Das Windmühlen-Desaster
"Geparde gelten als schnellste Landtiere der Welt und verfügen über ein hoch spezialisiertes Jagdverhalten. Gestalt und Körperbau unterscheiden sich deutlich von anderen Raubkatzen, was zur Folge hat, dass Geparden traditionell eine Sonderstellung innerhalb ihrer Spezies eingeräumt wird. Hier sehen wir, wie ein Geparden-Weibchen ein Warzenschwein auf ein offenes Feld getrieben hat, wo dieses keine Chance mehr hat, seiner Jägerin zu entkommen ..."
Florentine Huth stand im Rahmen der Verbindungstür zwischen Wohnzimmer und Küche und starrte auf den Fernseher. Aber was auch immer der Sprecher da gerade erzählte und wie unglaublich flink diese elegante Raubkatze das deutlich weniger anmutige Warzenschwein zu Boden riss, um es in kürzester Zeit in tausend Einzelteile zu zerlegen, sie nahm es gar nicht wahr. Denn irgendwas stimmte nicht. Sie atmete tief ein. Die dezente, blutdruckbedingte Dauerröte in ihrem Gesicht wich einem tiefen Rot und vereinnahmte die gesamte Gesichtsfläche inklusive ihres energischen Doppelkinns, als hätte ihr jemand von oben per Trichter rote Flüssigkeit in den Kopf gegossen. Ihr eigenwilliger, altmodischer Pagenschnitt umrundete das Ganze wie ein schwarzer Bilderrahmen ein monochromes Gemälde. Genauer gesagt: ein fast monochromes Gemälde, denn da waren noch ihre grünen Augen. Die jetzt, leicht zusammengekniffen, ähnlich denen der Gepardin vor ihrer Attacke auf das bedauernswerte Warzenschwein, Angriffsbereitschaft und Entschlossenheit signalisierten. Womit das Ausmaß an Parallelen allerdings auch schon erschöpft war.
Sechsundneunzig Kilogramm bei einem Meter dreiundfünfzig Größe erzeugten zumindest auf den ersten Blick nicht zwingend die Assoziation einer eleganten Raubkatze.
Aber auch wenn bezüglich Schnelligkeit, Sprungkraft, Geruchssinn und Gehör sicherlich Welten zwischen ihr und dem Geparden-Weibchen lagen, musste sie sich dennoch keineswegs hinter diesem verstecken. Florentine Huth verfügte nämlich über eine andere, nicht weniger ausgeprägte Fähigkeit. Nämlich die, Dinge aufzuspüren, die nicht stimmten. Die nicht da waren, wo sie hingehörten. Die Unordnung erzeugten, feste Abläufe in Gefahr brachten oder sonst nicht den Regeln ihrer Welt entsprachen.
Wenn sie sich am Wochenende Salz auf ihr vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden-Ei streute und eines der sieben Löcher ihres Salzstreuers verstopft war, sodass es nur aus sechs Öffnungen rieselte, merkte sie das, ohne hinzusehen. Wenn der Wind einen ihrer lindgrünen Vorhänge auch nur angehaucht und dadurch eine der Falten um den Bruchteil eines Millimeters verschoben hatte, musste sie nicht einmal den Raum betreten, um das festzustellen. Ein flüchtiger Blick beim Vorbeilaufen am Türrahmen reichte. Hatte ihre Lieblings-Zimmerpflanze, eine mexikanische Topf-Kastanie namens 'Pachira Aquatica', eines ihrer typischen Blätter verloren, wäre das keinem Menschen bei dem Wirrwarr von Grün je aufgefallen. Florentine Huth registrierte es bereits, während sie mit ihrem Wagen in die lange Einfahrt zum Haus einbog, von wo aus man aufgrund der Entfernung die Pflanze auf dem Fenstersims gerade mal in Handgröße sehen konnte. Und war ein Handwerker im Haus und hatte ihre Gästetoilette benutzt, spürte sie vier Räume weiter, dass das Toilettenpapier plötzlich nicht mehr exakt so aus der Halterung hervorlugte, wie sie es zuvor arrangiert hatte.
Sie war vielleicht keine Raubkatze, aber dafür eine Art 'Ordnungs-Bluthund'. Und genau der hatte jetzt Witterung aufgenommen.
Ihr kleiner stämmiger Körper begann plötzlich vor Anspannung zu beben, erst ein bisschen, dann stärker. Bis sie, für einen Menschen ihrer Statur erstaunlich schnell, um ihre eigene Achse schoss, wie ein Tier, das auf einmal seinen Jäger hinter sich spürt. Auch wenn das, siehe Warzenschwein, nicht unbedingt immer etwas nutzte.
Florentine Huth brauchte keine Sekunde. Ohne überhaupt suchen zu müssen, fixierte sie mit einem gezielten Blick das, was diese Unruhe in ihr ausgelöst hatte. An einer der holländischen Porzellan-Wandkacheln, ziemlich genau drei Zentimeter neben der Steckdose für den Toaster, war ein Stück abgebrochen und lag nun in winzigen Teilchen auf ihrer Arbeitsplatte. Die übrigens aus südafrikanischem Granit namens 'African Silver' bestand, und die Horst damals mit der Begründung "Ein Land, das so viele ausbruchssichere Gefängnisse für seine schwarzen Sklaven gebaut hat, wird ja wohl erst recht bei einer Arbeitsplatte nix verkehrt machen!" ausgesucht hatte. Eine recht eigenwillige These, die aber in der Galerie seiner merkwürdigen Betrachtungsweisen nicht wirklich weiter aufgefallen, sondern eben nur eine von vielen gewesen war.
Warum es gerade dieses eine kleine Stück der Kachel regelrecht zerbröselt hatte, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Tatsache aber war, dass jetzt ein Teil des holländischen Porzellan-Windmühlenflügels fehlte und mit Kleben oder Ähnlichem angesichts der Kachel-Moleküle auf der Arbeitsplatte nichts mehr zu machen war.
Und auch wenn Florentine solche Situationen abgrundtief hasste und als persönliche Angriffe auf ihre Ordnungswelt empfand, wusste sie, dass Lamentieren oder gar Selbstbedauern nichts nutzten. Sondern dass es, wie auch jetzt, galt, sich Gedanken zu machen, um möglichst schnell die richtige Strategie zu entwickeln. Was sie schon immer am besten konnte, wenn sie sich dafür, ausgestattet mit einer großen Schüssel Frikadellen, an ihren Küchentisch setzte. Die sie sich jetzt langsam, eine nach der anderen, in den Mund schob, während sie nachdachte.
Wann und wo sie die Kacheln damals gekauft hatte, wusste sie natürlich noch, denn neben dem Ordnungs-Spürsinn verfügte sie über ein nicht minder großes, fast schon unheimlich genaues Gedächtnis. Im 'Kachel- und Fliesen-Paradies Eschmann', einem kleinen Familienbetrieb zwei Orte weiter, am Ende der dortigen Hauptstraße. Den es aber nicht mehr gab, da vorletztes Jahr die Frau des Chefs, Erika Eschmann, mit einem der serbischen Auslieferungs-Fahrer namens Branko in sein Heimatland durchgebrannt war, um dort die Leitung einer sehr erfolgreichen Manufaktur für Böhmische Knödel zu übernehmen. Wobei sich die Knödelfabrik allerdings direkt nach ihrer Ankunft als ein sehr gut florierendes Bordell in der Belgrader Innenstadt, Branko als übler Drecksack und ihr neuer Arbeitsplatz als etwas anders als erwartet entpuppt hatten. Und auch für Werner Eschmann, ihren verlassenen Gatten, war es nicht wirklich gut gelaufen, denn schon kurz darauf war die gehörnte Ehefrau von Branko im Büro des eh schon deprimierten Kachel-Chefs aufgetaucht, hatte ihm lauthals eheliches Versagen vorgeworfen ("Wenn du besserr pimperschst deine Frau, dann sie nisch will fickfack mit mein Branko!"), um ihm dann kurzentschlossen mit einer Schrotflinte zwischen die Beine zu schießen. Worauf er wenig später aufgrund rapiden Blutverlustes das Zeitliche gesegnet hatte. Und nachdem auch Irma ihre Genugtuung nicht wirklich hatte auskosten können, da sie beim Verlassen des Büros von einem der Lieferfahrzeuge (mit der hübschen Aufschrift "Hoppla, jetzt wird gekachelt!") überrollt wurde, war das Ende des Familienbetriebs besiegelt, denn niemand hätte ein Geschäft mit derart düsterem Karma noch übernehmen wollen. Selbst erbbedingte Nachfolger in Form von Söhnen oder Neffen hatten sich seitdem konsequent verleugnen lassen. Und so war die kleine Kachelfirma irgendwann dichtgemacht worden und schon bald aus sämtlichen Handelsregistern verschwunden.
Nein, da brauchte sie es gar nicht erst zu versuchen.
Noch bevor sie über die Möglichkeiten, wo es eine Ersatzkachel geben könne, nachdenken konnte, drängte sich ihr die Frage dazwischen, wer die in der Küche überhaupt so dilettantisch angebracht hatte, dass jetzt, gerade mal zweiunddreißig Jahre später, aus heiterem Himmel ein Stück davon abgefallen war?
Im Zweifelsfall Horst, das hatte sich schon immer als zuverlässige Erklärung für Missstände erwiesen.
Nachdem sie also das Kachel- und Fliesenparadies von ihrer Lösungsliste gestrichen hatte, galt es, Option Nummer Zwei nachzugehen. Trotzig stapfte sie ins Nachbarzimmer, wo Horsts ehemaliger Schreibtisch stand, in dem sich das Gelbe Seiten-Buch befand. Umgehend begann sie akribisch sämtliche Kachel- und Fliesenfirmen des gesamten Landkreises abzuklappern. Wenn auch ohne jeden Erfolg. Alle Gespräche liefen stets gleich ab: Sie beschrieb, was sie suchte, ihre Gesprächspartner erklärten, dass sie diese Art von Kacheln schon lange nicht mehr führten, sie auch über keinerlei Restposten verfügten, gerne aber mal jemanden wegen eines Kostenvoranschlages für eine neue Wand vorbeischicken würden. Und so verschwand ein Unternehmen nach dem anderen aus den Gelben Seiten, denn jede unzufriedenstellende Auskunft ahndete sie damit, die Firma mit einem dicken schwarzen Edding zu eliminieren. Hilfreich, wenn auch nicht gerade erbaulich, war nur der Hinweis eines älteren Mannes, der ihr mit brüchiger Stimme erzählte, dass diese Kachel-Edition 'De wieken van de molen' ('Der Flügel der Windmühle') geheißen hatte und bereits damals in stark limitierter Auflage hergestellt worden sei. Und deswegen unter Kachel-Suchenden einen ähnlichen Stellenwert hätte wie der Apollofalter 'Parnassius Przewalskii' in der Schmetterlingssammler-Szene.
Resigniert stellte sie die telefonische Suche irgendwann ein und setzte sich stattdessen an den Computer. Um den sie eigentlich von jeher einen großen Bogen machte, weil ihr Computer schon immer suspekt...