Schweitzer Fachinformationen
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Guido Lippi nahm den Anruf der Rettungsstelle kurz vor Dienstschluss entgegen. Er fühlte sich müde, ausgelaugt, obwohl seine Nachtschicht ruhig verlaufen war.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, meldete er sich.
»Wir benötigen Unterstützung auf der Colmata in Grado. Ein Nachbar hatte beim Verlassen seiner Wohnung eine blutüberströmte Frau im Treppenhaus vorgefunden und den Notruf gewählt. Wir sind vor Ort, konnten aber leider nichts mehr ausrichten, die Frau war bereits tot. Ein Fremdverschulden kann definitiv nicht ausgeschlossen werden.«
»Wir sind schon auf dem Weg«, erklärte Lippi und ließ seine Stimme energisch klingen. Innerlich verfluchte er den Zeitpunkt des Gespräches. Ein wenig später nur, und das Team des heutigen Tages hätte den Fall übernommen.
Ausgerechnet an einem Samstag, dachte er missmutig. Nach dem gemeinsamen Frühstück zu Hause hatte er mit Stella, seiner Frau, und der kleinen Simone, ihrer Ziehtochter, einen Ausflug ins Aquarium von Triest machen wollen. Doch daraus würde nun mit Sicherheit nichts werden.
»Fanetti!«, rief er mürrisch ins angrenzende Büro. »Keine Zeit zum Pennen. Ich kann durch Wände sehen. Außerdem schnarchst du. Wie hält deine Ginevra das bloß aus? Wir müssen sofort los, hörst du? Es gibt eine Leiche.«
Sein Kollege Arturo Fanetti, von allen Legolas genannt, da er dem Elbenprinzen aus dem »Herrn der Ringe« in erstaunlicher Weise ähnelte, kam verschlafen hereingetrottet und blieb vor Lippis Schreibtisch stehen. Sein blonder Zopf hing über die linke Schulter, sein Gesicht wirkte zerknittert. »Was, wie, wohin?«, fragte er mit rauer Stimme und sah Lippi verwirrt an.
»Hast wohl auf dem Aktenstoß, den die Degrassi dir zum Abarbeiten hingelegt hat, von deiner Ginevra im Düsterwald geträumt?«
»Ginevras Familie stammt aus Aquileia«, murmelte Fanetti, der anscheinend immer noch im Halbwachzustand war.
»Reiß dich mal am Riemen. Geh ins Badezimmer, klatsch dir kaltes Wasser ins Gesicht und mach dich bereit.«
Arturo Fanetti schlurfte folgsam hinaus. Als er kurz darauf wieder in Lippis Büro erschien, hing sein Zopf über die rechte Schulter, und er wirkte eindeutig erfrischt, wenn auch ebenso wenig begeistert vom Einsatz wie Lippi.
»Bereit?«
»Geht wohl nicht anders«, entgegnete Fanetti.
»Das klingt so, als hätten wir heute beide etwas Besseres vorgehabt.«
»Mhmm«, brummte Fanetti, nickte verhalten und schlüpfte in seine hellblaue Blousonjacke. »Ich erledige noch schnell ein Telefonat und treffe dich am Dienstwagen.«
»Und ich gebe Rita Bescheid.«
Im Morgengrauen verließen sie den Parkplatz des Polizeigeländes. Lippi fuhr, und Fanetti lehnte neben ihm, zwar etwas belebter als zuvor, aber immer noch leicht benommen.
»Uns beiden würde Zolis berühmter Espresso jetzt den nötigen Schub verschaffen, was?«
»Das ist wahr.« Fanetti grinste Lippi schief an. »Ich scheine über einem Einbruch in ein Ferienhaus in der Pineta eingenickt zu sein. Sollte nicht vorkommen, passiert aber leider mitunter.«
»Der Einbruch oder dein Einschlafen?«
»Beides, würde ich mal so kategorisch wie selbstkritisch behaupten.«
Lippi lächelte amüsiert und fühlte sich sofort wohler. Mit einem lebhaften Kollegen an seiner Seite arbeitete er deutlich lieber als mit einem Polizisten, der völlig neben sich stand. »Sag mal, Arturo, was war denn heute bei dir geplant? Etwas Besonderes? Vielleicht etwas, wofür du eine Ladung Schlaf im Vorhinein gebraucht hättest?« Lippi kicherte über seinen eigenen Witz.
»Nun, wenn du es schon so genau wissen willst, Ginevra hat gestern extra gut eingekauft. Wir wollten uns nach dem Dienst ein Sektfrühstück gönnen und nach San Giorgio di Nogaro fahren, um später in dem urtümlichen Lokal >Alla Risata< in Richtung Marano Lagunare zu Mittag zu essen. Daraus wird jetzt höchstwahrscheinlich nichts werden.«
»Wirklich aufsehenerregend klingt das Ganze für mich ehrlich gesagt nicht. Der Sekt wird im Kühlschrank schon nicht schlecht werden, und essen gehen könnt ihr auch am Sonntag.«
»Für uns wäre es schon etwas Besonderes gewesen. Heute ist unser Jahrestag.«
Lippi hätte sich am liebsten geohrfeigt. Manchmal war er so ein unsensibler Narr, dass es selbst für ihn kaum zum Aushalten war. Stella wies ihn oft genug auf seine Unfähigkeit hin, Empathie zu entwickeln. Obwohl sie fand, dass sich das in letzter Zeit »deutlich gebessert« hatte. Was vermutlich in nicht geringem Ausmaß an ihrer häuslichen Situation lag.
Die kleine Simone, die noch nicht lange bei ihnen lebte, forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Nachdem ihre Mutter Bibiana, eine gemeinsame Freundin von Stella und seiner Vorgesetzten Commissaria Maddalena Degrassi, durch das fahrlässige Handeln eines Arztes verstorben war, hatten sie sich des verstörten Kindes angenommen.
Lippi fand sich zum ersten Mal in der Rolle eines Vaters wieder.
Für ihn war das alles andere als leicht. Stella hingegen schien in ihrem Muttersein völlig aufzugehen.
»So, da wären wir.« Er zeigte auf die angegebene Adresse und hielt nach einer passenden Stelle zum Parken Ausschau. Der Rettungswagen mit den zwei Sanitätern darin stand mit geöffneten Türen an der Hafenmauer. Sie betreuten einen älteren Mann. »Das wird der Nachbar sein, der die Tote gefunden hat. Mit dem reden wir später ausführlich.«
»Okay, lass mich aussteigen. Während du parkst, sage ich ihm, dass er auf uns warten soll.«
Lippi musste schmunzeln, als er Fanetti im Rückspiegel die Straße entlangeilen sah. Sein weißblonder Zopf baumelte beim Gehen auf dem schmalen Rücken hin und her. Er sieht wirklich aus wie ein Faun, dachte er.
Gemeinsam betraten sie das Haus und tauschten sich mit dem Arzt der Ambulanz aus. Die Frau schien mit einem schweren Gegenstand erschlagen worden zu sein. Genaueres wisse man allerdings erst, wenn die Rechtsmedizin die Tote auf dem Tisch hätte.
»Ist der Zeuge, den Ihre Kollegen im Wagen versorgen, vernehmungsfähig?«
»Der Arme steht gehörig unter Schock. Da sein Kreislauf verrücktspielte, habe ich Sauerstoff und eine Infusion verordnet. Ein Krankenhausaufenthalt wird aber wahrscheinlich nicht nötig sein.«
»Gut, denn wir müssen ihn befragen.«
»Klar doch«, sagte der junge Arzt freundlich und wies durch das Fenster nach draußen auf die vielen Schaulustigen, die sich inzwischen unten auf der Straße versammelt hatten. »Die werden Sie im Zaum halten müssen.«
Lippi nickte. »Arturo, rufst du bitte in der Dienststelle an? Sie sollen uns noch ein Fahrzeug mit zwei Kollegen schicken, die den Zugang zur Wohnung und dem Haus sichern, damit niemand Unbefugtes reinschneit und die Techniker hier in Ruhe ihre Arbeit erledigen können. Dann verständige die Spurensicherung. Ich informiere die Commissaria und verscheuche die Gaffer. Sobald die Kollegen eingetroffen sind, reden wir mit den Nachbarn.«
Fanetti rümpfte seine aristokratisch anmutende Nase, so als wollte er Lippi mitteilen, dass er wieder mal die Schwerstarbeit zu erledigen hätte.
»Wird's bald?« Manchmal ärgerte Lippi sich über den verwöhnten Elbenprinzen, auch wenn er ihn inzwischen ins Herz geschlossen hatte.
»Bin schon unterwegs. Ich telefoniere vor dem Haus und schaue mal, wie weit die Sanitäter mit dem Zeugen sind, der die Leiche entdeckt hat.«
»Ja, mach das. Aber überfordere den armen Mann bitte nicht. Keine Lust, dass er den nächsten Kollaps erleidet.«
Fanetti verdrehte die Augen. »Das ist wohl eher dein Part, Guido, nicht wahr? Du kannst mitunter ziemlich heftig werden, wenn einer nicht gleich ausspuckt, was du von ihm hören möchtest.«
Damit hatte sein Kollege nicht ganz unrecht. Meistens war wirklich er es, der die Leute einschüchterte, das musste er zugeben.
Die Schaulustigen verzogen sich auf seine Aufforderung hin nur ungern. Aber Guido Lippi wusste genau, wie er schauen musste, nämlich ziemlich unfreundlich, damit andere Menschen verstanden, dass sie das Weite suchen sollten.
Er ging wieder hinein, um vor dem Eingang zur Wohnung auf das Eintreffen der Kollegen zu warten und seine Chefin anzurufen, doch ehe er zum Telefon greifen konnte, kam eine junge Mutter mit einem Schulkind die Treppe hinabgelaufen und grüßte ihn erschrocken. Dann wanderte ihr Blick von seiner Uniform zur Wohnungstür, und sie hob rasch die Hand, um dem Jungen dadurch die Sicht auf die Leiche zu versperren. Aber der Kleine hatte sie schon bemerkt. Entsetzt sog er die Luft ein.
»Mama?« Er zog sie am Arm. »Wer liegt da auf dem Boden? Was macht der Polizist?«
»Komm, lass uns gehen. Schau bitte nicht hin. Ich weiß auch nicht, wer es ist.«
So bestürzt, wie die Mutter das sagte, hatte Lippi den Eindruck, dass sie sehr wohl wusste, um wen es sich bei der toten Frau handelte.
»Frag doch den Mann, Mama, vielleicht weiß er es.«
»Vielleicht später, nachdem ich dich zur Schule gebracht habe, in Ordnung? Wir sind schon spät dran, du willst die erste Stunde doch nicht verpassen.«
Lippi dachte, dass der Junge den Unterricht sicher gern gegen nähere Informationen eintauschen würde. Doch die Mutter zog ihren Sohn vehement weiter.
Lippi musste sich ein Grinsen verkneifen. In fast jedem Kind steckte eben ein Detektiv.
Der Anblick des blutüberströmten Körpers war einfach grauenvoll. Obwohl es keine neue Erfahrung für ihn war, Lippi hatte in seinem Leben schon genug Leichen gesehen, vermied er es beharrlich, den Blick auf die Tote zu richten. Sobald die Spurensicherung eintraf, würde er die Kollegen bitten, die Leiche in die Wohnung zu schaffen. Dieser Anblick tat niemandem...
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