Schweitzer Fachinformationen
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Tag 1
1
Der Himmel über Grado trug ein so tiefes Grau, dass er dunkel wirkte, dabei hatte der Abend noch gar nicht begonnen.
Emmanuele konnte sich Zeit lassen, der Supermarkt hatte noch eine Weile geöffnet.
Mit überkreuzten Beinen saß er auf einem abgebrochenen Stück Mauer und atmete den Geruch von Katzenpisse und scharf riechendem Unkraut ein. Nonna Marbella hätte den Namen sicher gekannt und aus Blüten, Blättern und Wurzeln vielleicht einen Tee gebraut. »Jeder Teil einer Pflanze birgt sein eigenes Geheimnis«, sagte sie immer. Meistens aber schmeckten diese Aufgüsse giftig, und schon beim Gedanken daran ekelte sich Emmanuele.
So wenig er Nonnas angeblich heilende Tees mochte, so sehr sehnte er sich danach, sie wieder im Wohnwagen vor der Kochplatte stehen zu sehen, sie in einer Sprache Lieder singen zu hören, die er nicht verstand.
Ihr wäre es auch gelungen, in seinem Streit mit den anderen Jungs aus der Wohnwagensiedlung zu schlichten, und mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sie ihm geraten, die Finger von Susanna zu lassen.
Ob er allerdings diesen Rat beherzigt hätte? Emmanuele war sich da nicht so sicher. Nicht umsonst erzählte man sich, dass er ein sturer Kerl sei.
Unglücklich kramte er die Zigarettenschachtel aus der Tasche seiner Jeans und zog die letzte Kippe heraus. Mit plötzlichem Zorn zerdrückte er das leere Päckchen in seiner Hand und schleuderte es in den Rinnstein. Dabei fiel ihm auf, dass der Asphalt Risse hatte, so trocken war es in den letzten Wochen gewesen.
Der Schein der Feuerzeugflamme erhellte kurz sein scharfkantiges Gesicht.
Flammen. Sie hatten Nonna Marbella verbrannt, jetzt wartete ihre Asche in einer Urne auf der Anrichte seines ältesten Bruders auf die Ewigkeit. Er bezweifelte, dass das Wissen darum seiner Oma zu Lebzeiten behagt hätte.
Er blickte aufs Meer. Die schweren Wolken schienen sich noch weiter gesenkt zu haben. Durch die Äste der Pinien schimmerte das Wasser, es wirkte nahezu schwarz und dehnte sich bis zum Horizont. Auf den Wellen wirbelte schmutziger Schaum. Die Vögel in den Baumkronen machten Radau, und das Keppeln der Möwen am Strand tönte lauter als sonst.
Tiere spürten als Erste ein aufziehendes Unwetter, das wusste er von Nonna Marbella. Auch Schlimmeres erahnten sie, lange bevor die Menschen es bemerkten.
Wie viele andere, so war auch seine Familie nach dem großen Erdbeben in Umbrien nach Norden, in sicherere Zonen, geflüchtet. Mit neuen Erdstößen rechnete Emmanuele aber nicht, auch wenn die Vögel sich merkwürdig verhielten. Schon eher mit einem heftigen Regen, der nun jederzeit über Grado hereinbrechen konnte. Vielleicht sollte er einen Zahn zulegen, um trocken in den Supermarkt zu gelangen.
Es war unglaublich schwül. Das T-Shirt klebte Emmanuele am Rücken und an der Brust, das Hoodie hatte er sich um die Hüfte gebunden. Schweiß perlte auf seiner Stirn.
Die Spitze der Marlboro glühte hellrot auf. Emmanuele zog noch ein letztes Mal daran, dann zertrat er den Stummel mit dem Absatz seines schäbigen Schuhs.
Schon lange wünschte er sich weiße Chucks, aber nein, er musste ja die Schuhe seiner großen Brüder auftragen. Langweilige braune Treter.
Der Wind hatte zugenommen. Er rauschte laut in den Pinien. Emmanuele blickte zum Himmel empor und sah Wolken über das Firmament rasen. Es kam ihm so vor, als jagten sie einander in wilder Hatz. Die Spannung, die in der Luft lag, stand kurz vor der Entladung.
Endlich. Ein Tropfen auf seinem Gesicht.
Einen Augenblick lang ersehnte er nichts mehr als einen erfrischenden Regenguss, dann besann er sich seines Auftrags und sprang los.
Er hetzte den staubigen Weg zwischen den Sträuchern entlang und bog auf die breitere Straße ein.
In diesem Moment barsten über ihm die Wolken. Der Regen, beleuchtet von den Scheinwerfern vorbeifahrender Autos, fiel zu Boden wie silberne Schnüre. Emmanuele genoss das herrliche Gefühl. Innerhalb weniger Minuten war er klatschnass.
Die Sohlen seiner abgetretenen Lederschuhe quietschten bei jedem Schritt auf dem nassen Asphalt.
Eine Zeit lang lief er parallel zu den Fahrzeugen, erst als eine ferne Ampel auf Rot schaltete und der Verkehr kurz ins Stocken geriet, drängte er sich zwischen den Autos hindurch auf die gegenüberliegende Seite der Straße.
Der Wind hatte noch weiter zugenommen und blies ihm den Regen ins Gesicht. Emmanuele schlüpfte in sein Hoodie, zog die Kapuze über sein Haar und lief weiter. Nur wenige Menschen hasteten an ihm vorbei, die gebückten Körper und Köpfe unter aufgespannten Schirmen. Von ihm nahm niemand Notiz. Es kam ihm vor, als löste er sich im Wind auf.
Immer stärker wurde der Regen, und Emmanuele versuchte, den Wasserfontänen auszuweichen, die von den Reifen der Autos auf den Gehweg geschleudert wurden. Längst schon fand er es gar nicht mehr lustig, nass durch die Gegend zu laufen.
Einmal rempelte er hart gegen den Rücken eines Mannes, der fluchend die Hand hob.
Ich bin also doch nicht unsichtbar, dachte er und sprang über die nächste Pfütze.
Endlich erreichte er den Eingang des Supermarktes, stieg die wenigen Stufen hinauf und verschwand im Inneren. Wohltuende Kühle empfing ihn. Es verschlug ihm einen Moment lang den Atem, der Supermarkt war gesteckt voll.
Emmanuele klappte sein Handy auf und scrollte zur Liste der Einkäufe.
Wofür seine Mutter das alles brauchte?
Mit dem Geld für die Lebensmittel hätte er Besseres angestellt. Aber seine Mama meinte, für die gesamte Familie zu kochen hieße, sie damit zusammenzuhalten. Dabei nutzten die anderen sie bloß aus.
Nicht nur seine beiden Brüder und deren faule Freundinnen, nein, auch viele Bewohner der angrenzenden Wohnwagen. Mama tat so, als wären Nonna Marbellas selbstlose Aufgaben ansatzlos auf sie übergegangen. Dabei kochte sie gar nicht gut. Zu wenig Salz, zu wenig Zucker und alles schmeckte gleich. Ein langweiliger Einheitsbrei. Emmanuele biss sich auf die Unterlippe, er fand es ziemlich gemein, so über seine Mutter zu denken, selbst wenn es die Wahrheit war. Er wusste, dass sie es nie wirklich leicht gehabt hatte. Vielleicht sollte er ihr einen der Rosensträuße mitbringen, die vorn an den Kassen auf Kunden warteten. Sie würde mit ihm schimpfen, aber er wusste ja, dass ihr Gemaule nur ihre Freude überdecken sollte.
Rasch lud er Salatgurken, Kohlkopf, Zucchini, Tomaten, Auberginen und einen Zwei-Kilo-Sack Kartoffeln in seinen Einkaufswagen. Mit einem Mal begann die Neonbeleuchtung zu flackern, und ein Krachen ließ den Raum vibrieren. Erschrocken sah Emmanuele nach oben.
Sosehr er den Regen vorhin herbeigewünscht hatte, Gewitter waren ihm schon als kleines Kind verhasst gewesen. Die Angst vor Kugelblitzen, die durch geschlossene Räume rollten und alles darin in Brand steckten, hatte ihn früher oft genug in das Bett seiner Eltern getrieben.
Aber nicht nur er, auch andere Kunden wirkten verunsichert. Ein Blick durch die Fensterfront nach draußen ließ erkennen, dass der Regen in wilden Kaskaden vom Himmel fiel und grelle Blitze in rasender Folge das tiefschwarze Firmament zerrissen.
Das Trommeln der Tropfen auf dem flachen Supermarktdach erinnerte Emmanuele an Hagelschauer, und beim Gedanken an den Heimweg zog er fröstelnd seine Schultern unter dem nassen T-Shirt-Stoff nach oben.
Hastig raffte er die restlichen Artikel zusammen, eine Tüte Bohnen, die verlangte Melone, Thunfischdosen und Nudeln. Jetzt noch schnell zu den Putzmitteln im hinteren Bereich und dann nichts wie nach Hause.
Nach der Packung Scheuermittel im untersten Regal des leeren Ganges musste er sich tief bücken, und in genau dieser Position überraschte ihn ein weiterer Knall, lauter noch als der erste. Wieder begann die Beleuchtung zu flackern, diesmal aber breitete sich gleich darauf Dunkelheit aus. Von irgendwoher kam ein Pfeifen, als würde ein riesiges Tier den Atem ausstoßen. Dann verstummten für einen Augenblick alle Geräusche.
Emmanuele sah sich orientierungslos um. Er konnte kaum die eigene Hand vor Augen erkennen.
Also stehen bleiben und abwarten.
Nach ein, zwei Minuten, die ihm viel länger erschienen, hörte er die schrille Stimme einer Verkäuferin, die etwas von einem Blitzschlag schrie, der den Strom lahmgelegt habe. Da sich die automatischen Türen eine Zeit lang nicht würden öffnen lassen, wurden die Kunden gebeten, sich ruhig zu verhalten. Geduld, verlangte die Stimme, Geduld und Ruhe!
Und damit, fast schlagartig, setzte Unruhe ein.
Kleinkinder plärrten, Frauen und Männer redeten durcheinander, riefen über die Reihen hinweg und versuchten, sich gegenseitig in der Lautstärke zu überbieten.
Und draußen tobte der Sturm.
Hunderterlei ging Emmanuele durch den Kopf. Konnte er die Situation ausnutzen? Einer seiner Brüder hatte wegen Diebstahls vor Gericht gestanden, eigentlich geriet die gesamte Sippe immer mal wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Nur er hatte sich bisher nichts zuschulden kommen lassen. Aber das lag eher an mangelnden Gelegenheiten als am nicht vorhandenen Willen.
Doch was gab es hier schon groß zu holen außer Kisten voll mit Bananen, Tiefkühlpizza, Erdbeereis und ätzend riechendem Putzzeug.
Nun, Schuhpaste brauchte er keine, aber vielleicht hatten sie Schuhe? Gegen coole Sneakers hätte er nichts einzuwenden. Er kramte nach seinem Feuerzeug und versuchte, sich im zuckenden Schein der Flamme einen Überblick zu verschaffen.
Nichts zu machen, es war alles zu unübersichtlich.
Erst durch die endlich wieder funktionierende Notbeleuchtung gelang es Emmanuele, sich langsam voranzutasten, aber immer noch gab es Stellen, die in völlige Dunkelheit gehüllt waren. Nicht nur...
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