Schweitzer Fachinformationen
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Die Herbstwoche, in der das neue Schuljahr beginnt, ist genauso schlimm wie Weihnachten. Jedenfalls war das die Meinung von Wachtmeister Guarnaccia. Im größten Kaufhaus von Florenz war, wie immer, eine ganze Etage freigeräumt worden, und nun lagen dort Stapel von schwarzen, weißen, blauen und karierten Schulkitteln, und die Regale waren vollgepackt mit Schreibheften, Stiften, Schultaschen und anderen Dingen. Überall genervte Eltern und quengelnde Kinder, die von Stand zu Stand drängten und nach den knallbunten Packungen mit Filzstiften und Mickymaus-Radiergummis griffen. Mütter konsultierten ihre Einkaufslisten, um festzustellen, welches Kind dreizeilig linierte Hefte benötigte und welches doppelt linierte. Väter protestierten gelegentlich wegen der unnötig hohen Ausgaben, hatten aber wenig Hoffnung, beachtet zu werden. Es war heiß im Kaufhaus, und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm.
Der Wachtmeister hatte bislang noch nicht protestiert. Genau eine Stunde und zehn Minuten trottete er seiner Frau und den beiden Jungen jetzt schon hinterher. Gerade erst hatte er auf seine Uhr gesehen. Um diese nachmittägliche Stunde lag er gewöhnlich mit der Zeitung auf dem Wohnzimmersofa und döste, während der Espresso auf dem kleinen Tisch daneben langsam kalt wurde. Daß er darauf verzichten mußte, war für ihn ebensowenig Grund [6]zur Klage gewesen, doch inzwischen fragte er sich, ob er es rechtzeitig zur Carabinieri-Wache Palazzo Pitti schaffen und um fünf wieder an seinem Schreibtisch sitzen würde. Eine gute Viertelstunde standen sie schon in einer langen Schlange vor der Kasse, als sich plötzlich zeigte, daß sie irgend etwas vergessen hatten, woraufhin die drei wieder loszogen. Totò brüllte: »Hier! Sie sind hier!« Er wurde von Teresa ständig ermahnt, leiser zu sein. Wozu das gut sein sollte, war dem Wachtmeister nicht klar, da alle anderen Kinder hier genauso brüllten. In dieser Menschenmenge konnte man nicht nachdenken, geschweige denn sich bewegen.
Sie waren wieder verschwunden. Er gab es auf, ihnen zu folgen, und blieb einfach stehen. Mit seiner Leibesfülle und in der schwarzen Uniform sah er aus wie ein gestrandeter Wal an einem belebten Strand. Ein leises »Uffa!« entrang sich ihm, während er nach einem Taschentuch suchte, um sich die Stirn abzuwischen. Ein Kind stolperte über seine großen schwarzen Schuhe, und eine Frau stieß ihn an:
»Stehen Sie hier an oder nicht?«
Ohne ihr eine Antwort zu geben, löste er sich aus der Menschentraube vor der Kasse. Nirgends konnte er sich hinstellen, ohne irgend jemand im Weg zu stehen. Na ja, egal. Soweit er sich erinnerte, hatte er in die Schule höchstens einen Bogen liniertes Papier für den wöchentlichen Aufsatz mitgenommen. Bleistifte lagen in der Küchentischschublade oder wurden geborgt.
»Aber Mamma! Er ist viel zu lang!« Ein kleiner Junge hinter dem Wachtmeister protestierte, als seine Mutter ihm einen schwarzen Kittel anhielt.
[7]»Ich werde ihn kürzen. Im nächsten Jahr soll er ja auch noch passen. Halt endlich still!«
Dem Wachtmeister fiel auf, daß kaum noch ein Kind mit der Satinschleife am Hals herumlief, wie sie seinerzeit üblich gewesen war. Seine Mutter hatte immer viel Tamtam darum gemacht, hatte stundenlang, wie ihm schien, an ihr herumgezupft, bis sie richtig saß, während er sich wehrte und hinaus wollte auf die staubige, gelbe Straße, um unterwegs noch etwas Zeit für einen kleinen Streich zu haben. Die Mutter pflegte außerdem sein widerspenstiges schwarzes Haar mit Wasser zu frisieren - auch so etwas, was er nicht hatte leiden können. Und wenn er dann wie ein freigelassenes wildes Tier aus der Küche schoß, rief sie ihm hinterher: »Und spiel unterwegs nicht, sonst machst du dich schmutzig! Denk dran!« Immer hatte er unterwegs gespielt, und immer hatte er sich schmutzig gemacht, und seine Mutter hatte es gewußt, ihn aber trotzdem immer wieder ermahnt. Jetzt war es Teresa, seine Frau, die Tag für Tag zu Totò sagte: »Sei nicht so laut!«, obwohl sie wußte, daß er nicht anders als mit lauter Stimme sprechen konnte.
»Ich habe nein gesagt!« Eine verzweifelte Frauenstimme riß ihn aus seinen Gedanken. Neben ihm stand ein kleines Mädchen schluchzend vor den Plastikranzen.
»Wir können's uns nicht leisten - deine ganzen Schulbücher müssen wir auch noch kaufen!«
Die Stimme der Mutter hatte keinerlei Wirkung auf das schluchzende Kind. Die Kleine hielt sich mit aller Kraft an dem Regal fest, wollte nicht weggezogen werden. Ein etwas größeres Mädchen von etwa acht oder neun Jahren, [8]das einen hellroten Plastikranzen an sich drückte, stand da und sah zu - ein bemerkenswert hübsches Kind mit langen blonden Haaren und braunen Augen. Der Wachtmeister war fasziniert von ihrem Gesichtsausdruck, der zwischen Mitleid für die Lage des anderen Mädchens und Selbstzufriedenheit schwankte. Je mehr das kleinere Kind weinte, desto stärker preßte sie mit strahlendem Blick den Ranzen an sich.
Der Wachtmeister wandte sich ab. Seine großen, ein wenig hervorstehenden Augen schauten zwar immer noch ausdruckslos, doch die Stimmung des blonden Mädchens hatte er sehr wohl registriert. Er empfand einen ähnlichen Zwiespalt: Einerseits bedrückte ihn, wie viele Probleme minderbemittelten Familien durch all diese unnötigen Geldausgaben entstehen mußten, andererseits spürte er Selbstzufriedenheit und Erleichterung bei dem Gedanken, daß er es sich leisten konnte. Zumindest . Er zog seine Brieftasche heraus und schaute hinein, obwohl er keine Ahnung hatte, wieviel seine Frau inzwischen gekauft haben mochte. Es war ja richtig, was diese Frau eben gesagt hatte, daß noch Schulbücher gekauft werden mußten. Er hoffte, daß er auf diese Expedition nicht auch noch mitgeschleppt würde. Die Schlange draußen vor der Buchhandlung reichte die ganze Straße hinunter, und selbst wenn man bis an die Spitze vorgerückt war und seine Liste abgab, mußte man noch lange warten.
Halb fünf. Er würde sich verspäten. Noch immer machte er keine Anstalten, seine Frau und die Kinder zu suchen. Sie würden ihn leichter sehen, wenn er sich nicht von der Stelle rührte. Er blieb noch eine Viertelstunde [9]stehen, und dann fanden sie ihn, genauer gesagt, Totò war es, der brüllend auf ihn zugestürzt kam: »Mamma ist dran. Sie sagt, du sollst um Gottes willen kommen, sie hat nämlich kaum Geld dabei!«
»Ich werde mich verspäten«, sagte er, nachdem er bezahlt hatte.
»Hier, trag das . und das. Moment mal, hat sie mir richtig rausgegeben?«
»Es ist Viertel vor fünf.«
»Nein, nein, alles in Ordnung. Maul jetzt nicht rum, Salva, wir sind praktisch fertig.«
»Praktisch?«
»Ich will nur im unteren Stockwerk schnell noch was besorgen. Die Jungs brauchen Socken. Du übrigens auch. Totò! Brüll nicht so! Hier wird nichts mehr gekauft, und damit basta! Nimm Giovanni auf der Treppe an die Hand, und falls wir uns verlieren, gehst du direkt zur Abteilung Kindersocken. Hast du verstanden? Salva, wo bist du? Salva!«
Er stapfte hinter ihnen die Treppe hinunter, während seine großen Augen über die Köpfe der Menge weiter unten wanderten. Er entdeckte die langen blonden Haare des hübschen kleinen Mädchens, das still und geduldig dastand, während irgend etwas für sie gekauft wurde. Eine ebenso blonde, sehr hektische junge Frau, wahrscheinlich ihre Mutter, und eine gutgekleidete ältere Frau, die das Kommando zu führen schien, begleiteten sie. Er erinnerte sich an das andere kleine Mädchen, das traurig gewesen war, weil es keinen Ranzen bekam.
»Findest du nicht, daß wir genug eingekauft haben?« [10]murmelte er, als sie am Fuß der Treppe ankamen, aber seine Frau hörte ihn nicht.
Er hatte sich verspätet. Im Warteraum saß eine Frau, die sich halb erhob, als sie ihn sah, doch er nickte ihr bloß zu und ging weiter in sein Zimmer, wobei er im Vorbeigehen an die Tür der Wachstube klopfte. Mit etwas Glück würde Lorenzini, der junge Brigadiere, ihm eine Tasse Kaffee bringen. Er brauchte ein, zwei Minuten, um wieder zu Atem zu kommen. Seufzend setzte er sich an seinen Schreibtisch, sein Kopf dröhnte noch immer vom Lärm des Kaufhauses. Lorenzini klopfte und steckte den Kopf ins Zimmer.
»Immer hereinspaziert!« Und dann: »Wie hast du das erraten?«
Lorenzini hatte nämlich eine Tasse Kaffee in der Hand.
»Ich wußte, daß Sie einkaufen waren, und Sie sind spät dran, deshalb . Sie sehen nicht so aus, als hätte es Ihnen viel Spaß gemacht.«
»Spaß gemacht? Hör zu .«
Lorenzini hörte zu. Das war etwas, worauf er sich verstand. Der Wachtmeister schlürfte von dem brühheißen, starken Kaffee und brummte vor sich hin.
»Und das schlimmste ist«, meinte er schließlich, »kaum hat man die Ausgaben für die Schulsachen hinter sich, wird die Weihnachtsdekoration aufgebaut, und wieder heißt es: kaufen, kaufen, kaufen. Dein Kind ist noch ein Baby, aber du wirst bald wissen, wovon ich rede.«
Ihm war klar, daß er übertrieb, aber er konnte nicht anders. Er konnte Lorenzini auch nicht sagen, daß er sich in [11]Wahrheit ein wenig schuldig fühlte, und zwar nur wegen eines kleinen Mädchens, das keinen Ranzen hatte, und eines hübscheren, das einen besaß.
»Das meiste taugt sowieso nichts. Sie brauchen gar nicht alles, aber wenn einer etwas hat, müssen alle anderen es auch haben, und das nutzen die Geschäfte aus . Wer ist die Frau im Wartezimmer?«
»Eine Signora Fossi.«
»Und was will sie?«
»Mit...
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