Schweitzer Fachinformationen
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Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Ein Loft in Brooklyn
Kapitel 1 bis 21
Sebastian. Siebzehn Jahre früher
Zweiter Teil
Allein gegen alle
Kapitel 22 bis 40
Nikki. Siebzehn Jahre früher
Dritter Teil
Die Geheimnisse von Paris
Kapitel 41 bis 55
Vierter Teil
The Girl from Ipanema
Kapitel 56 bis 65
Zwei Jahre später
Das Coupé mit den getönten Scheiben bog in die Lexington Avenue ein und erreichte die 73th Street. Sebastian klappte die Sonnenblende herunter. Das Wetter in diesem Herbst 2012 war besonders schön. Noch erschüttert von der Auseinandersetzung mit Camille, war er völlig ratlos. Es war das erste Mal, dass er die Hand gegen sie erhoben hatte. Ihm war bewusst, wie demütigend es für sie gewesen sein musste, und er bereute die Ohrfeige zutiefst. Die Heftigkeit seiner Reaktion aber hatte dem Grad seiner Enttäuschung entsprochen.
Die Tatsache, dass seine Tochter eine sexuelle Beziehung haben könnte, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Das war viel zu früh und stellte die Pläne infrage, die er für sie hatte. Die Geige, die Ausbildung, die möglichen Berufe: Alles war bis ins Letzte durchdacht, strukturiert wie Notenpapier, da war kein Platz für etwas anderes ...
Er atmete tief durch, um zur Ruhe zu kommen, und versuchte, im Schauspiel des Herbstes Trost zu finden. An diesem windigen Vormittag waren die Bürgersteige der Upper East Side mit Laub in flammenden Farben bedeckt. Sebastian liebte dieses aristokratische und zeitlose Viertel, in dem die High Society von New York lebte. In dieser Enklave mit diskretem Komfort war alles maßvoll und beruhigend. Eine Nische abseits von Hektik und stressigem Geschäftsleben.
In seine Gedanken vertieft, erreichte er die 5th Avenue und fuhr Richtung Süden, am Central Park entlang. Zweifellos war er etwas besitzergreifend, aber war das nicht eine - wenn auch etwas ungeschickte - Art, die Liebe zu seiner Tochter zum Ausdruck zu bringen? Vielleicht könnte er ja einen Mittelweg zwischen seiner Pflicht, sie zu beschützen, und ihrem Wunsch nach Selbstständigkeit finden? Einen Augenblick lang war er geneigt zu glauben, alles sei ganz einfach, und er würde sich ändern. Dann fielen ihm wieder die Pillen ein, und alle guten Vorsätze lösten sich in Luft auf.
Seit seiner Scheidung hatte er Camille allein erzogen. Er war stolz, ihr alles gegeben zu haben, was sie brauchte: Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung, eine gute Ausbildung. Er war immer für sie da gewesen, hatte seine Rolle sehr ernst genommen und sich täglich um alles gekümmert, von der Beaufsichtigung der Hausaufgaben, über den Reitunterricht bis hin zu den Geigenstunden.
Sicher hatte er so einiges versäumt, manche Ungeschicklichkeit begangen, aber er hatte sein Bestes gegeben. In dieser dekadenten Zeit hatte er sich vor allem bemüht, ihr Werte zu vermitteln. Er hatte sie vor schlechtem Umgang, Überheblichkeit, Zynismus und Mittelmaß bewahrt. Jahrelang war ihre Beziehung eng und einvernehmlich gewesen. Camille hatte ihm alles erzählt, ihn häufig nach seiner Meinung gefragt und seine Ratschläge befolgt. Sie war der Stolz seines Lebens: ein intelligentes, feinsinniges und strebsames junges Mädchen, das in der Schule glänzte und vielleicht am Beginn einer großen Karriere als Geigerin stand. Seit einigen Monaten gab es jedoch immer häufiger Streit, und er musste zugeben, dass er sich zunehmend überfordert fühlte, sie in dieser gefährlichen Übergangszeit, die von den Ufern der Kindheit an die Klippen des Erwachsenenalters führt, zu begleiten.
Ein Taxi hupte, um ihm zu bedeuten, dass die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte. Sebastian stieß einen tiefen Seufzer aus. Er verstand die Menschen nicht mehr, er verstand die Jugend nicht mehr, er verstand die Welt nicht mehr. Alles brachte ihn zur Verzweiflung und erschreckte ihn. Die Welt tanzte am Rand des Abgrunds, überall lauerte Gefahr.
Natürlich musste man mit der Zeit gehen, sich ihr stellen und nicht aufgeben, aber die Menschen glaubten ja an nichts mehr. Orientierungen lösten sich auf, Ideale verschwanden. Wirtschaftskrise, Umweltkrise, Gesellschaftskrise. Das System rang mit dem Tod, und seine Akteure - Politiker, Eltern und Lehrer - hatten den Kampf aufgegeben.
Was mit Camille geschah, stellte alle seine Prinzipien infrage und verstärkte seine natürliche Ängstlichkeit noch mehr.
Sebastian hatte sich zurückgezogen, sich eine Welt nach seinen Vorstellungen geschaffen. Inzwischen verließ er sein Viertel nur noch selten und Manhattan noch weniger.
Als berühmter Geigenbauer, der die Einsamkeit liebte, vergrub er sich immer öfter in seiner Werkstatt. Tagelang arbeitete er, die Musik als einzige Gesellschaft, an seinen Instrumenten, an ihrer Klangfarbe und -fülle, um sie zu Unikaten zu machen, auf die er stolz sein konnte. Seine Geigenbauwerkstatt war auch in Europa und Asien bekannt. Was jedoch seinen Umgang betraf, so beschränkte er sich auf einen kleinen Kreis von Kennern, im Wesentlichen auf Leute aus dem Milieu der klassischen Musik oder Abkömmlinge bürgerlicher Familien, die seit Jahrzehnten in der Upper East Side lebten.
Sebastian schaute auf seine Armbanduhr und gab Gas. Auf Höhe der Grand Army Plaza fuhr er an der hellgrauen Fassade des Park Savoy Hotel vorbei und zwischen den Autos und Touristenkutschen hindurch zur Carnegie Hall. Er parkte in der Tiefgarage gegenüber dem legendären Konzertsaal und nahm den Aufzug hinauf in seine Werkstatt.
Die Firma Larabee & Son war von seinem Großvater, Andrew Larabee, Ende der 1920er-Jahre gegründet worden. Im Lauf der Zeit hatte sich der bescheidene Laden einen internationalen Ruf erworben und war schließlich eine der ersten Adressen im Bereich des Geigenbaus und der Restaurierung alter Instrumente geworden.
Sobald Sebastian seine Werkstatt betreten hatte, entspannte er sich. Hier herrschten Ruhe und Frieden. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Der angenehme Geruch nach Ahorn, Weide und Fichte vermischte sich mit dem der Lacke und Lösungsmittel.
Er liebte die besondere Atmosphäre dieses Handwerks aus einer anderen Zeit. Im achtzehnten Jahrhundert hatte die Schule von Cremona die Kunst des Geigenbaus perfektioniert. Seither hatten sich die Techniken kaum weiterentwickelt. In einer Welt des permanenten Wandels hatte diese Beständigkeit etwas Wohltuendes.
Hinter ihren Werktischen arbeiteten Geigenbauer und Lehrlinge an verschiedenen Instrumenten. Sebastian begrüßte Joseph, seinen Werkstattleiter, der gerade die Wirbel einer Bratsche einstellte.
»Die Leute von Farasio haben wegen der Bergonzi angerufen. Der Verkauf wurde zwei Tage vorgezogen«, erklärte er und klopfte sich die Späne von seiner Lederschürze.
»Das darf doch nicht wahr sein! Es wird für uns schwierig sein, diesen Termin zu halten«, erwiderte Sebastian besorgt.
»Übrigens, sie hätten dein Echtheitszertifikat gern heute im Lauf des Tages. Meinst du, das ist möglich?«
Sebastian war nicht nur ein begabter Geigenbauer, sondern auch ein anerkannter Sachverständiger.
Er verzog resigniert das Gesicht. Dieser Verkauf war der wichtigste dieses Jahres. Undenkbar, darauf zu verzichten.
»Ich muss noch meine Recherchen abschließen und meinen Bericht verfassen, aber wenn ich gleich anfange, werden sie ihn bis zum Abend bekommen.«
»Gut. Ich gebe das so weiter.«
Sebastian begab sich in den großen Empfangsraum, dessen Wände mit purpurrotem Samt ausgeschlagen waren. Rund fünfzig Geigen und Bratschen, die von der Decke hingen, verliehen ihm seine Besonderheit. Da er über eine ausgezeichnete Akustik verfügte, waren hier bereits herausragende Interpreten aus aller Welt zu Gast gewesen, um ein Instrument zu kaufen oder reparieren zu lassen.
Sebastian nahm an seinem Arbeitstisch Platz und setzte eine kleine Brille auf, bevor er nach dem Instrument griff, für das er eine Expertise erstellen sollte. Ein recht seltenes Exemplar: Es hatte Carlo Bergonzi gehört, dem begabtesten Schüler Stradivaris. Es stammte aus dem Jahr 1720 und war erstaunlich gut erhalten. Das berühmte Auktionshaus Farasio war entschlossen, bei der nächsten großen Herbstauktion über eine Million Dollar dafür zu erzielen.
Als weltweit angesehener Experte konnte Sebastian sich nicht den kleinsten Fehler bei der Bewertung eines so bedeutenden Objektes erlauben. Wie ein Önologe oder Parfümeur hatte er Tausende von Nuancen über jede Geigenbauschule im Kopf: Cremona, Venedig, Mailand, Paris, Mirecourt. Trotz all dieser Erfahrung war es jedoch schwierig, mit absoluter Sicherheit die Echtheit eines Instruments zu bestätigen, und Sebastian setzte bei jeder Expertise seinen Ruf aufs Spiel.
Vorsichtig klemmte er sich das Instrument zwischen Schlüsselbein und Kinn, hob den Bogen und spielte die ersten Takte einer Partita von Bach. Die Klangfülle war außergewöhnlich. Zumindest so lange, bis plötzlich eine Saite riss und ihm wie ein Gummiband um die Ohren flog. Erschrocken legte er das Instrument ab. Seine ganze Nervosität und Anspannung hatten in seinem Spiel mitgeklungen! Unmöglich, sich zu konzentrieren. Der Vorfall vom Morgen vergiftete seinen Geist. Camilles Vorwürfe hallten immer lauter in seinem Kopf nach. Er konnte nicht umhin, zuzugeben, dass ein Teil ihrer Worte der Wahrheit entsprach. Dieses Mal war er zu weit gegangen. Er hatte schreckliche Angst, sie zu verlieren, und wusste, dass er möglichst schnell wieder mit ihr ins Gespräch kommen musste. Ihm war jedoch auch klar, dass dies nicht leicht werden würde. Er schaute auf seine Armbanduhr, dann zog er sein Handy heraus. Die Schule hatte noch nicht begonnen, mit etwas Glück ... Er versuchte, sie zu erreichen, wurde jedoch sofort auf die Mailbox umgeleitet.
Mach dir keine Illusionen ...
Er kam zu der Überzeugung, dass eine frontale Strategie zum Scheitern verurteilt war. Er musste die Zügel ein wenig locker lassen, zumindest dem Anschein nach. Und dafür brauchte er einen Verbündeten. Jemanden, der es ihm...
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