheiden, ob sie Kinder möchten, ob sie heiraten oder ob sie einen Beruf ergreifen möchten. Und viele Frauen haben sich seitdem für alle drei Wege gleichzeitig entschieden.
Die Frau von heute möchte nämlich ihrer Berufung nachgehen - egal, wie diese Berufung aussehen mag. Es gibt natürlich ebenso viele Frauen, die absolut damit zufrieden sind, einfach "nur" Hausfrau und Mutter zu sein. Egal, für welchen Weg sich ein Mensch entscheidet; er ist immer richtig, solange die gewisse Portion Leidenschaft fürs Leben mitschwingt. Nach Kamiya ist Ikigai also absolut individuell zu betrachten. Menschen, die nach der Ikigai-Methode leben, sind ihrer Meinung nach Menschen, die nicht zweckmäßig nur dem Gemeinnutz "dienen", sondern Menschen, die ihrer eigenen Leidenschaft sowie Faszination folgen, um die selbstgewählten Ziele zu erreichen.
Der Buddhist Nikkyo Niwano, der von 1906 bis 1999 lebte, sah vor allem das eigene Umfeld sowie die Familie, die externe Arbeit und die Freizeit als Eckpfeiler des Ikigai. Ferner gehörten seiner Meinung nach ebenso, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, der Zusammenhalt untereinander sowie die richtige Portion Opferbereitschaft dazu. In seiner schriftlichen Abhandlung betont er 1969, dass vor allem Senioren und Seniorinnen weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen sollten. Vielmehr noch sollten die älteren Herrschaften sowie Damen aktiv an der Mitgestaltung der Gesellschaft arbeiten. Der Hintergedanke hierbei ist: "Man solle eher für andere etwas tun als für sich selbst." Das Ikigai einer jeden einzelnen Person wächst erst durch die eigene Rolle in der Gemeinschaft. Damit hat Niwano für ein diszipliniertes japanisches Volk plädiert, das dem Wohle aller dient und nicht dem einzelnen Individuum.
Im Ruhestand ist Ikigai für viele Japaner bis heute eine Herausforderung. Seit mehreren Jahrzehnten bemühen sich jedoch japanische Unternehmen, älteren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen dabei zu helfen, ihr Ikigai zu finden. Dieses Bestreben liegt darin begründet, dass die Generation Mitarbeiter, die zwischen 1926 und 1935 geboren wurde, ihr Lebensglück nur in der Arbeit sehen konnte. Im Ruhestand folgten dann Depressionen, die für das gesamte Umfeld zu einer echten Belastung wurden. Die Männer dieser Generation werden "Showa-hitoketa-Männer" genannt. "Showa" steht hierbei für die Regierungszeit zwischen 1926 und 1989. Der Begriff entstand, weil diese Männer ihr Lebtag für eine Firma gearbeitet hatten und nichts weiter konnten, als ihrer Arbeit nachzugehen. Professor Gordon Mathews (Anthropologe an der Chinese University), der sich ebenfalls mit der japanischen Kultur auseinandergesetzt hat, sagt Folgendes über diese spezielle Generation japanischer Männer:
". können nicht tanzen, können nicht Englisch sprechen, wissen nur, wie man Befehle befolgt, essen alles auf, was man ihnen auf den Teller legt, und finden ihr Ikigai nur in der Arbeit."
Zitat: Gordon Mathews (Mathews, Gordon. What Makes Life Worth Living? How Japanese and Americans Make Sense of Their Worlds. Kapitel 1, S. 12-26)
Allerdings darf man nicht vergessen, dass diese Männer den Grundstein für die aufstrebende Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg legten. Dies taten sie mit minimalsten Ausgleichsmöglichkeiten in Form von Freizeit und Erholung. Das Ikigai dieser Männer ist und war die Arbeit. Fällt sie weg, dann fällt die gewohnte Routine weg. Da nie etwas anderes erlernt wurde, ist es nur allzu verständlich, dass es diese Generation im Rentenalter nicht leicht hat. So lobenswert es von Arbeitgeberseite auch ist, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen künftig vor einer solchen Altersdepression zu schützen - es gibt auch kritische Stimmen diesem Unterfangen gegenüber.
Viele Experten sehen Ikigai als eine persönliche Angelegenheit und nichts, was Hilfestellung von anderen benötigt. Die Selbstfindung bedeutet eben, dass man sich selbst finden muss, aus sich selbst heraus - und nicht durch den äußeren Einfluss von anderen.
Die Sichtweise von Kamiya wurde vom japanischen Psychiater Tsukasa Kobayashi gestützt. Allerdings kritisierte er schon früh die konventionellen Normen der japanischen Bevölkerung, denn es zeichnete sich bereits ab, dass Japaner sich wie Arbeitsroboter verhielten, die der Auffassung waren, dass viel Arbeit der Familie, dem Volk und der Firma dient. Dieser Illusion sind Japaner zuweilen bis heute unterlegen. Aber innerhalb des Arbeitsprozesses wird den japanischen Angestellten klar, dass sie jederzeit leicht austauschbar sind. Zurück bleibt dann oftmals nur eine große Leere, denn was hat man in seinem Leben groß erreicht, als sich nur "zu Tode zu arbeiten"?! Kobayashi ist der Ansicht, dass Ikigai niemals durch materielle Güter erreicht werden kann. Ikigai mit der Arbeit gleichzusetzen, sei der falsche Ansatz. Ikigai ist mehr als das, denn Ikigai umschreibt unsere Lebenserfahrung, die Erkenntnisse, die wir im Leben sammeln, und die Befriedigung unserer sehnlichsten Wünsche sowie Träume. Ikigai ist die Liebe und das Lebensglück - dabei ist es immer individuell zu verstehen, denn jeder Mensch hat andere Bedürfnisse. Ikigai muss dabei ohne Zwang, Drogen oder Kritiksucht stattfinden. Das eigene Lebensglück wird eben nur durch jeden Einzelnen von uns individuell erreicht. Kobayashi vertritt also ähnliche Ansichten wie Kamiya und ordnet sich, wie sie, eher der westlichen Auffassung von Ikigai unter.
Mit zunehmendem materiellen Wohlstand Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre wurde alles verfügbar. Es galt, sein eigenes Ikigai auch zu erkennen, wenn man im Überfluss lebte. Die Medien in Japan ließen sich damals auf das Thema ein, doch der Diskurs verschwand zwischenzeitig, als es zunehmend mehr Krisen im Land gab. Unsere Wohlstandsgesellschaft heutzutage rückt die Wichtigkeit der Suche nach dem Lebenssinn wieder in den Fokus.
So oder so lässt sich der Begriff "Ikigai" bis in das Japan des 14. Jahrhunderts zurückverfolgen. Geprägt wurde der Begriff dabei durch viele Menschen. Aber besonders Mieko Kamiya ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Die Psychiaterin gilt als "Schirmherrin" des heutigen Verständnisses von Ikigai. Laut Kamiya bedeutet eben die Individualität eines jeden Einzelnen auch, dass die Ikigai der Menschen unterschiedlicher Natur sein können. Für jeden hat Ikigai eine andere Bedeutung. Der eigene Weg kann nur gefunden werden, wenn uns die Gesellschaft...