Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Zufallsbegegnung
Erster Tag
1. Von Phantomen umgeben
2. Miss Lovenstein
3. Die Nachricht
4. Strangers in the Night
Zweiter Tag
5. Zwischen den beiden
6. Zufall der Begegnungen
Zweiter Teil
Die Parallelen
Dritter Tag
7. Die Parallelen
8. Anastasis
9. Reisende in der Zeit
Dritter Teil
Der Schein
Vierter Tag
10. Die Hand an der Wiege
11. Eine Art Krieg
Fünfter Tag
12. Die andere Frau
13. Durch den Spiegel
14. Ekaterina Swatkowski
15. Die Wunden der Wahrheit
Vierter Teil
Die Frau aus dem Nirgendwo
16. Der Schwarze Prinz
17. Der Junge an den Bildschirmen
18. Lieutenant Lovenstein
19. Die »Peruanische Unsterbliche«
Fünfter Teil
Die Wahl des Bösen
Sechster Tag
20. Der Datenspeicher
21. A girl on the run
22. Helsinki-Gruppe
23. Die Linie des Herzens
Sechster Teil
Jenseits der Grenze
24. Helden und Schurken
25. Im Tal der Schatten
Ein Jahr später
Replay
Danksagung
Kapitel 1
Von Phantomen umgeben
Man ist nicht die Person, die man im Spiegel sieht, sondern die, die im Blick des anderen erstrahlt.
Tarun J. Tejpal
Universität Harvard
Cambridge
19. Dezember 2011
Der Hörsaal war überfüllt, doch es herrschte Ruhe. Die Zeiger des Bronze-Zifferblatts der alten Wanduhr zeigten auf 14:55. Die von Matthew Shapiro gehaltene Philosophie-Vorlesung neigte sich dem Ende zu.
Erika Stewart, zweiundzwanzig Jahre alt, saß in der ersten Reihe und fixierte ihren Professor. Seit einer Stunde versuchte sie erfolglos, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hing geradezu an seinen Lippen und nickte bei jedem Satz. Trotz der Gleichgültigkeit, auf die ihre Bemühungen stießen, übte der Professor eine täglich größer werdende Faszination auf sie aus.
Seine jugendlichen Züge, sein kurzes Haar und sein Dreitagebart verliehen ihm einen beträchtlichen Charme, der unter den Studentinnen für Aufruhr sorgte. Mit seiner verwaschenen Jeans, seinen abgenutzten Lederstiefeln und seinem Rollkragenpullover ähnelte Matthew eher einem Doktoranden als seinen, zumeist streng und nüchtern wirkenden, Kollegen. Mehr noch als sein markantes Gesicht betörte jedoch seine Redegewandtheit.
Matthew Shapiro war einer der beliebtesten Professoren auf dem Campus. Seit fünf Jahren lehrte er in Cambridge, und seine Vorlesungen begeisterten die Neulinge. So hatte Mundpropaganda dafür gesorgt, dass sich in diesem Quartal über achthundert Studenten für seine Kurse eingeschrieben hatten. Seine Vorlesung fand derzeit im größten Hörsaal von Sever Hall statt.
LEER IST DIE REDE JENES PHILOSOPHEN, DURCH DIE KEIN EINZIGES LEIDEN EINES MENSCHEN GEHEILT WIRD.
Auf diesem Satz von Epikur, der aus einer Auswahl von Schriften mit dem Titel Von der Überwindung der Angst stammte und den er an die Tafel geschrieben hatte, basierte Matthews Lehre.
Seine Philosophie-Vorlesungen sollten verständlich sein und nicht überfrachtet von abstrusen Fachbegriffen. Seine Überlegungen und Schlussfolgerungen waren immer realitätsbezogen. Shapiro ging bei seinen Ausführungen stets vom Alltag der Studenten aus, von konkreten Problemen, mit denen sie konfrontiert waren: Der Angst, in einer Prüfung zu versagen, dem Bruch einer Liebesbeziehung, der Tyrannei der Blicke anderer, dem Sinn des Studiums ... Auf dieser Grundlage zitierte der Professor Plato, Seneca, Nietzsche oder Schopenhauer. Dank seiner lebhaften Darstellung schienen diese eminenten Persönlichkeiten eine Zeit lang die Lehrbücher zu verlassen, um vertraute und verständliche Freunde zu werden, die nützliche und tröstliche Ratschläge zu erteilen vermochten.
Mit Intelligenz und Humor verstand es Matthew, auch Populärkultur in seine Vorlesungen zu integrieren. Filme, Songs, Comics: Über alles konnte man philosophieren. Sogar Fernsehserien fanden ihren Platz in seinem Unterricht. Dr. House wurde als Beispiel für experimentelles Argumentieren herangezogen, die Schiffbrüchigen aus Lost boten Gelegenheit, Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag anzustellen, während die machohaften Werbeleute aus Mad Men dazu dienten, die Entwicklung der Beziehungen zwischen Mann und Frau zu studieren.
Obwohl diese pragmatische Philosophie dazu beigetragen hatte, ihn auf dem Campus zu einem »Star« zu machen, hatte sie auch viel Neid und Verärgerung unter seinen Kollegen hervorgerufen, die Matthews Vorlesungen für oberflächlich hielten. Zum Glück hatten die guten Ergebnisse von seinen Studenten bei Prüfungen und in Auswahlverfahren bisher zu seinen Gunsten gesprochen.
Eine Gruppe von Studenten hatte seine Vorlesungen sogar gefilmt und auf YouTube online gestellt. Diese Initiative hatte die Neugier eines Journalisten vom Boston Globe geweckt, dessen Artikel auch von der New York Times übernommen wurde. Danach hatte man Shapiro aufgefordert, eine Art »Antibuch« der Philosophie zu schreiben. Obgleich sich der Titel gut verkaufte, war dem jungen Professor die beginnende Popularität nicht zu Kopf gestiegen, er war weiterhin für seine Studenten da und sorgte sich um ihren Erfolg. Die schöne Geschichte hatte jedoch eine tragische Wendung genommen. Im letzten Winter hatte Matthew Shapiro seine Frau bei einem Autounfall verloren. Ein plötzlicher, unerwarteter Tod, der ihn hilflos zurückgelassen hatte. Er hielt weiter seine Vorlesungen, aber der faszinierende und begeisterte Lehrer hatte den Enthusiasmus verloren, der ihn zuvor ausgezeichnet hatte.
Erika kniff die Augen zusammen, um ihren Professor genauer zu mustern. Seit dem Drama war in Matthew etwas zerbrochen. Seine Züge waren härter geworden, sein Blick hatte das Feuer verloren; Trauer und Kummer verliehen ihm jedoch eine düstere und melancholische Ausstrahlung, die ihn für die junge Frau noch unwiderstehlicher machte.
Die Studentin senkte den Blick und ließ sich von der sonoren Stimme tragen, die den Hörsaal erfüllte. Eine Stimme, die etwas von ihrem Charisma verloren hatte, aber immer noch angenehm war. Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster, heizten den großen Raum auf und blendeten die Studenten in den mittleren Reihen. Erika fühlte sich wohl, umfangen von diesem beruhigenden Tonfall. Doch dieser wunderbare Augenblick hielt nicht an. Sie zuckte zusammen, als die Glocke das Ende der Vorlesung ankündigte. Ohne Eile packte sie ihre Sachen ein und wartete, bis der Hörsaal sich geleert hatte, um sich Shapiro schüchtern zu nähern.
»Was tun Sie denn hier, Erika?«, fragte Matthew erstaunt, als er sie bemerkte. »Sie haben diesen Schein doch bereits letztes Jahr gemacht. Sie müssen die Vorlesung nicht mehr belegen.«
»Ich bin wegen des Satzes von Helen Rowland hier, den Sie so oft zitieren.«
Matthew runzelte verständnislos die Stirn.
»Die Dummheiten, die ein Mensch in seinem Leben am meisten bereut, sind jene, die er nicht begangen hat, als er die Möglichkeit dazu hatte.«
Dann nahm sie allen Mut zusammen und erklärte: »Um in diesem Sinne nichts bereuen zu müssen, möchte ich eine Dummheit begehen. Also, ich habe nächsten Samstag Geburtstag und würde gerne ... ich würde Sie gerne zum Essen einladen.«
Matthew sah sie überrascht an und versuchte sofort, seine Studentin zur Vernunft zu bringen:
»Erika, Sie sind doch eine intelligente junge Frau. Also wissen Sie sehr wohl, dass es tausend Gründe gibt, warum ich Ihre Einladung ablehnen werde.«
»Aber Sie hätten Lust dazu, nicht wahr?«
»Lassen wir das, bitte«, unterbrach er sie.
Erika spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. Sie stammelte noch einige Worte der Entschuldigung, bevor sie den Hörsaal verließ.
Matthew zog seufzend seinen Mantel an, band sich seinen Schal um und ging hinaus auf den Campus.
—
Mit seinen ausgedehnten Rasenflächen, den imposanten braunen Backsteingebäuden und den lateinischen Sinnsprüchen auf den Giebeln strahlte Harvard den Stil und die Zeitlosigkeit eines britischen College aus.
Sobald Matthew draußen war, drehte er sich eine Zigarette, zündete sie an und verließ dann rasch die Sever Hall. Die Ledertasche umgehängt, überquerte er den Yard, den großen, von Rasen bedeckten Innenhof, der von einem Gewirr an Wegen durchzogen war, die über mehrere Kilometer weit zu den Vorlesungssälen, Bibliotheken und Unterkünften führten.
Der Park lag in einem schönen herbstlichen Licht. Die Temperaturen waren für die Jahreszeit ausgesprochen mild, und der Sonnenschein schenkte den Bewohnern Neuenglands einen angenehmen, späten Altweibersommer.
»Mister Shapiro! Achtung!«
Matthew drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Ein American Football sauste auf ihn zu. Er konnte ihn gerade noch auffangen und spielte ihn sofort zurück zum Quarterback, von dem er gekommen war.
Die Studenten besetzten, ihre geöffneten Laptops auf den Knien, alle Bänke im Hof. Auf dem Rasen ertönte immer wieder Gelächter, und es waren hitzige Debatten im Gang. Hier vermischten sich die Nationalitäten harmonischer als andernorts, und die kulturelle Vielfalt wurde als Bereicherung empfunden. Bordeauxrot und Grau, die Kultfarben der berühmten Universität, wurden voller Stolz auf Blousons, Sweatshirts und Sporttaschen zur Schau gestellt: In Harvard ließ das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft alle Unterschiede verblassen.
Matthew zog an seiner Zigarette, während er an der monumentalen Massachusetts Hall, im georgianischen Stil erbaut, vorbeiging, in der sich sowohl die Büroräume der Direktion als auch die Unterkünfte der Studenten des ersten Studienjahrs befanden. Oben auf den Stufen stand Miss Moore, die Assistentin des Rektors, die ihm einen wütenden Blick zuwarf, gefolgt von einer Abmahnung (»Mister Shapiro, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass es verboten ist, auf dem Campusgelände zu rauchen ...«) und einer wortreichen Moralpredigt über die schädlichen Wirkungen des Tabaks.
Mit starrem Blick und undurchdringlicher Miene ignorierte Matthew sie ganz einfach. Einen kurzen Moment war er versucht, ihr zu antworten, dass sterben zu müssen nun wirklich seine geringste Sorge sei, aber er besann sich eines Besseren und verließ das Universitätsgelände durch das riesige Tor, das auf den Harvard Square führte.
Der Square, auf dem es zuging wie in einem Bienenstock, war ein großer Platz, gesäumt von Geschäften, Buchhandlungen, kleinen Restaurants und Terrassencafés, in...
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