Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Endlich Stockholm! Sickan, 21, hat es rausgeschafft aus dem muffigen Kaff in der schwedischen Provinz, in dem sie sich nie zu Hause gefühlt hat, weg von den mobbenden Klassenkameradinnen und den wenig zugewandten Eltern. Jetzt, in der Großstadt, kann es losgehen mit den Freundschaften, dem Ausgehen, dem Vorlesung-Schwänzen und Sich-Verlieben, denn Sickan ist wild entschlossen, sich in der neuen Stadt neu zu erfinden und endlich dazuzugehören. Aber wie geht das eigentlich genau, das, was man gemeinhin so »Leben« nennt?
Ein hinreißender Roman über Identität, Freundschaft, Loyalität und notwendige Abgrenzungen - und über das Glück, als die Person erkannt zu werden, die man ist.
Ich greife nach hinten, um meinen BH zu öffnen.
»Bevor du das machst«, sagt Hanna, »sollte ich dir vielleicht noch was sagen.«
Ich halte inne, Hände am Verschluss. Hanna sitzt hinter mir auf dem Bett und ich stehe mit dem Gesicht zu ihrem Schrank. »Was denn«, sage ich zu den aufgereihten Kleidern vor mir.
»Na ja. Kann sein, dass ich bi bin.«
»Oh. Okay.«
»Bin mir noch nicht ganz sicher.«
Aus meinen nassen Haaren tropft es kalt auf meine Wirbelsäule. Ich habe Gänsehaut an den Armen. Zaghaft frage ich: »Aber mit mir hat das nichts zu tun, oder?«
»Gott, nein. Ich meine, nein, du bist keine, auf die ich stehen würde.«
»Dann macht es doch eigentlich keinen Unterschied«, sage ich, hake den BH auf und lasse ihn auf meinen durchnässten Pulli auf dem Holzfußboden fallen.
Auf dem Weg zu Hannas Wohnung in Östermalm sind wir in einen sturzbachartigen Regenschauer geraten, dicht wie ein Vorhang, und jetzt leiht sie mir Klamotten. Ihr Schlafzimmer ist riesig, mit Doppelbett, obwohl sie allein hier schläft. Die eine Wand wird komplett von fünf deckenhohen Kleiderschrankelementen eingenommen.
»Und was ist mit dir?«, fragt sie.
Ich überlege kurz. »Bisher bin ich hetero.« Sie quittiert es mit einem Hm. Neben mir auf dem Stuhl liegt ein dickes cremefarbenes Handtuch. Ich trockne mir Arme, Brust und Rücken ab, untenrum stecke ich noch immer in meiner klatschnassen Jeans. Danach schlinge ich mir das Handtuch um den Kopf.
»Nimm, was du willst«, sagt sie. Sie hat sich bereits umgezogen und trägt jetzt ein weites Shirt und schwarze Leggings mit kleinem Loch am Knie. Ihr blondierter Bob ist zerzaust und der braune Ansatz am Mittelscheitel wirkt in nassem Zustand fast schwarz.
Ich wäge meine Möglichkeiten ab. Ihre Klamotten sind weder nach Farbe noch nach einem anderen erkennbaren System sortiert. Ich gehe die Bügel durch, während der Regen an die Fensterscheiben trommelt.
Die Wohnung ist die erste in der Stockholmer Innenstadt, die ich zu Gesicht bekomme. Sie ist ruhiger als erwartet. Ich spüre Hannas Blick auf meinem nackten Rücken und frage mich jetzt doch, ob es normales Verhalten war, mich einfach auszuziehen. Wir sind hier nicht im Sportunterricht, wir sind erwachsen, wahrscheinlich sollte ich nicht so nackt sein. Mein Herzschlag fühlt sich ein wenig zu schnell an. Von ihren teuren Kleidern erscheint mir ein schwarzes Baumwoll-Shirt als die sicherste Bank.
Ich halte es am Bügel vor mich und drehe mich um. »Wär das okay?«
»Wow, Sickan. Von allen Klamotten in diesem Schrank entscheidest du dich für ein schwarzes T-Shirt?«
Ich ziehe es über den Handtuchturban und sage: »Hab kurz mit der Chaneljacke geliebäugelt.« Sie gluckst.
»Hosen hab ich leider keine in deiner Größe.« Sie steht auf, geht an eine Schublade und reicht mir eine graue Jogginghose mit passender Sweatjacke. »Die hat einen Gummizug.« Sie setzt sich wieder aufs Bett. Ich schäle mich aus meiner nassen Jeans, rote, kalte Haut kommt zum Vorschein. Dann ziehe ich die Jogginghose an, binde eine Schleife am Bund und hoffe, dass das Ganze gut im Sinne von oversized an mir aussieht und nicht nach Clownshose. Mein Slip ist auch nass, aber mir einen von ihr zu leihen kommt mir für meinen ersten Besuch bei ihr zu Hause dann doch wieder zu intim vor.
Sie macht Musik aus unsichtbaren Lautsprechern an. Was Instrumentales, keine Ahnung, welches Genre. Es klingt nett, ich wiege meine Schultern im Takt und stöbere weiter in ihren Klamotten. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände hinterm Kopf verschränkt, und redet über die Uni. »Konrad ist echt weird, oder? Ist Tech-Dozent, zieht sich aber an wie so ein Geschichtsprofessor.«
»Ich mag den voll.«
»Ich auch«, sagt sie und ich bin verwirrt.
Wieder bleibe ich an der Chanel-Tweedjacke hängen, streiche über den feinen beigen Stoff und frage mich, was das für ein Gefühl sein muss, so eine Garderobe zu besitzen. Da entdecke ich einen Fleck an der Jacke. Ich kratze leicht mit dem Fingernagel darüber. »Die hat einen Fleck.«
»Echt? Tja, passiert, sogar bei Chanel.«
»Sollen wir versuchen, den rauszukriegen?«
»Egal, lass einfach hängen.« Sie gähnt. »Ist eh nicht meine.«
Ich hänge sie zurück, aber das fühlt sich falsch an, fast kriminell. »Wem gehört sie denn?«
»Das meiste gehört meiner Mutter. Sie kauft sich ständig neue Klamotten und überlässt mir ihren ausrangierten Kram aus den Neunzigern. Ich wette, damit will sie mir was sagen.«
Wenn ich sie mir so anschaue, wie sie aufs Bett gefläzt daliegt, ist es nicht schwer zu erraten, was das sein könnte. Hanna Mellberg ist abstoßend, sowohl was Verhalten als auch Äußeres betrifft, ist leider so. Ihr Haaransatz ist immer fettig, und wenn sie Make-up trägt, dann von der grellen Sorte. Ihre Zähne sind groß und gelb und sie zeigt sie ständig. Sie sind jetzt nicht gammelig oder so, aber eben wesentlich gelber als normal. Ihre Klamotten scheinen ihr weder zu passen noch bewusst ausgewählt worden zu sein. Sie ist muskulös, mit runden Schultern und Rennpferdschenkeln. An jeder anderen hätte das stark und attraktiv gewirkt, aber bei ihr kommt es einschüchternd rüber. Ihr Äußeres schreit: Fass mich nicht an.
Umso überraschter bin ich, jetzt in Hanna Mellbergs Fin-de-Siècle-Wohnung in Östermalm zu stehen. Aus einer Reihe von potenziellen Freundinnen hätte ich niemals sie ausgesucht.
Ich hebe meine nassen Sachen vom Boden auf und frage: »Wohin damit?«
Sie sagt warte und verschwindet Richtung Küche. Mit dem Bündel unterm Arm ziehe ich mir das Handtuch vom Kopf und wische den nassen Fleck weg, den meine Klamotten auf dem Fischgrätparkett hinterlassen haben. Hanna kommt zurück, zieht eine Augenbraue hoch und hält mir eine weiße Plastiktüte hin. »Das ist nett von dir.«
Irgendwie macht mich das schüchtern, ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, aber da fragt Hanna hast du Hunger und ich sage ja, Riesenhunger.
Vor heute hatte ich kaum etwas mit Hanna Mellberg zu tun. Ich studiere Softwareentwicklung an der universitet in Stockholm, zweites Jahr, und dieses Frühjahr haben wir ein paar Vorlesungen zusammen mit den Studierenden der Digitalen Psychologie, also Hanna. Jetzt ist März und seit Januar sehe ich sie zweimal die Woche im Hörsaal. Sie ist kaum zu übersehen mit ihrem Look und der Art, mit den Dozent·innen zu reden, ohne sich zu melden. Sie sitzt nie mit denselben Leuten zusammen, ich aber auch nicht.
Man wird wie die Menschen, mit denen man sich umgibt, ich bin also sehr wählerisch, was mein Umfeld angeht. Mittlerweile bin ich seit anderthalb Jahren in Stockholm und habe immer noch keine engen Freund·innen. Zwar werde ich immer mal von anderen Studis in den Pub eingeladen und sehe sie auch manchmal bei Podiumsdiskussionen, habe mich bisher aber noch nie mit irgendwem alleine verabredet. Sobald ich versuche, mein Zimmer im Wohnheim zu verlassen, wird so etwas Simples wie ein Pubbesuch zur unüberwindbaren Aufgabe. Meistens sage ich dann ab, gucke zu Hause Buffy Staffel fünf und bin enttäuscht.
Soziale Interaktion entzieht mir jegliche Energie, vorher und hinterher. Vorher ist es ein einziger Kampf, das Haus zu verlassen, weil mein Kopf alle denkbaren Horrorszenarios abspult. Und wenn ich hinterher nach Hause komme, fühle ich mich wie von einer Dampfwalze überrollt und habe einen Lächelkrampf in beiden Wangen. Am nächsten Morgen folgt der Sozialkater in Form von existenziellen Ängsten und methodischem Wort-für-Wort-Durchspielen aller Unterhaltungen des gestrigen Abends. Jeder kleine Fehler in meinem Verhalten wird zu apokalyptischen Ausmaßen aufgebläht und garantiert dazu führen, dass ich niemals schön und beliebt sein werde. Da jede Einladung unweigerlich diese Art von geistiger Akrobatik nach sich zieht, ist es viel einfacher, direkt zu Hause zu bleiben, auch wenn ich weiß, dass der Mensch Gesellschaft braucht.
In der universitet habe ich einige Leute kennengelernt, die so sind wie die Person, die ich werden will. Nett, schlau, mit lockerer Art und coolem Klamottengeschmack. Bisher habe ich mich aber nicht getraut, mich mit ihnen zu verabreden. Mit Hanna nach Hause zu gehen ist jedenfalls das Gegenteil davon, wählerisch mit seinem Umfeld zu sein. Sie ist die Antithese der Person, die ich werden will. Ja, sie wirkt nett und schlau, hat aber weder eine lockere Art noch einen coolen Klamottengeschmack.
Einmal, als ich nach der Vorlesung den Flur entlangging, ertönte ein lautes Geschrei. Erschrocken drehte ich mich um und merkte erst da, dass das Geschrei mein Name gewesen war, Sickan. Hanna kam auf mich zugestürmt. Ich trat einen Schritt zurück.
»Dein Schal«, sagte sie und wedelte mit dem dunkelblauen Strickschal. »Den hast du vergessen.«
»Oh. Danke!« Ich nahm ihn und sie lächelte mit gebleckten Zähnen. Ich beruhigte mich etwas. Es war nett von ihr, mir durch den ganzen Flur nachzulaufen. Und es bedeutete, dass sie wusste, dass es mein Schal war. Und ich Sickan hieß.
Einmal traf ich sie, als ich gerade die Bibliothek verließ, ein großes Backsteingebäude, in dem sich jedes Flüstern mit dem allgemeinen Gemurmel und Geraschel zu einem Grundrauschen vermischt. Wegen dieses Klangphänomens sind Bibliotheken der allerschönste Ort für mich. Leiser kann Luft nicht werden, ohne gänzlich frei von menschlichen Geräuschen zu sein. Ich war noch nie bei einer Sportveranstaltung, aber ich glaube, das wäre der schlimmste Ort für mich. Außerdem sind Bücher eine willkommene...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.