Schweitzer Fachinformationen
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Außer ihm kam heute wohl niemand zur Landspitze, nur Fische und Vögel. Es war der dritte Dezember, ein Donnerstag und eigentlich ein Schultag.
Leopold Ullstein saß in seinem Baum hoch über den zwei Flüssen und schaute, wie sie sich heute vormittag vermischten. Sie taten es unter Protest. Von links kam die Rednitz daher, lichtgrün im schnell fließenden Bogen, von rechts die Pegnitz viel brauner und langsamer. Das grüne Wasser drängte das braune zurück, aber nicht immer gleich stark. Eigensinnig trödelte die Pegnitz weiter neben der Rednitz her und versuchte, sie dunkler zu färben. Vielleicht gelang es ihr unten in der Tiefe, weil sie schwerer war. Dann hatte der neue Fluß, der aus beiden entstand, zwei Stockwerke, ein grünes oben und ein braunes unten. Im Sommer ließ sich das erforschen. Man mußte ein Glas Wasser von oben nehmen und eines von unten herauftauchen. Er wollte das Karl vorschlagen. Mit Johann Karl Humbser, seinem Banknachbarn und besten Freund, machte er alles Wichtige gemeinsam.
Aus den Wiesennebeln jenseits der Rednitz ragten die hohen Weiden heraus und unterhielten sich, alles Kleinere blieb in Watte gepackt. Die Uhr der Michaelskirche schlug zwölf, dünn und von weiter weg als sonst. Leopold stieg herunter, ihm war kalt geworden und seine Schuhe waren feucht. Er mußte sowieso heim - um ein Uhr war die Probefahrt des »Adlers«, bei der er mitfahren durfte.
Einige sagten zu dem Dampfwagen nicht »der«, sondern »die Adler« - bei den Engländern seien Schiffe und Maschinen weiblich. Das fand er albern, man war in Franken. Bei uns, fand Leopold, ist ein Adler ein »er«, außer es ist seine Frau. Und genauso stand es auf der Lokomotive, weil man mit der Dummheit der Leute schon gerechnet hatte: nicht einfach »Adler«, sondern »Der Adler«.
Studiert hatte Leopold die eiserne Schienenstraße schon während des Bauens, die Lokomotive auch, nachdem sie auf der ersten Probefahrt herangeschnauft war. Da mitzufahren mußte unglaublich sein, auch toll gefährlich! In England hatte es Unglücke gegeben, eine Explosion und einen Zusammenstoß bei Manchester. Auf Zusammenstöße war hier nicht zu hoffen, es gab nur den »Adler«.
Gut, daß der schlimme Zahn heraus war und er trotz der Entzündung nicht im Bett liegen mußte. Vater hatte vorsorglich zu Dr. Brentano geschickt und ihm mitteilen lassen, Leopold könne wegen Fiebers nicht zur Schule. Hajum Hirsch Ullstein liebte es, vorauszuschauen und vorzusorgen. Es war aber gar nicht so arg mit der Backe, sie war nur leicht geschwollen. Durch Eisenbahnfahren wurde sie gewiß nicht schlimmer. - Konnten Zähne nicht in Ruhe wachsen, ohne zu vereitern oder sich in die Quere zu kommen? »Wie alt bist, neun?« hatte der Bader gefragt, die Zange in der Hand. »Bist a weng bald dran. Aber etz werd erst amal a Ruh sein!«
Bei den ersten beiden Fahrten des »Adlers« am heutigen Tag hätte er gern schon zugeschaut. Aber wenn sein Vater ihm zuliebe behauptete, er sei krank, konnte er sich nicht in der Stadt zeigen, während die anderen noch in der Schule saßen. Er liebte Dr. Brentano. Der war zwar streng in seinen Worten, aber Schläge gab es nicht, auch nicht »Tatzn«, Schläge auf die Finger. Und wie Dr. Brentano erklären konnte! Es gab nichts Schöneres als Erklärungen. Wenn man bei jeder scharf aufpaßte, war man nach ein paar Jahren so klug wie Isaak Löwi, der Rabbiner - mindestens! Wenn jemand Leopold allerdings lang und breit etwas erklärte, was er längst verstanden hatte, kriegte er seinen Zorn. Und das war regelmäßig so bei dem Hilfslehrer Ottensooser.
Richtig begabt bin ich nicht, dachte Leopold, jedenfalls zu nichts Besonderem. Mit dem Singen zum Beispiel war es nichts, mit dem Zeichnen noch weniger. Da waren drei Rüben zu zeichnen gewesen, und die wurden bei ihm zu dünnen, runzeligen Stäben, die so blaß parallel lagen. Karl hatte gesagt, es sei eine Mistgabel aus der Steinzeit mit etwas Mist dran. »Wenn du mein Freund bist«, hatte Leopold geantwortet, »dann sage nicht, daß ich schlecht zeichne!« Karl kannte seine Wutanfälle und lenkte ein. Von »schlecht« sei nicht die Rede gewesen, es gehe nur um Kunst.
Auf der Mauer des Michaelskirchhofs saß eine Krähe, die sich grundlos aufregte. Jedenfalls wirkte es so, denn Krähen schrien das bißchen, was sie zu sagen hatten, immer ganz laut heraus. Dazu streckten sie auch noch nachdrücklich den Hals nach vorn wie zu einer äußerst giftigen Schmähung. Krähen wirkten streitsüchtig, und vielleicht haßten sie wirklich alles Mögliche. Sicher war, daß sie Eulenvögel haßten und jederzeit verfolgten, um sie gemeinsam tot zu hacken - hundert gegen einen, das feige Pack! Wenn die Bauern die Zahl der Saatkrähen vermindern wollten, fingen sie zunächst eine Eule, ketteten sie auf einem Stein fest und warteten dann mit der Schrotflinte auf den Angriff des Krähenschwarms. Was dabei mit der Eule geschah, war ungewiß.
Leopold ging durch die Königstraße, vorbei an der »Schul«, die von Christen und Fremden »Hauptsynagoge« genannt wurde, und am Haus von Dr. Löwi - der kam eben heraus. Der Rabbiner hatte Leopold über die Straße hinweg trotz zweier großer Holzfuhrwerke sofort gesehen, und die dicke Backe auch. Weil man bei dem Gerassel nichts hören konnte, deutete Löwi auf seine eigene Backe und legte den Kopf schief, was so viel hieß wie »Fragezeichen«. Leopold nickte und machte aus Daumen und Zeigefinger eine Zange: »Zahn raus« sollte das sagen. Löwi hob die Hände mit tragischem Gesichtsausdruck zum Himmel, zwinkerte dann mit den Augen und ging weiter. Er brachte oft Leute zum Lachen, wenn ihnen etwas weh tat. »Der wenn Schauspieler geworden wäre .!« hatte der alte Rabbi Hamburger gedankenschwer gesagt und hinzugefügt: »Aber wir wollen bescheiden bleiben.« Wolf Hamburger war dem Isaak Löwi, seinem ehemaligen Schüler, nicht mehr freundlich gesonnen, seit der sich kleidete wie ein evangelischer Pfarrer. Löwi wollte sogar eine Orgel in die »Schul« stellen. Leopold fand das gut. Eine Orgel war laut, da hörte niemand, wenn einer falsch sang. Er war mit dem Wolf Hamburger zwar entfernt verwandt, aber Löwi war ihm lieber, seinem Vater auch. Onkel Samuel, Mutters Bruder, hielt es mit Hamburger und nannte die Orgelidee »Schnickschnack«.
Vor der Wirtschaft »Zu den drei roten Herzen« roch es nach Sauerkraut und Bier, vor dem Wirtshaus »Zu den drei Kronen« nur nach Bier. Nach Pferdeäpfeln roch es überall. Jetzt war er bei der Mohrenapotheke hinter der »Schul« und sah nach dem Haus hinüber, in dem sie wohnten.
In der Tür standen die Geschwister und riefen: »Komm endlich! Wo warst du denn?« Isaak hatte schlechte Laune, er war fünfzehn und mußte als Ältester auf alle anderen aufpassen. Leopold wurde von ihm angerempelt, mehr nicht, die dicke Backe schützte ihn. »Wir müssen ja noch 'n Vadder abholen! Los, zieh andere Schuh' an!« Julius sah Leopold an, schüttelte langsam den Kopf und zog dabei eine Augenbraue hoch - er konnte das fast so schön wie Dr. Brentano - und sagte in theatralischer Besorgtheit: »Löb, Löb, Löb!«, wohl wissend, daß sein Bruder seinen eigentlichen Namen Löb nicht mochte. Eigentlich wäre Leopold gern gewesen wie Julius. Dem fiel alles leicht, er war gut in sehr vielem und konnte darum extra frech sein. Leopold konnte nur eines gut: andere bewundern. Er zog trockene Schuhe an und rannte wieder hinunter.
Sophie eiferte und gackerte wie immer. Sie tat sich da nie einen Zwang an, wollte auch gar nicht aufhören: »Hast du gedacht, du kannst während der Fahrt aufspringen oder was?« Ihre Stimme überschlug sich fast, so gut war ihre Laune, wenn andere Fehler gemacht hatten und sie darauf herumhacken konnte. Leopold haßte schon das »oder was?«, mit dem sie jede Frage abschloß. Er würdigte seine Schwester keines weiteren Blickes, obwohl sie ihn mit der Erklärung zu quälen begann, ein Dampfzug gehe pünktlich ab, das wüßten sogar ganz Dumme. Es war nicht leicht, der Jüngste zu sein, aber diese Schwester war eine Spezialplage, sie war eindeutig meschugge. Karl Humbser beurteilte sie ähnlich, er hatte gesagt: »Bei der muß ma's Mundwerk extrig totschlag'n!«
Leopold fragte nach der Mutter. »Der ist heute nicht gut«, antwortete Julius, »wir sollen ohne sie losziehen.«
Sie überquerten den Holzmarkt, wo unweit von ihrem Haus seit Monaten geschuftet und gebrüllt wurde, man grub nach Wasser. Bald erreichten sie die Schwabacher Straße und das Rießner-Haus, in dem Vaters Geschäft war. »H. H. Ullstein, Papier-Handlung en gros und en detail«. Das Rießner-Haus war dreistöckig und hatte ein zur Straßenecke hin elegant gerundetes Dach. Unter diesem Dach hätte Leopold gern gewohnt und beim Hausaufgabenmachen aus dem Gaubenfenster auf den Kohlenmarkt geschaut. Er wollte später einmal so hoch droben wohnen wie möglich, er liebte auch Berge. Die Welt war kurzweilig, wenn sie oft genug das Aussehen wechselte. Dazu mußte man sie von immer neuen Orten aus betrachten.
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Die Geschichte der Ullsteins im Jahre 1835 beginnen zu lassen ist noch einigermaßen rücksichtsvoll. Man könnte sie auch mit König David beginnen oder immerhin mit einem Mann namens Raw Kalonymos, der 936 dem späteren Kaiser Otto ein Pferd lieh, weil der sein eigenes auf dem Weg zur Krönung in Aachen zuschanden geritten hatte. Oder mit Elieser ben Jehiel, gebürtig aus Oporto in Portugal, 1492 von dort vertrieben und dann Geschäftsmann zu Emmerich, dessen Sohn Simeon sich wiederum in Günzburg niederließ. Oder bei einem anderen auf der Iberischen Halbinsel, einem gewissen Colón, der aber nicht Amerika entdeckte, sondern ein Rabbiner war....
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