Schweitzer Fachinformationen
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Im Frühjahr 1947 - ich war damals zwölf Jahre alt - stürzte in der Nähe von Narragansett Bay ein Passagierflugzeug ab. Es war eine kleine Turboprop-Maschine, fabrikneu, und sie trug das Logo einer aufstrebenden Fluggesellschaft namens Boston Airways. Auf Farbfotos sieht man, dass sie an der Spitze und am Heck in einem Gelbton lackiert worden war, der aussah wie das Osterkleid eines kleinen Mädchens. Im Hangar wurde sie deshalb Häschen genannt oder Täubchen; im Untersuchungsbericht tauchen beide Namen auf. Die Flugroute an jenem Nachmittag sah vor, dass sie zunächst über New York nach Miami fliegen sollte und dann, wenn die Wetterlage es zuließ, die Atlantikküste entlang zurück nach Baltimore.
Irgendwann habe ich angefangen, Überbleibsel des Unglücks zu sammeln: die verkohlte Schnalle vom Sicherheitsgurt des Piloten, ein blank poliertes abgebrochenes Rotorblatt vom Propeller, den erstaunlich gut erhaltenen Klappdeckel einer Packung Fatima-Zigaretten, einen quer über den sichelförmigen roten Mond des Logos verschmierten Handabdruck. Auf meinem Computer habe ich bruchstückhafte Aufnahmen vom Funkverkehr an jenem Nachmittag. Die Piloten hatten die Ruhe bewahrt, bevor sie starben. Ich gebe zu, dass ich sie mir Dutzende, wenn nicht Hunderte Male angehört habe. Alles in meiner Geschichte hängt auf irgendeine Weise mit diesem Absturz zusammen.
Abflug: mittags um zwölf Uhr acht von Logan. Voraussichtliche Ankunftszeit: halb zwei.
Sechzig Menschen waren an Bord, darunter fünfzehn Kinder; alle kamen ums Leben.
Zu der Zeit, als der Absturz geschah, lebten wir in New Haven. Ich war draußen im Garten, als sich ein Mann auf einem Fahrrad näherte. Er trug einen grauen Anzug und einen schwarzen Filzhut. »Vor Providence ist ein Flugzeug runtergekommen«, sagte er, während er abbremste, um mir die Neuigkeit mitzuteilen. In seinem Mundwinkel klemmte eine Calabash-Pfeife, von der ein süßer Bratapfelduft ausging. »Ich schätze, sie ist in Boston abgehoben und hat den Aufstieg nicht geschafft. Ist irgendwie noch über die Bäume geschlingert und dann in Rhode Island zu Boden gegangen.« Er hob die flache Hand und machte damit einen Sturzflug nach, wobei er die Bewegung mit den passenden Lauten untermalte. Einen Moment später war er wieder fort, das Ende seines Sakkos flatterte??? i?m? ?Win?d, als er auf seinem Fahrrad weiterradelte.
Meine Mutter stand in der Küche. Ich konnte sie von der Wiese in unserem Garten aus sehen. Hinter einem rechteckigen, von einer weizengoldenen Schmuckleiste umrahmten Fenster. Die Scheiben waren geöffnet und Insekten tummelten sich vor dem Fenstergitter, durch das ein leichter Wind ging. Ihre Wangen waren gerötet. Der Dampf von einem Kessel in der Küche. Vielleicht ein Hauch von Zimt, vom Backwerk im Ofen. Vor zwei Monaten hatte sie ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert, aber wenn man genau hinschaute, bei gutem Licht, sah sie immer noch wie ein Collegemädchen aus. Mein Vater hatte ihr zu diesem Anlass einen unechten Saphirring gekauft, ein einzelner Modeschmuck-Stein auf einem Ring aus Zinn; er hatte ihn drei Dollar gekostet, und sie hatte ihn seitdem nicht abgenommen.
Als ich hereinkam, um ihr die Neuigkeit zu berichten, wusste sie es schon. Im Radio sprach eine ernste Männerstimme in tiefem Bariton. Er leierte herunter, was zum Zeitpunkt bekannt war, der Flugzeugtyp, der vermutliche Absturzort, die geschätzte Anzahl der Todesopfer.
Meine Mutter - das werde ich nie vergessen - wurde wütend, als sie das hörte.
»Wie kann etwas so Großes einfach vom Himmel fallen?«, fragte sie mich und schlug mit der flachen Hand auf den Küchentresen. Sie briet gerade ein Ei. Ihr Ring klatschte laut auf das Resopal. »All die Kinder! Wer fliegt diese Dinger eigentlich?«
Mein Vater war mittelbar von dem Absturz betroffen. Der Bruder eines Klassenkameraden von ihm war an Bord gewesen. Es wurde telefoniert, unendlich viel, gefolgt von Verwünschungen meines Vaters, die zwei Wochen später in einer wilden Hetztirade in einem Büro in Hartford gipfelten, nachdem er sich bereit erklärt hatte, zehn der betroffenen Familien zu vertreten. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Vater genügend Informationen gesammelt, von denen er glaubte, dass sie für eine Anklage ausreichten: Es gab Beweise, dass leitende Angestellte der Fluglinie gewusst hatten, dass die Triebwerke der Maschine beschädigt gewesen waren; auf den Flughäfen entlang der Küste hatte es sich bereits herumgesprochen: mangelnde Sicherheitsstandards, technische Unkenntnis, Piloten, die einen sechs Tonnen schweren Bomber fliegen konnten, aber mit den Feinheiten der Navigation einer solch kleinen Maschine nicht vertraut waren. Eines Abends, bevor die ganze Sache richtig losging, sah ich meinen Vater in Unterwäsche an unserem Küchentisch sitzen, auf dem wild verteilt technische Zeichnungen, Aktennotizen und Zigaretten lagen.
»Kannst du gewinnen?«, fragte ich ihn.
Er machte etwas Platz auf dem Tisch und bat mich, mich zu setzen. »Was siehst du hier?«, fragte er und zeigte auf die technische Abbildung eines Flugzeugmotors.
»Gekritzel«, sagte ich. »Linien und Schnörkel.«
Er lachte. »Ich auch.«
Mein Vater war nicht der beste Anwalt für diesen Prozess, wahrscheinlich behielt er das lieber für sich. Er hielt sich damals mit kleineren Zivilklagen über Wasser - die üblichen Ich-habe-mir-auf-dem-Weg-zur-Arbeit-das-Bein-gebrochen-Fälle -, und wenn meine Mutter ihn wegen irgendeiner dringenden Sache suchte, konnte sie sicher sein, ihn in der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses zu finden, wo er sein Biwak mit Kaffee, Zigaretten und einem Stapel Visitenkarten aufgeschlagen hatte. Seine Arroganz wurde ihm fälschlicherweise oft als Genialität ausgelegt: als Talent oder Fähigkeit oder eine Kombination aus beidem. Er berechnete für gewöhnlich nur eine geringe Bearbeitungsgebühr, die ausreichte, um unsere Miete und das Essen zu bezahlen und ab und zu mit uns ins Kino zu gehen. Im Gegenzug verlangte er mehr als den üblichen Anteil an potenziellen Gewinnen. Er behauptete dann vor seinem neuen Kunden, es würde schwer werden, vor Gericht zu bestehen. In der Summe sei das Arrangement für ihn aber eine todsichere Sache.
Die Zahl der Kläger wuchs stetig. Zuerst riefen nur wenige bei uns an, mitten in der Nacht eine verzweifelte Mutter, die sich zum Telefon geschlichen hatte, während ihr Ehemann schlief; er war Obergefreiter der Armee und in Okinawa stationiert. Sein Vater lebte nicht mehr und sein Bruder war auf dem Flug verschollen. Es kamen auch Briefe. Zwei kubanische Frauen hatten auf dem Flugfeld in Miami auf die Ankunft der Maschine gewartet, als die Nachricht sie erreichte. Die Leiterin eines Waisenhauses in Connecticut schrieb in ihrer Eigenschaft als Vormund eines der Kinder; das Mädchen sei auf dem Weg nach New York zu seinen neuen Eltern gewesen. Mit jedem Anruf wurde der Fall größer, die Summe potenzieller Schadenersatzleistungen umfangreicher, die Betriebsamkeit in unserem kleinen gemieteten Häuschen stärker und lauter, und jeden Abend wurde geflüstert, dass vielleicht, eventuell, wenn alles gut liefe und der Richter einen bestimmten Sachverhalt richtig beurteilte oder die gegnerische Seite eine bestimmte Richtung einschlüge, dass wir dann - es war immer ein Wir -, dass wir dann gewinnen könnten.
Das erste Pressefoto mit meinem Vater erschien im New York Herald, im August 1947. Er posiert darauf wie einer von Hoovers berüchtigten FBI-Leuten: ein tief ins Gesicht gezogener Filzhut, ein - sorgfältig gebundener - doppelter Windsorknoten, ein schwarzes Jackett, schwarze Hose, schwarzer Gürtel, schwarze Schuhe; zwischen den Lippen eine Old-Gold-Zigarette; über dem Arm einen tiefschwarzen Trenchcoat, in der Hand eine Aktentasche aus Leder.
»Was glauben Sie, hier bewirken zu können?«, wird die Frage eines Reporters zitiert. »Haben Sie vor, die gesamte Passagierluftfahrt zum Absturz zu bringen? Wollen Sie uns wieder an die Schiene ketten? Ist es das, was Sie wollen, Mr Wise?«
»Zum Absturz bringen!«, sagte mein Vater und lachte. »Was für eine schreckliche Wortwahl!«
Mein Vater war ein gut aussehender Mann. Das hat man mir mein ganzes Leben lang gesagt, aber ich hatte nie einen Beleg dafür gesehen, bis sein Bild in den Zeitungen auftauchte: sein schmales Gesicht, die hervorstehenden Wangenknochen, das charmante Lächeln, die ersten weißen Strähnen in seinem herzförmigen Haaransatz. Als wir ihn zum ersten Mal so sahen, sagte mir meine Mutter, dass öffentliche Aufmerksamkeit einen Mann schöner mache. Sie legte ihren Finger auf ein Foto von ihm. »Seine Wimpern«, sagte sie. »Sieh nur, er hat die Wimpern einer Frau.« Meinen Vater überraschte der Medienrummel nicht. In seinen Augen lag ein Glanz, der zu sagen schien, er habe schon sein ganzes Leben lang etwas Derartiges erwartet.
Er hatte das Glück, dass einer Sammelklage damals noch etwas Revolutionäres anhaftete. Der Gedanke, große Unternehmen könnten Leben gefährden, ohne in Regress genommen zu werden, schien nach dem Krieg bei den Leuten irgendeinen ursprünglichen Nerv zu treffen. Die Menschen haben nichts lieber als einen gemeinsamen Feind, und da die Deutschen und die Japaner aus dem Rennen waren, war mein Vater schlau genug, diese Rolle der Boston Airways zuzuschreiben. In einem Times-Artikel aus ebenjenem Sommer 1947 untermalte er seinen Standpunkt tatsächlich mit den Worten: »Man kann schon jetzt behaupten, dass dies die größte Gefahr für die Zivilbevölkerung...
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