Schweitzer Fachinformationen
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15. August 1966, Montag, Maria Himmelfahrt
1
Wilhelm stand sich die Beine in den Bauch. Und er schwitzte. Diese vermaledeite, unerträgliche Hitze! Kurz hatte er die Ahnung von Durchatmen verspürt, als er nach vier Bier und zwei Schnäpsen von der Stadt Brünn nach Hause geeilt war. Geeilt, ja, denn irgendwann hatte er Kopfweh bekommen, nachdem Herr Wickerl offensichtlich daran interessiert gewesen war, mit ihm jede, aber auch wirklich jede Schlagzeile der Zeitungen durchzukauen, um schließlich beim neuen Rundfunkgesetz zu landen und der Frage, was für unsinnige Neuerungen den Österreichern nun damit wieder ins Haus stünden. Doch Wilhelm vermochte sich gestern nicht - so wie ohnehin nie - dagegen zu verwehren, denn der alte Mann tat ihm leid. Nach achtundvierzig Jahren Ehe war diesem die Frau vor zwei Jahren verschieden und er darob sehr einsam geworden.
Und doch stand er, Wilhelm Fodor, Chefinspektor, nun zum verabredeten Zeitpunkt neben dem Hotel Valerie in der Taborstraße - in aller Herrgottsfrüh bei mindestens zweiundzwanzig Grad. Aber wer war nicht da? Seine Assistenten. Halb neun war doch wirklich christlich, da hatten sie keine Ausreden zu haben, Feiertag hin oder her.
Wilhelm nestelte die Zigarettenpackung aus der Sakkotasche. Sie war leer. Er sah sich um und erblickte unweit eine Trafik. Er durchsuchte seine Börse bereits nach Münzen für den Automaten, als er erkannte, dass die Hintertür, die sich seitlich im öffentlichen Durchgang des Hauses befand, trotz Feiertags ein Stückchen offen stand. Also betrat er das Geschäft und sah sich einem Mann auf einer Leiter mit einem Staubwedel in der Hand gegenüber - in der einzigen Hand, denn der linke Arm fehlte.
Wilhelm verkniff sich jede Reaktion, er brauchte nach dem gestrigen Abend wahrlich keine weitere Diskussion über irgendwelche Kriege und deren Auswirkungen. »Einen schönen Tag wünsche ich!«
Brummen.
»Könnten wir eine Ausnahme machen? Ich hab nicht genug Kleingeld für den Automaten.«
Der Trafikant brummte erneut, legte den Wedel aufs Regal, stieg gemächlich von der Leiter herab, klopfte sich den vermeintlichen Staub von der Brust und sah Wilhelm an.
Er orderte vor lauter schlechtem Gewissen gleich drei Packungen.
Der Mann kassierte und deutete auf die Zeitungen. »In Vorarlberg regnet's schon.«
»Da haben wir was davon.«
»Eh net. Aber vielleicht kommt's ja bald.«
»Schauma amal.«
»Da haben S' recht, wer weiß?«
Sie grinsten einander an. Ein Wiener war nie davon überzeugt, dass ein Ereignis im äußersten Westen des Landes auch für die Bundeshauptstadt von Bedeutung sein musste.
Wilhelm war schon auf der Türschwelle, als er sich seiner Arbeit erinnerte. Er drehte sich um. »Sagen Sie, bekommen Sie mit, was eigentlich so im Valerie passiert?«
Der Einarmige lachte auf. »Nein, wieso sollt ich?«
Wilhelm schlenderte zu ihm. »Na, die Gäste rauchen. Und reden. Die Angestellten kaufen Zeitungen. Und reden. Sie stehen vielleicht einmal auf der Gassn, wie der Portier, und reden.«
»Des könnt schon sein. Und wer steht da herinnen? Und redet?«
Wilhelm zückte seine Kokarde.
»Chefinspektor Fodor. Verstehe. Was ist denn passiert? A Mord?« Der Mann lehnte sich über die Budel. Ohne den zweiten Arm sah das wie ein Kunststück aus.
»Wieso kommen S' auf Mord?«
»Oder Spionage?«
»Sie sind mir ja einer. Gleich die vollen Geschütze.«
Der Mann richtete sich auf. »Na, bei einem Einbrecher täten Sie kaum bei mir nachfragen, weil was sollt ich von dem wissen? Der hätt die Hüttn von der Mohrengasse her ausbaldowert. Da is der Hinterhof, bei dem er si eineschleichen kann. Bei einem Dieb dasselbe.« Er beugte sich wieder zu Wilhelm. »Aber bei was Gefährlichem, Konspirativem, da kann's natürlich schon sein, dass sich da wer bei mir herumgetrieben hat.«
»Und? Hat sich wer?«
»Woher soll ich das wissen? Zu mir kummen vü Leut.«
Wilhelm lehnte sich ebenfalls auf die Budel. »Und ein«, Waller erschien mit erhobenem Zeigefinger vor seinem geistigen Auge, »Schwarzer?«
»Die gibt's wie Sand am Meer. Blonde werdn ja immer weniger. Hat was mit Dominanz zum Tun, hat mir letztens a Kunde erklärt.«
Wilhelm musterte die zusammengekniffenen Augen des Trafikanten und wurde sich trotzdem nicht klar darüber, ob der Mann ihn gerade auf den Arm nahm oder es ernst meinte.
»Ein Neger.«
Der Mann richtete sich wieder auf und sortierte Zigarettenpackungen ins Regal - eine nach der anderen. »Da kommen auch immer wieder welche zu mir.« Weitere zwei Stück. Die langsame Bewegung hatte etwas Einschläferndes. Kein Wunder, dass der Mann am Feiertag arbeitete - bei dem Tempo.
»Mehrere? Ist da irgendwo eine Botschaft aus Afrika?«
Der Mann streckte sich durch, es wirkte, als wolle er Haltung einnehmen. »Das Valerie ist ein Haus der Kategorie A.«
»Weiß ich.«
»Eben. Es wird von internationalen Gästen besucht.«
»Verstehe.« Wilhelm blätterte in der Presse. Er bemühte sich nicht einmal, etwas mitzubekommen. »Und war da einmal ein Besonderer drunter?«
»Was ist >besonders<?«
»Nervös? Um sich schauend? Etwas Eigenartiges kaufend?«
Der Trafikant grinste. »Letzte Weihnacht hat einer an Humidor kauft. An großen. An so was erinnert man sich. Aber an was sonst no?« Er zuckte mit den Schultern.
»Verstehe.« Wilhelm packte wahllos Tageszeitungen und reichte dem Mann fünfzig Schilling. »Der Rest ist für Sie.«
Der Trafikant bedachte das Bestechungsgeld nicht einmal mit einem Seitenblick, allerdings wirkte sein Lächeln jetzt von Herzen kommend. Doch er sagte nichts.
Wilhelm seufzte. »Ja, und so in den letzten paar Tagen?«
»Nur einer. Und da war nichts Besonderes. Tschick. A3. Aber von den Heller hat er si immer was genommen.« Der Trafikant deutete auf ein Bonbonglas, das neben der Kassa stand. »Is eigentlich für die Kinder, aber er war ganz wild drauf. Und er hat krank ausgeschaut, des is ma aufgfalln.«
»Sie sagen >immer<? Wie oft war er denn da?«
»Vier Mal. Das erste Mal war er .« Er nickte sinnierend. »Ja, das muss letzten Mittwoch gwesen sein. Kurz vorm Zwölfeläuten. Und dann jeden Tag bis zum Samstag, aber da dann immer in der Früh. Und weil Sie mich ja eh gleich fragen: A großer, fescher Kerl war er, und i glaub, dass er a GI is, weil er hat so Stiefeln anghabt.«
Wilhelm stopfte die Zigaretten in die Sakkotaschen und rollte die Zeitungen zu einem großen Packen zusammen. »Danke, das war schon einmal sehr hilfreich. Sind Sie noch ein bissel da?«
Der Trafikant deutete auf einige Kartons mit Nachschub.
»Gut, weil ich würde Ihnen nachher gern ein Foto zeigen. Ob's sich dabei um Ihren Kunden handelt.«
Gnädiges Nicken. Ohne ein weiteres Wort kletterte der Einarmige wieder die Leiter hinauf.
Wilhelm trat hinaus - und beinahe auf die Zehen einer dunkelhaarigen Schönheit. Sie wartete seine Entschuldigung nicht ab, wedelte nur mit der Hand und eilte weiter Richtung Taborstraße. Das war auch Wilhelms Weg, also folgte er ihr und kam dadurch in den Genuss, das wohlgeformte Hinterteil der Frau bewundern zu können. Es wurde von einem schmalen pflaumenfarbenen, knielangen Rock eingerahmt, zu dem ein kurzärmeliges Oberteil gehörte.
Nach ein paar Schritten wurden die Schritte der Frau zögerlicher. Wilhelm schaute sich instinktiv nach dem Auslöser für die Verlangsamung um. Aber da war keine Auslage, der Kopf der Frau war vielmehr vollkommen gerade ausgerichtet. Er folgte ihrem Blick. Dieser schien direkt auf den Eingang des Hotels gerichtet zu sein - und in weiterer Folge auf Fischer und Lukaschek, die sich vor dem Entree gerade aus dem 500er Puch, ihrem vermaledeiten Dienstwagen, herauswurstelten. Die Frau blieb stehen, Wilhelm stellte sich schräg hinter sie, lehnte sich an die Hausmauer und tat so, als studiere er die oberste Zeitung seines Packens, während er sie fixierte. Sie starrte tatsächlich auf seine beiden Assistenten - oder auf den alten Mann mit dem Pudel, der sich von der anderen Seite dem Hotel näherte. Abrupt drehte sie um, zum Glück von Wilhelm abgewandt, und strebte zurück zum Durchgang des Nebengebäudes, wo sie hergekommen war.
Wilhelm folgte ihr. Vielleicht war der alte Mann ein Verwandter, dem sie nicht begegnen wollte, oder der Vermieter ihrer Wohnung, dem sie Geld schuldete. Oder sie hatte tatsächlich Fischer und Lukaschek als das erkannt, was sie waren: Polizisten. Und jemand, der der Polizei auswich, war immer interessant. Er ließ sie in den Durchgang einbiegen, dann folgte er mit ein paar schnellen Schritten. Im überdachten Teil versteckte er sich hinter einer Säule. Als sie das Tor auf der anderen Seite des Hofes durchschritt und nach links verschwand, lief er ihr nach. Er lugte um die Ecke und sah sie mit energischen Schritten die Straße überqueren. Nach ein paar Metern verschwand sie in einem Geschäft.
In der Auslage waren um zwei Kleiderpuppen kunstvoll Stoffe drapiert, am Boden lagen aufgeblätterte Modezeitschriften. Es handelte sich wohl um eine Maßschneiderei. Der Schriftzug über dem Eingang wies sie als »Salon Pompadour« aus. Er warf einen schnellen Blick ins Innere, doch ein weißer Vorhang versperrte ihm die Sicht, er konnte also nicht feststellen, ob es sich bei der schwarzhaarigen Schönheit um eine Kundin oder eine Angestellte handelte. Das war das Ende der Aktion, er sollte zu seinen Männern zurückkehren, der Tag wartete mit einem vollen Programm auf...
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