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Auf einem entlegenen Bergbauernhof im norwegischen Gudbrandstal wächst Edvard mit seinem wortkargen Großvater Sverre auf. An seine Mutter hat er nur eine vage Erinnerung - an einen Duft, ein Gefühl von Wärme, einen blauen Rock. Lars Mytting erzählt die Geschichte einer verzweifelten Suche nach der Mutter, dem Vater, den eigenen Wurzeln - und einer Reise, die Edvard durch fremde Länder führt und dessen Familiengeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasst: das Jahrhundert der großen Tragödien. Edvards Eltern sind ums Leben gekommen, als er drei Jahre alt war. Um ihren Tod wird ein Geheimnis gemacht, und auch um den Ort, an dem sie starben. Zu diesem Geheimnis gehört auch das Schicksal Einars, des Bruders des Großvaters. Edvard weiß nur, dass er ein Meistertischler war und als junger Mann zur Ausbildung nach Paris ging. Dass er seine Werkstatt mitsamt dem Wald von Flammenbirken zurückließ. Dass für den Großvater ein Sarg geliefert wurde, lange vor dessen Tod - ein Stück Kunsttischlerei, wie es noch nie jemand gesehen hat -, und dass Einar womöglich gar nicht tot ist, wie es der Großvater behauptete .
Für mich war Mutter ein Duft. Mutter war Wärme. Sie war ein Bein, an das ich mich klammerte. Der Atem von etwas Blauem; ein Rock, den sie manchmal trug, so meinte ich mich zu erinnern. Mir selbst sagte ich, dass sie mich wohl mit einer Bogensehne ins Leben geschossen hatte, und wenn ich die Erinnerungen an sie in mir suchte, wusste ich nicht, ob sie zutrafen, ich erschuf meine Mutter eben so, wie ich dachte, dass ein Sohn sich an seine Mutter erinnern sollte.
An Mutter dachte ich, wenn ich die Sehnsucht in mir auskostete. Selten an Vater. Manchmal fragte ich mich, ob er wäre wie andere Väter aus dem Dorf. Männer, die ich in Reservistenuniform sah oder mit Fußballschuhen beim Alte-Herren-Training, Männer, die am Wochenende für die Freiwilligeneinsätze im Jäger- und Anglerverein Saksum früh auf den Beinen waren. Aber ich ließ ihn ohne Reue verblassen und nahm das, jedenfalls viele Jahre lang, als Beweis dafür, dass Großvater versuchte, alles zu tun, was Vater getan hätte, und dass es ihm wirklich gelang.
Großvaters Messer war ein abgebrochenes Russen-Bajonett. Der Schaft aus Flammbirke war die einzige feine Schreinerarbeit, die er je angefertigt hatte. Die obere Schneide war stumpf, mit ihr schabte er Rost ab oder bog Stahldraht. Die andere schliff er immer so, dass er mit ihr Pflaster abschneiden oder Zehnzentnersäcke mit Kalk aufschlitzen konnte. Mit einem Hieb, so dass die weißen Körner herausrieselten, ohne dass etwas danebenging, und ich den Kalk mit dem Traktor auf den Acker fahren konnte.
Die scharfe und die stumme Schneide liefen zu einer dolchartigen Spitze zusammen, mit der er die kiloschweren Forellen tötete, die wir im Saksumsee fingen. Er machte sie vom Haken los, kräftige Fische, die heftig zappelten, wütend darüber, dass sie an der Luft ertranken. Dann legte er sie auf das Dollbord, stach die Spitze des Messers hinter dem Schädel ein und prahlte, wie breit ihr Rücken sei. Ich hob dann immer die Ruder und beobachtete, wie das Blut dick und langsam über die Klinge tropfte, während das Wasser rasch und dünn von den Rudern rann.
Doch dann mischten die Tropfen sich in demselben Bergsee. Die Forellen bluteten aus und wurden unser Fisch aus unserem See.
Am ersten Schultag entdeckte ich meinen Namen auf einem Pult und setzte mich dorthin. Das Blatt Papier war in der Mitte gefaltet und stand von selbst, in einer fremden Filzstiftschrift stand er auf beiden Seiten darauf, als müsste auch ich selbst, nicht nur der Lehrer, daran erinnert werden, wer ich war.
Ich drehte mich die ganze Zeit nach Großvater um, obwohl ich wusste, dass er da stand. Die anderen Kinder kannten einander schon, und so starrte ich auf die Europakarte und die breite Wandtafel, die leer war und grün wie ein Weltmeer. Ich spitzte noch einmal über die Schulter und bemerkte, dass Großvater doppelt so alt war wie die anderen Eltern. Er stand da, unverrückbar in seinem groben Islandpullover, und war alt auf dieselbe Weise wie Fridtjof Nansen auf den Zehnkronenscheinen. Sie hatten beide den gleichen Bart, die gleichen Augenbrauen, und die durchlebten Jahre beschwerten ihn nicht, sondern schienen dem Gesicht jedes für sich Lebenskraft zu verleihen. Denn Großvater konnte nie alt werden. Das sagte er auch. Dass ich ihn jung hielt und er sich selbst jung machte, für mich.
Mutters und Vaters Gesichter wurden nie älter. Sie lebten auf einem Foto auf der Kommode, gleich neben dem Telefon. Vater lehnt sich an den Mercedes, er trägt Schlaghosen und eine gestreifte Weste. Mutter sitzt in der Hocke und streichelt Pelle, unseren Buhund. Es ist, als wollte er ihr den Weg versperren und verhindern, dass wir wegfahren.
Tiere haben vielleicht Vorahnungen.
Ich selbst sitze auf dem Rücksitz und winke, das Bild dürfte also vom Tag unserer Abreise sein.
Ich bilde mir immer noch ein, ich würde mich an die Fahrt nach Frankreich erinnern wie an den Geruch der heißen Kunstledersitze oder an die Bäume, die hinter den Seitenfenstern vorbeizogen. Lange meinte ich auch, ich würde mich an Mutters Geruch an diesem Tag erinnern und an die Stimmen meiner Eltern über dem Fahrtwind.
Wir haben noch die Negative zu dem Foto auf der Kommode. Großvater sandte den Film nicht gleich zum Entwickeln ein. Erst dachte ich, er täte das aus Sparsamkeit, denn bevor dieses letzte Foto von Mutter und Vater kam, hielt er erst noch Weihnachten, das mittsommerliche Netzfischen und die Kartoffelernte auf dem Film fest.
Aber woran sparte er eigentlich, das versteht sich nicht von selbst. Ich glaube, er wartete mit dem Entwickeln, weil man bei einem Negativfilm nicht weiß, wie die Bilder werden, bis sie aus dem Labor kommen. Man hat eine Ahnung, eine Erwartung, wie die Motive sich gestalten, und so lebten Mutter und Vater länger, in der Emulsion, bis das Entwicklerbad sie endlich werden ließ.
Ich glaubte es Großvater, wenn er gegen Ende meiner Tobsuchtsanfälle wiederholt sagte, er habe mir alles erzählen wollen, wenn ich erst mal »groß genug« sei. Aber vielleicht bemerkte er gar nicht, wie ich heranwuchs. Und so entdeckte ich die Wahrheit zu früh, und da war es zu spät.
Es war zu Beginn der dritten Klasse. Ich fuhr mit dem Rad runter zum Lindstadthof. Die Tür stand offen, ich ging hinein und rief hallo. Das Haus war leer, sie waren wohl im Stall, und so ging ich bis ins Wohnzimmer. Im dunklen Bücherregal stand eine Stereoanlage, der Deckel des Plattenspielers war zugestaubt. Landkartenbücher des Automobilvereins, Romane in Kurzfassung von Readers Digest und eine Reihe burgunderroter Bände mit Goldschrift auf dem Rücken: Es geschah . Auf jedem Buch eine Jahreszahl, ich begriff, dass es sich um Jahrbücher mit den jeweils wichtigsten Ereignissen handelte.
Durchaus nicht zufällig nahm ich den Band für 1971 aus dem Regal, und es war, als wollte das Jahrbuch selbst, dass ich es öffnete, denn es klappte bei den Einträgen für September auf. Die Seiten waren blank von Fingerabdrücken, die Ecken waren abgegriffen, und im Falz lagen Tabakkrümel.
Mutter und Vater, jeder auf einem Foto, zwei schlichte Porträts. Darunter ihre Namen und in Klammern Reuters. Ich wunderte mich, wer Reuters sein mochte, ich fand, ich müsste es wissen, schließlich ging es um meine Eltern.
Dabei stand, ein französisch-norwegisches Touristenpaar, beide mit Wohnsitz im Gudbrandsdal, sei am 23. September in Authuille in Nordfrankreich ums Leben gekommen. Sie hatten ein eingezäuntes Schlachtfeld aus dem Ersten Weltkrieg aufgesucht, man hatte sie tot in einem Fluss aufgefunden. Die Obduktion hatte erbracht, dass sie Kampfgas von einer alten Granate eingeatmet hatten, ins Wasser gefallen und dann nicht mehr rechtzeitig herausgekommen waren.
In dem Jahrbuch hieß es weiter, es befänden sich entlang dem früheren Frontverlauf immer noch mehrere Millionen Tonnen Explosivkörper, manche Gebiete gälten als nicht beräumbar. In den Jahren davor seien bereits mehrere Hundert Touristen und Bauern durch solche Blindgänger umgekommen.
All dies wusste ich schon aus Großvaters sparsamen Äußerungen. Doch in Es geschah . stand auch das, was er nicht erzählt hatte.
Anhand von Fundstücken im Wagen konnte die Polizei darauf schließen, dass die Verunglückten ihren dreijährigen Sohn dabeigehabt hatten. Von dem aber keine Spur zu finden war, also setzte man eine Suchaktion in Gang. Hunde suchten das Schlachtfeld ab, ohne Erfolg, Taucher untersuchten den Fluss, Helikopter unterstützten die Aktion aus der Luft.
Dann las ich den Satz, der in mir die Kindheit ausbrannte. Es war, wie wenn ich Zeitungspapier in den Kamin tat, die Schrift war deutlich zu lesen, während das Papier in Flammen aufging, doch bei der geringsten Berührung zerfiel es zu Asche.
Vier Tage später wurde das Kind 120 Kilometer entfernt in dem Hafenstädtchen Le Crotoy in einer Arztpraxis gefunden. Intensive polizeiliche Ermittlungen blieben ergebnislos. Man nahm an, der Junge sei entführt worden. Abgesehen von kleinen Wunden war er unversehrt.
Ab da war mir wieder alles bekannt; es hieß, meine Großeltern in Norwegen hätten mich in Obhut genommen. Ich stand da und starrte auf das Buch, blätterte um, weil ich sehen wollte, ob danach noch etwas kam, blätterte zurück, um zu sehen, ob es davor etwas gegeben hatte. Pulte die Tabakkrümel aus dem Falz. Die Leute hatten über mich geredet. Hatten Es geschah 1971 hervorgenommen, wenn die Nachbarn zum Kaffee da waren, sich daran erinnert, wie jemand aus der Familie Hirifjell in der Zeitung gestanden hatte.
Ich wusste nicht, wohin mit meiner Wut. Großvater sagte, er wisse auch nicht mehr, also trug ich meine Fragen mit in einen Flammbirkenhain oberhalb des Hofs. Warum hatten Mutter und Vater mich an einen Ort voller Granaten mitgenommen? Was suchten sie da überhaupt?
Die Antworten waren weg, Mutter und Vater waren weg, weg wie Asche, vom Wind verweht, und ich wuchs auf dem Hirifjell-Hof heran.
Hirifjell liegt auf der Abseite von Saksum, die Großbauernhöfe hingegen auf der anderen Seite des Flusses, wo der Schnee zeitig schmilzt und der Sonnenschein die Holzwände der Häuser und den Landadel darin liebkost. Jener Hang wird nie die gute Seite genannt, nur manchmal die Sonnseite, meist wird sie gar nicht benannt. Nur die Abseite hat einen Namen für das, was sie ist, die Schattenseite. Zwischen beiden fließt der Lågen. Der Dunst...
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