Kapitel 1
Die Keller von oben ist genau so eine Mutter, wie ich garantiert nie eine werden möchte. Mann, sieht die immer gestresst und genervt aus, dabei hat sie doch echt süße Kinder. Und um sich selbst kümmert sie sich aber anscheinend gar nicht mehr. Letztens habe ich sie im Supermarkt getroffen, und da hatte sie doch tatsächlich nur die eine Augenbraue gezupft!
Heute ist es wieder mal besonders schlimm. Sie schleppt ihre Alditüten die Treppe hoch, während die drei Kleinen sich darum kloppen, wer die Magnetaufkleber vom Joghurt behalten darf. Tick ist schlauer als Trick und Track und zerrt wie blöd an der Einkaufstüte. Natürlich heißen die Drillinge nicht wirklich so, aber ich kann mir ihre richtigen Namen einfach nicht merken, obwohl die Keller sie ständig durchs Haus brüllt. Auf jeden Fall tun es Trick und Track nun ihrem Bruder gleich, woraufhin die Tüte reißt und nicht nur die Fruchtzwerge, sondern auch der Dosenmais, Äpfel und Thunfischkonserven die Treppe herunterkullern, direkt vor meine Füße. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
»Könnt ihr drei euch nicht einen Tag mal benehmen wie zivilisierte Menschen? Ich halt das einfach nicht mehr aus!«, hallt es durchs Treppenhaus.
Tick kommt runtergespurtet, reißt den Magnetaufkleber in Form eines Esels vom Joghurt und hält ihn triumphierend in die Höhe. Trick war wie immer langsamer und beginnt zu kreischen: »Du blöder Geizkragen!«
Die Keller sieht aus, als würde sie jeden Moment platzen. Ich gehe schon mal in Deckung. Oder sollte ich lieber gleich in meine Wohnung flüchten?
»Noch ein Wort, und ich hau ab! Ich möchte mal sehen, wie lange ihr es ohne mich aushaltet.«
»Nein, Mama, bitte nicht«, heult Track.
Oh Gott, jetzt heult die Keller auch noch. »Es tut mir leid, ich würde euch doch nie verlassen. Ihr habt so eine bescheuerte Mami.«
Ob sie weiß, wie recht sie hat? Während sie anfängt, die Büchsen aufzusammeln, setzt ihr Kleiner noch eins drauf: »Die Mami vom Marvin ist aber noch viel bescheuerter als du.«
Als die Keller sich bückt, läuft ihr Kopf ziemlich rot an, aber der Rotanteil vergrößert sich noch, als sie mich entdeckt. Ich hebe ein paar Dosen und Äpfel auf, bringe sie hoch und helfe, den Rest einzuräumen.
Die Keller wischt sich die Tränen aus den Augen.
»Entschuldigen Sie, ich . ich bin nicht immer so, wirklich.«
Na ja, wenn ich sie höre, meistens schon.
»Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«
»Ach, macht doch nichts, kann ja mal passieren.«
Ich würde mich hassen, wenn ich so mit meinen Kindern umgehen würde.
Die Keller hat sich nun etwas beruhigt. »Wissen Sie, die Leute können sich manchmal einfach gar nicht vorstellen, wie das mit Kindern so ist.«
Okay, ich habe verstanden. Sie denkt also: Was guckt die junge Göre mich so blöd an? Die hat ja Zeit, Karriere zu machen und sich beide Augenbrauen zu zupfen. Wenn ihr langweilig ist, geht sie ins Kino oder trifft sich mit einer Freundin zum Kaffeetrinken. Und recht hat sie, denn genau so ist es, und so wird es auch bleiben, selbst wenn ich mal Kinder haben sollte.
»Danke fürs Helfen, Frau Schönfeld.«
»Kein Problem. Und nennen Sie mich doch einfach Alice.«
Hab ich das gerade gesagt? Sie schaut mich erst an wie ein Pferd, dann aber hellt sich ihr Gesicht auf, und sie strahlt mich an.
»Gerne, Frau Sch., äh, ich meine, Alice. Ich bin Eve.«
Wir schütteln uns die Hände, und als das anschließende Schweigen peinlich zu werden droht, schaue ich auf die Uhr und meine: »Tja, Eve, dann einen schönen Tag noch. Ich muss dringend zur Arbeit.«
Tatsächlich muss ich mich jetzt beeilen, um noch pünktlich in den Verlag zu kommen. Mein Chef hat nämlich grandiose Neuigkeiten angekündigt.
»Nächste Woche kommt Sabine Eulenbusch nach Berlin!«, sagt er nun, da ich vor ihm sitze.
Das war es also, was er uns mitteilen wollte. Seine Augen leuchten, als nahe die Erlösung von allen geschlechtsspezifischen Mauern in den Köpfen der Menschheit. Dabei geht es ihm wahrscheinlich weniger um hehre gesellschaftliche Ziele als vielmehr darum, endlich einen echten Konkurrenztitel zu den Bestsellern à la Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken aufzubauen. Und just so einen hatte die Eulenbusch geschrieben. In ihrem Buch Warum Frauen bessere Männer und Männer bessere Frauen sind führt sie die Steinzeitpsychologie ad absurdum.
»Ich habe nach der Pressekonferenz einen persönlichen Termin mit ihr.«
Wolfgang Meyer schenkt mir einen Kaffee aus seiner Thermoskanne ein.
»Ich möchte, dass sie künftig auch für uns schreibt. Frau Schönfeld, ich habe das Gefühl, dass Sie genau die Richtige sind, um Frau Eulenbusch dafür zu begeistern! Ich möchte, dass Sie mich nach Berlin begleiten!«
Vor Freude verschlucke ich mich beinahe an meinem Kaffee. Ich freue mich nicht nur, dass ich dann meine alte Freundin Charlotte besuchen kann, sondern auch, meine erste richtige Dienstreise für den Verlag zu machen. Beinahe hätte ich »Ja, ich will« gesagt, aber ich kriege gerade noch die Kurve und antworte: »Aber gerne doch, Herr Meyer.«
Ja, der Verlag. Bei uns gibt es praxistaugliche Ratgeber für alle Lebens- und vor allem Liebeslagen. Ich war froh, hier direkt nach meinem Studium eine Festanstellung als Lektorin bekommen zu haben. Ich bin zwar erst ein halbes Jahr fest in dem Laden, kenne ihn aber ganz gut, weil ich hier bereits ein Volontariat absolviert habe. Meine Hauptaufgabe besteht darin, den Autoren, die zwar zumeist bekannte Psychologen, aber nicht immer begabte Autoren sind, zur Seite zu stehen. Sozusagen als Hebamme der Bücher, auch wenn ich bei manchem Baby das Gefühl habe, auch ein paar Eigenschaften mitgeliefert zu haben.
Ich lege also einen neuen Ordner auf meinem PC an. »Eulenbusch_Sabine« tippe ich gerade ein, als ich Tanja neben mir bemerke.
»Ach ja, die Eulenbusch. Tolle Frau.«
»Und ich lerne sie bald persönlich kennen!«
»Wie das denn?«
»Der Chef nimmt mich mit zu ihrer Buchvorstellung in Berlin.«
Dass ihr Restlächeln gefriert, trübt meine Vorfreude ein wenig. Ich wollte ihr schließlich nichts wegnehmen.
»Ach so. Also, als ich damals mit Herrn Meyer in München war, hatte ich das Gefühl, er braucht mich nur als hübsche Begleitung.«
Oh je, jetzt fehlt nur noch, dass Tanja behauptet, er möchte mich nur mitnehmen, weil ich im Besitz einer Bahncard 50 bin. Schließlich hat Herr Meyer Flugangst, und ausgesprochen sparsam ist er auch. Aber ich möchte nett sein: »Du weißt doch, dass Herr Meyer deine Arbeit total schätzt.«
Das stimmt auch, Herr Meyer weiß nämlich noch nichts über die neue deutsche Rechtschreibung, die ihm seine Cheflektorin glücklicherweise vom Leibe hält.
»Und warum nimmt er dann dich mit?«
Ich seufze nur und frage, ob sie mit mir Mittag essen geht. Vielleicht hebt das ja die kollegiale Stimmung wieder.
»Ich bin schon mit meinem Mann verabredet«, erklärt Tanja knapp und verlässt das Büro, obwohl es erst Viertel nach zwölf ist.
Ich seufze ein zweites Mal und greife zu meinem Handy. Vielleicht hat Isabel ja Zeit für einen Imbiss um die Ecke. Ihr Atelier liegt nur zwei Straßen weiter. Ich muss jetzt unbedingt mit jemandem reden, der nichts mit meiner Arbeit zu tun hat. Ich liebe Isabels erfrischende, entspannte Art, die mir nach Tanjas Bemerkungen nur guttun kann. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist sie schließlich meine beste Freundin.
»Hallo, Alice, rate mal, mit wem ich hier im Café sitze«, ist das Erste, was sie nach dem Abheben sagt. Also hat sie wohl keine Zeit.
»Keine Ahnung«, antworte ich wahrheitsgemäß und schlucke meine Enttäuschung herunter.
»Mit Jan.«
»Dem süßen Typen aus dem Buchladen?«
»Exakt. Hast du heute Abend Zeit? Dann reden wir in Ruhe.«
Nachdem wir uns geeinigt haben, wo wir uns treffen, lege ich auf. Warum haben im Moment alle einen Freund, nur ich nicht? Und das, obwohl ich gerade erst einen Beziehungsratgeber betreut habe: Nie wieder Single - Von der Aussöhnung mit dem inneren Partner. Der Titel liegt zurzeit in allen großen Buchhandlungen aus. Vielleicht sollte ich die Ratschläge aus dem Buch künftig selbst beherzigen.
Abends sitzen Isabel und ich im Schmitz. Trotz der Bahnschienen und mehrerer Fahrspuren ist die Aachener Straße mittlerweile zur richtigen Flaniermeile geworden. Und die ehemalige Metzgerei Schmitz hat sich in einen Szeneladen verwandelt, der fast nur Ökoessen anbietet. Da soll noch einer erzählen, die Welt werde nicht besser!
Wir trinken beide eine Bionade. Aus Prinzip. Isabel hat mir gerade erzählt, dass Bionade letzte Woche ein Drittel weniger Flaschen verkauft hat. Und das nur, weil Die Zeit den Bionade-Biedermeier ausgerufen hat. Sachen gibt's.
Wir studieren die Karte. Überall sind schwarze Totenköpfe hingekleckst. An der Theke steht eine große Marienstatue, die einladend ihre Arme zur Seite streckt. Und neben unserem Tisch befindet sich ein Ensemble, das mich noch mehr verwirrt: ein Kindertisch mit zwei Kinderstühlen, die ebenfalls mit Totenköpfen verziert sind. Na, eines schönen Tages werden die genauso Schnee von gestern sein wie die einst hippe Ökolimo. Vielleicht ist es dieser Gedanke, der in mir die Sehnsucht nach etwas hervorruft, das dies alles überdauert. Oder ist es einfach nur die Tatsache, dass die Stühlchen leer sind? Auf einmal überkommt mich das mulmige Gefühl, dass hier irgendetwas fehlt. Eine ausgesprochen merkwürdige sentimentale Anwandlung, die ich mir normalerweise nie erlauben würde.
Isabel schiebt ihre Flasche in meine Richtung und stützt den Kopf auf den...