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Das Buch machte, wie immer, ihre Probleme nur schlimmer. Die Neuauflage kam als Express-Paket aus New York, ein großer Karton mit angerissenen Ecken. Als der Bote an die Tür klopfte, tat Henrietta, als sei sie nicht zu Hause und beobachtete ihn von einem Fenster im oberen Stockwerk aus. Er wirkte harmlos, offenbar fror er in seiner Uniform. Er hielt das Paket behutsam vor sich, als würde es etwas wirklich Wertvolles enthalten.
Ein Sturm war aufgezogen, die Birken am Straßenrand bogen sich in dem beständigen Wind. Unter den Fenstern häuften sich Schneewehen sauber zu steil abfallenden Hängen. Das Beste wäre, entschied sie, das Paket einfach draußen liegen zu lassen. Auf die Weise würde es, mit etwas Glück, durch Schnee und Eisregen ruiniert werden.
Dann aber, ein paar Stunden später, platzte ihre Tochter herein.
»Katastrophe verhindert!«, verkündete Oona, zurück von ihrer Schicht im Krankenhaus, Schnee und Eis auf der Kapuze. »Ich habe die Bücher gerettet!«
Oona grinste teuflisch - eine Miene, die jeden befiel, der in Kontakt mit diesem Ding geriet. Sie stellte das Paket auf den Küchentresen und ritzte es geschickt mit ihrem Autoschlüssel auf.
»Nicht aufmachen«, flehte Henrietta und streckte die Hand aus, um zu verhindern, was im Begriff war zu geschehen. »Bitte. Lass es uns einfach zurück nach draußen stellen, damit sie alle zerstört werden. Das wäre die gesunde, vernünftige Lösung.«
»Du musst mir das lassen«, sagte Oona. »Ich habe einen furchtbaren Tag hinter mir. Ein Mann wurde nach einem Autounfall eingeliefert, seine untere Hälfte in zigtausend Stücken.« Oona nahm eine Handvoll Styroporkugeln aus dem Karton, hielt sie hoch und drückte die Hand zusammen, sodass es wie Konfetti zwischen ihren Fingern hervorstob. Sie war Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie in einem Bostoner Krankenhaus und ein Großteil ihrer Geschichten begann so. Mehr Konfetti rieselte hinab. »Zigtausend Stücke.« Sie gehörte zu den seltenen Vertretern ihrer Zunft, an denen ein OP-Kittel modisch aussah, was ihr gelang, indem sie immer und ausschließlich schwarz trug, vom Schal bis zu den Clogs, als wäre sie eine Ninja-Ärztin. »Das Styropor soll übrigens die Knochen darstellen.«
Oona hatte im selben Jahr ihre Ehe beendet und lebte seitdem wieder in ihrem alten Kinderzimmer. Henrietta kam das nicht ungelegen. Ihr Mann Harold war vor elf Monaten gestorben, und es half ihr, dass ihre Tochter wieder zu Hause war, dass, und sei es auch nur übergangsweise, eine zweite Seele unter ihrem Dach wohnte, jemand, der atmete und sprach. Die plötzliche Wiederkehr ihrer Mutterrolle war die perfekte Medizin für ihr Witwendasein.
Oona war groß gewachsen wie ihr Vater und hatte auch dessen Profil, seine auseinanderstehenden Augen, sein Lachen. Henrietta war niemals dankbarer dafür gewesen als während dieses letzten Jahres. Manchmal war es ihr und Harold unvorstellbar erschienen, wie sie eine Ärztin herangezogen haben konnten. Besonders in diesem Haus, in dem gelegentlich Hühner umherliefen, laut Musik gehört wurde und kiloweise selbst geschlagene und zu kleinen Kunstwerken geformte Butter im Kühlschrank lagerte. Harold war viele Jahre Chefkoch eines französischen Restaurants im Zentrum von Boston gewesen. Die vielen Sonntagabende, an denen sie zu Hause in der großen, offenen Küche Karotten zu Julienne schnitten und Fleisch hackten, hatten immerhin dazu geführt, dass Oona vertraut im Umgang mit scharfen Messern war.
Oona holte das oberste Exemplar aus dem Karton und presste es in gespielter Hingabe an ihre Brust. Henrietta wandte den Blick ab. Nach all der Zeit war das vertraute rosafarbene Cover nun also zurück in ihrem Leben.
»O mein Gott«, schrie Oona, wie um ihrer Überraschung Luft zu machen.
»Tu nicht so, als ob du es nicht längst erwartet hättest«, sagte Henrietta.
Natürlich hatten sie gewusst, dass das Paket unterwegs war. Gestern Abend war es von New York aus angekündigt worden. Lass uns wissen, was du denkst, hatte man sie fieberhaft beschworen, außer sich vor Begeisterung und lachhaft optimistisch, als ob sie tatsächlich geneigt wäre, nach all der Zeit etwas Positives darin zu sehen.
»Es ist wunderschön«, sagte Oona. In dem Paket lagen elf weitere Bücher. »Darf ich eins behalten?«
»Du hast doch sicher schon ein Exemplar«, sagte Henrietta.
»Ich habe eine ganze Sammlung. Aber keines davon ist so strahlend neu«, sagte Oona.
Die Wahrheit war, dass Henrietta es sich vor langer Zeit zu eigen gemacht hatte, die Existenz ihres Buches zu leugnen, was aber schwer umzusetzen war, da es in ihrem Computer und in den Händen ihrer Tochter ja existierte. Nun hatte ihr alter Verlag, Hubbard & Co., es neu (und wieder in Rosa) aufgelegt und es obendrein mit einer Fülle von kritischen Abhandlungen und Würdigungen versehen. Henrietta hätte nicht gedacht, dass sich ihr Buch für so etwas eignen würde. Man hatte sie gebeten, eine Einleitung zu schreiben, etwas Leichtes und zugleich Melancholisches, was sie abgelehnt hatte. Wochenlang hatten sie ihr hinterhertelefoniert. Schreib einfach etwas, hatten sie gebettelt. Irgendetwas! Fällt dir denn zu deinem Buch überhaupt nichts ein? Als Antwort schickte sie eine E-Mail:
Ich versuche seit Langem zu verdrängen, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Sie sollten wissen, es ist das Werk eines sehr jungen und zutiefst untalentierten Menschen. Ich weiß, dass ich mit dieser Meinung nicht alleine dastehe. Ich bin mir vollkommen bewusst, wie flegelhaft dies klingt, aber: Ich brauche einfach dringend das Geld.
Voller Begeisterung,
Henrietta Olyphant
Sie hatte das Buch hier geschrieben, während ihres ersten Jahrs in Massachusetts. Davor hatte sie in New York gelehrt. Frauenforschung. Die Politik des menschlichen Körpers. Gegenderte Dialektik in den Massenmedien. Auf Harolds Initiative waren sie hierhergezogen, als sie schwanger war. Da sie nicht mehr unterrichten konnte, wollte sie sich im Schreiben versuchen. Sie war jung und strotzte vor Selbstvertrauen. Meistens schrieb sie nachts in kleinen Sitzungen, während Oona schlief.
Ihre Heldin war die fünfundzwanzigjährige Eugenia Davenport, eine Zeitungsreporterin, deren Auftrag es im Sommer 1967 war, den begehrenswertesten Mann in New York zu finden und ihn dazu zu bringen, sie zu heiraten. Es war Henriettas Idee, ihr Werk wie ein Handbuch für Besucher des weiblichen Körpers anzulegen, in Anlehnung an Reiseführer, wie man sie als Tourist mit nach Paris nahm und die gespickt waren mit Stadtplänen, historischen Anekdoten und Abbildungen von Kathedralen, deren Besichtigung sich lohnte. In jedem Kapitel hatte Eugenia Davenport einen neuen Liebhaber, und mit jedem neuen Liebhaber gab es neue Entdeckungen zu machen.
Noch heute zuckte Henrietta bei dem Wort »Abbildung« zusammen: Die Unzertrennlichen enthielt die erste detailgetreue Abbildung einer Vagina, die jemals in einem Buch für die breite Masse zu sehen war, genauer gesagt einem Buch, das in Supermärkten an den Kassen auslag und das sich jede Frau oder Großmutter oder auch jeder Neunjährige greifen konnte, während der Einkauf in Tüten verpackt wurde. Ganz zu schweigen von der Art und Weise, wie sie diese spezielle Abbildung gezeichnet hatte: als eine ironische Schatzkarte zu einer verborgenen, sagenumwobenen Kolonie.
Sie sprachen kaum über das Buch, während Oona heranwuchs, und wenn, dann nannten sie es das Ding. Oder manchmal das Scheißding. Bis vor ein paar Monaten hatte Henrietta sich gefragt, ob sie die Einzige war, die sich noch daran erinnerte, wie es damals gewesen war, was das Buch dieser ganzen Generation, die sich so offen dazu bekannt hatte, bedeutete. Aber dann hatte sie das Geld gebraucht und die ganze Tortur war von vorne losgegangen.
Vergangene Woche war ihr Konterfei in Globe zu sehen gewesen, dann in People. Es kam wieder häufiger vor, dass wildfremde Menschen sie erkannten. In letzter Zeit wurde sie, wann immer sie in der Innenstadt von Aveline unterwegs war, unweigerlich angehalten von jemandem etwa ihres Alters, der blinzelnd zu erkennen versuchte, ob sie tatsächlich die Frau auf dem Buchrücken war, die mit der teuflischen silbernen Teekanne in der Hand. Die Unterhaltung drehte sich dann üblicherweise um die Szene im drittletzten Kapitel, in der Eugenia ihre Teekanne durch die Windschutzscheibe des Cadillacs von Templeton Grace schmettert, dem Mann, den sie für das Scheitern ihrer bevorstehenden Ehe verantwortlich macht. Die Teekanne war als eine ironische Anspielung gedacht, als ein Wink mit dem Zaunpfahl, der sich gegen Frauen wie ihre eigene Mutter richtete, für die die Teekanne, der Servierlöffel oder die Gießkanne zum Wappenzeichen der Familie geworden waren. Die zerberstende Fensterscheibe sollte einen epochalen Generationenwechsel symbolisieren. Eine Frau, die einen Hauch der urweltlich-männlichen Gewalt in sich trug.
Die Ablehnung war grenzenlos. Das Buch wurde auf eine Art ausgelegt, die sie nicht beabsichtigt hatte. Klügere, besser gebildete Feministinnen warfen ihr vor, eine Karikatur von schrillen, labilen Frauen gezeichnet zu haben, die mit Teekannen die Scheiben von amerikanischen Luxuskarossen zerstörten. Das Buch sei billig, sagten die Kritiker, und auf unverantwortliche Weise geistlos. Die Darstellung von sexbesessenen Frauen würde sich mit großer Wahrscheinlichkeit kontraproduktiv auf den Geschlechterkampf auswirken. Henrietta hatte das...
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