Bereits in diesen ersten Werken verbindet sich Religiosität mit Musik. Es ist gewiss ungewohnt, dass zu dieser Zeit eine Frau zu komponieren begann, allgemeine Vorbilder gab es so gut wie keine, einzig in der Kirchenmusik waren einige Komponistinnen bekannt. Die Religiosität, die bei der jungen Martha von Orelli aus den ersten Werken spricht, ist für sie wohl einerseits inneres Bedürfnis, andererseits aber auch Rechtfertigung, sich dieser damals für Frauen fast unerreichbaren Sparte zu widmen, zumal der Vater eine Berufsausbildung für die Tochter abgelehnt hatte. In dieser ausgesprochen patriarchal geprägten, grossbürgerlichen Welt waren den Entfaltungsmöglichkeiten einer jungen Frau enge Grenzen gesetzt.
Begegnung mit Victor von Castelberg in Disentis
Das Leben von Martha von Orelli war erfüllt von Sprachaufenthalten, vom Reisen, Reiten, Musizieren im Orchester, im Quartett oder alleine an der Violine und am Klavier. Dazu kam das Komponieren, das viel Zeit und Konzentration verlangte. Konzert- und Opernbesuche standen ebenfalls regelmässig auf dem Tagesprogramm, wobei sie bei Kammermusikwerken die Interpretation zuweilen mit der Partitur in der Hand verfolgte.34
Auch Kuraufenthalte gehörten in den 1910er-Jahren zu ihrem Leben; sie führten sie nach St. Moritz Bad und später nach Disentis. Beide Dörfer waren noch sehr abgewandt von der Welt, und die Bevölkerung bestand aus eher armen Bauersleuten. Im beschaulichen, vom Benediktinerkloster geprägten Dorf Disentis, das 1912 durch die Rhätische Bahn erschlossen worden war, lernte sie zwei gewichtige Persönlichkeiten kennen, die ihr weiteres Leben prägen sollten: zum einen Pater Maurus Carnot, der im Kloster lebte und mit dem sie sich anfreundete. Zum anderen war da der Jurist Victor von Castelberg, der einem bedeutenden Disentiser Geschlecht entstammte. In ihn verliebte sich Martha von Orelli anlässlich eines Kuraufenthalts im Hotel Krone in Disentis 1919. Ein Jahr später heirateten sie.
Im Nachlass hat sich ein aufschlussreiches Gedicht zur Hochzeit erhalten. Sechs Seiten umfasst die Charakterisierung der Braut, eine Seite davon thematisiert ihre Jugend und ihre Sprachaufenthalte, dann folgen gut zwei Seiten zu ihrer musikalischen Leidenschaft, am Schluss kommen ausführlich ihre Tierliebe und die Pferde zur Sprache. Wie wesentlich Martha von Orelli mit Musik charakterisiert wird, zeigt sich in einer entscheidenden Passage: «Seht hier den Flügel, wo sie spielt/Was Alles sie im Herzen fühlt/Was liebevoll sie hat verschlossen/Im schönen Spiel es wurd' ergossen.» Es ist offenbar das Klavier- und wohl auch das Geigenspiel, in dem sie ihre inneren Befindlichkeiten auszudrücken vermochte. Die Komponistin Martha von Orelli wird allerdings mit keinem Wort erwähnt; und dies, obwohl zwischen 1912 und der Heirat 1920 weitere Stücke datierbar sind. Dazu zählen Ein Gebet (1914) und Die wilde Biene (1916) für Tenor und Klavier sowie Motett (1919) für gemischten Chor a cappella. Die Texte zum Alpenenzian und zur wilden Biene stammten vom Disentiser Pater Maurus Carnot. Wusste ihre Familie, dass sie komponierte? Oder war dies für ein Fräulein von Orelli nicht standesgemäss, weshalb man in der Öffentlichkeit nicht darüber sprach?
Lange hatte sich Martha von Orelli Zeit gelassen, bis sie am 15. November 1920 heiratete. Mit ihren fast 29 Jahren war sie für die damalige Zeit schon längst eine «alte Braut», was zu Geschwätz und Getuschel geführt hatte.35 Offen bleibt, ob der gesellschaftliche Druck zu gross geworden oder bis dato der «Richtige» einfach noch nicht aufgetaucht war. Ihr Bräutigam, Victor von Castelberg, war zwei Jahre älter als sie und stammte aus der katholischen Disentiser Linie der Adelsfamilie von Castelberg.
Bereits in seinem jungen Alter hatte dieser ein bewegtes Leben hinter sich. Er war am 13. November 1890 in England als Sohn des Bündner Kaufmanns Johann Anton Benedict von Castelberg und dessen englischer Frau Jessie, ledige Milton, geboren worden. Die ersten Jahre verbrachte der kleine Victor mit den Eltern in London und besuchte dort die Primarschule. Danach wechselte er nach Disentis, wo er bei seiner Tante Dora von Castelberg wohnte, vier Jahre lang die Klosterschule besuchte und die rätoromanische Sprache Sursilvan erlernte. Eine Zeit, die ihn stark prägte und zu einer grossen Liebe zur Region Surselva führte.
Fotopostkarte mit dem Hotel Krone in Disentis, wo Martha 1919 ihren späteren Ehemann Victor kennenlernte.
Martha von Orelli und Victor von Castelberg, jung verliebt, vermutlich im Park im Hinteren Thalhof, 1920.
Blick auf das Dorf Disentis - rechts die Klosterkirche, links die Kirche Sogn Gions mit dem Dorfteil Raveras.
Auf einer Wanderung, undatiert, um 1918.
Die Familie von Castelberg pflegt eine enge Beziehung zum Kloster; viele Familienmitglieder waren im Laufe der Jahrhunderte dort ins Benediktinerkloster eingetreten und einige gar als Abt gewählt worden. Der prachtvolle Castelberg-Altar in der Klosterkirche zeugt davon.
Die Matura legte Victor allerdings nach einem sich an seine Grundausbildung in Disentis anschliessenden vierjährigen Aufenthalt im Kollegium Sarnen ab. Danach studierte er in Freiburg i. Ue. Jurisprudenz, wo er 1915 doktorierte. Drei Jahre später erlangte er das Anwaltspatent und eröffnete an bester Lage in Zürich, an der Bahnhofstrasse 65, seine eigene Anwaltskanzlei. Ermöglicht hatte ihm dieser Schritt an den luxuriösen Ort36 ein Disentiser Verwandter aus der Familie Hess mit einem Darlehen.37
Victor von Castelberg war ein vielgereister, kultivierter und gut ausgebildeter Jurist; er beherrschte das rätoromanische Sursilvan und fühlte sich seinen rätoromanischen Wurzeln in Disentis und dessen Benediktinerkloster eng verbunden. Ein weltgewandter Bündner mit guten Sprachkenntnissen auf dem Sprung zur grossen Karriere und eine ebenso weltgewandte Zürcherin aus bestem Haus hatten sich gefunden. Gemeinsam war den beiden Heiratswilligen auch ihre Religion, insbesondere diejenige der Benediktiner, die sowohl in Einsiedeln als auch in Disentis beheimatet sind. Davon zeugt nicht zuletzt ein Verlobungsgeschenk Victor von Castelbergs an seine Martha, das Buch «Das Zeichen des echten Ringes» von Albert von Ruville, einem protestantischen preussischen Offizier und Historiker, der 1909 zum Katholizismus konvertierte und dafür angefeindet worden war. Im Buch thematisiert Ruville die Gründe, die ihn bei seiner Konversion geleitet haben, als deren höchstes Zeichen er die Demut, die Willigkeit und Freude zur Unterordnung bezeichnet.
Die Zeit der Wende
Mit der Heirat änderte sich Martha von Castelberg-von Orellis Leben grundlegend. Die Zeit im prunkvollen Herrschaftshaus der Eltern am Talacker 31 mit allen Annehmlichkeiten war vorbei. Marthas Bruder Eduard, der einzige männliche Nachkomme der von Orellis, wurde sukzessive zum neuen Erbfolger aufgebaut. Er hatte eine gründliche Bankausbildung durchlaufen, die ihn - wie üblich bei den von Orellis - auch nach London und New York geführt hatte. Seit 1919 war er Mitinhaber der Bank und damit auch zukünftiger Besitzer des Hinteren Thalhofs. Das Anwesen wurde dann 1922 tatsächlich auf ihn überschrieben, wobei die Eltern darin Wohnrecht genossen.
Das frisch vermählte Ehepaar von Castelberg bezog einen neuen Wohnort, ein Mehrfamilienhaus in der Nähe des Stammhauses der von Orellis, am Talacker 45. Ob in ihrer Wohnung ein Klavier vorhanden war, kann nicht mehr eruiert werden, es ist aber eher unwahrscheinlich, wohl hat Martha von Castelberg im nahe gelegenen Elternhaus ihrer Passion gefrönt. Geritten ist sie allerdings nicht mehr.38 Dafür kam am 1. Februar 1923 das erste Kind, Carlo, auf die Welt und setzte bei der frischgebackenen Mutter andere Prioritäten. Im selben Jahr gab ihr Mann seine Anwaltskanzlei an der Bahnhofstrasse auf und trat am 1. Oktober in die Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft (heute Swiss Re) ein. In dieser Zeit lässt sich nur noch eine Komposition aus der Hand Marthas sicher datieren, das Lied Tröstung für Tenor und Klavier, das sie 1926 schrieb.
Das folgende Jahr wurde für Martha von Castelberg-von Orelli wohl eines der turbulentesten ihres Lebens. Zuerst starb am 18. Januar ihr Vater Paul Carl Eduard von Orelli, was zu einer längeren Erbschaftsauseinandersetzung um die Liegenschaften im Thalhof führte, die schliesslich definitiv und rechtskräftig an Eduard übertragen blieben. Dann erhielt ihr Mann Victor die Prokura bei der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft und stieg in der Hierarchie des Hauses auf. Am 1. Juli 1927 bezog das Ehepaar zusammen mit dem vierjährigen Buben Carlo ein Haus an der Rislingstrasse 1 in Zürich Fluntern, das Victor käuflich erworben hatte - wohl auch dank des finanziellen Erbes von Martha, was nach damaliger Rechtslage die Frauen zu Statistinnen degradierte und in amtlichen Unterlagen nicht vermerkt ist.39 Zu diesem Zeitpunkt war...