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Die Aneinandergeketteten
Kapitel 1
Alice
Ich glaube, dass in jedem Mann ein weiterer Mann steckt: ein Fremder, ein hinterhältiger Kerl.
Stephen King, Zwischen Nacht und Dunkel
Zuerst der starke, schneidende Wind, der über das Gesicht streicht.
Das leichte Rascheln des Laubes. Das entfernte Murmeln eines Bachs. Der dezente Gesang der Vögel. Die ersten Sonnenstrahlen, wahrgenommen durch den Schleier der noch geschlossenen Augenlider.
Dann das Knacken von Zweigen. Der Geruch von feuchter Erde. Von moderndem Laub. Die holzigen und kräftigen Duftnoten grauer Flechten.
Weiter entfernt ein unbestimmtes, unschönes disharmonisches Brummen.
Mühsam öffnete Alice Schäfer die Augen. Das Licht des anbrechenden Tages blendete sie, der Morgentau hatte sich auf ihre Kleidung gelegt. Von kaltem Schweiß durchnässt, fröstelte sie. Ihre Kehle war trocken, und sie hatte einen starken Geschmack nach Asche im Mund. Ihre Gelenke und Gliedmaßen waren steif, ihr Gehirn war wie benebelt.
Als sie sich aufrichtete, stellte sie verdutzt fest, dass sie sich auf einer groben Holzbank befand und ein kräftiger Mann halb auf ihr lag.
Alice unterdrückte einen Schrei, und ihr Herzschlag beschleunigte sich unvermittelt. Bei dem Versuch, sich von ihm zu befreien, glitt sie zu Boden, richtete sich aber sofort wieder auf. Dabei bemerkte sie, dass ihr rechter Unterarm mit Handschellen an das linke Handgelenk des Unbekannten gekettet war. Sie zuckte zurück, doch der Mann bewegte sich nicht.
Scheiße!
Ihr Herz hämmerte wie wild. Ein Blick auf ihre Armbanduhr: Das Zifferblatt ihrer alten Patek Philippe war verkratzt, aber der Mechanismus funktionierte noch, und der ewige Kalender zeigte Dienstag, den 8. Oktober, 8:00 Uhr.
Um Himmels willen! Wo bin ich bloß?, fragte sie sich und versuchte, sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Sie blickte nach allen Seiten, um sich zu orientieren. Sie befand sich mitten in einem Wald mit herbstlich goldfarbenem Laub und dichtem Unterholz. Eine stille Lichtung, umgeben von Eichen, Büschen und felsigen Vorsprüngen. Kein Mensch weit und breit, was angesichts der Umstände sicher vorzuziehen war.
Alice hob den Blick. Das Licht war mild, beinahe unwirklich. Tautropfen glitzerten im Blattwerk einer riesigen, flammend rot gefärbten Ulme, deren Wurzeln durch einen Teppich aus feuchtem Laub ragten.
Forêt de Rambouillet? Fontainebleau? Bois de Vincennes?, fragte sie sich.
Diese Umgebung, die einer idyllischen impressionistischen Postkartenansicht glich, stand in deutlichem Kontrast zu diesem surrealistischen Erwachen neben einem völlig Unbekannten.
Vorsichtig beugte sie sich vor, um sein Gesicht besser betrachten zu können. Es war ein Mann zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren mit zerzaustem braunem Haar und Bartstoppeln.
War er womöglich tot?
Sie kniete sich hin und legte, rechts von seinem Adamsapfel, drei Finger an seinen Hals. Der Puls, den sie spürte, als sie einen leichten Druck auf seine Halsschlagader ausübte, beruhigte sie. Der Mann war bewusstlos, aber nicht tot. Sie nahm sich die Zeit, ihn einen Moment lang zu mustern. Kannte sie ihn? Vielleicht ein Gauner, den sie ins Gefängnis gebracht hatte? Ein Freund aus Kindheitstagen, den sie nicht wiedererkannte? Nein, seine Gesichtszüge sagten ihr absolut gar nichts.
Alice schob die blonde Haarsträhne zurück, die ihr über die Augen gefallen war, dann begutachtete sie die Metallhandschellen, die sie mit diesem Kerl verbanden. Es war ein Standardmodell mit Doppelschloss, wie es von vielen Polizei- oder privaten Sicherheitsdiensten überall auf der Welt verwendet wird. Es war sogar wahrscheinlich, dass es sich um ihre eigenen Handschellen handelte. Alice wühlte in der Hosentasche ihrer Jeans, in der Hoffnung, den Schlüssel zu finden.
Er war nicht da. Allerdings spürte sie in der Innentasche ihrer Lederjacke einen Pistolenknauf. In der Annahme, es handele sich um ihre Dienstwaffe, legte sie erleichtert die Finger um den Griff. Aber es war keine SIG Sauer, wie sie bei der französischen Kriminalpolizei verwendet wird. Es handelte sich vielmehr um eine Glock 22 mit Polymergriff, deren Herkunft ihr unbekannt war. Sie wollte das Magazin überprüfen, was mit einer gefesselten Hand recht schwierig war. Vorsichtig, um den Unbekannten nicht zu wecken, bemühte sie sich, bis es ihr schließlich gelang. Sie sah, dass eine Kugel fehlte, und entdeckte beim Hantieren mit der Waffe angetrocknete Blutflecken am Griff. Sie zog den Reißverschluss ihres Lederblousons ganz auf und stellte fest, dass auch ihre Bluse voller Blut war.
Verdammter Mist! Was habe ich bloß letzte Nacht angestellt?
Alice massierte sich mit der freien Hand die Stirn. Der stechende Schmerz einer Migräne strahlte in ihre Schläfen aus, als würde ihr Schädel von einem unsichtbaren Schraubstock zusammengepresst. Sie atmete tief ein, um ihre Angst zu vertreiben, und versuchte, ihre Erinnerungen zu ordnen.
Am Abend zuvor war sie mit drei Freundinnen ausgegangen, um auf den Champs-Élysées zu feiern. Sie hatte viel getrunken, einen Cocktail nach dem anderen in verschiedenen Bars: im Moonlight, dem Treizième Étage, dem Londonderry . Die vier Freundinnen hatten sich gegen Mitternacht getrennt. Sie war allein zu ihrem Auto gegangen, das sie in einer Tiefgarage an der Avenue Franklin-D.-Roosevelt abgestellt hatte, dann .
Blackout. Ein Schleier verhüllte ihre Erinnerungen. Ihr krampfhaft arbeitendes Gehirn förderte nichts zutage. Ihr Gedächtnis war wie gelähmt, blieb bei diesem letzten Bild stehen.
Los, streng dich an, verdammt! Was ist anschließend passiert?
Sie erinnerte sich deutlich, am Kassenautomaten bezahlt zu haben und dann ins dritte Untergeschoss hinuntergegangen zu sein. Sie war angetrunken gewesen, ohne Frage. Schwankend hatte sie ihren kleinen Audi erreicht, hatte aufgesperrt, sich auf den Fahrersitz gesetzt und .
Nichts mehr.
So sehr sie sich auch konzentrierte, eine Mauer aus weißen Ziegeln verwehrte ihr den Zugang zu ihren Erinnerungen. Der Hadrianswall erhob sich vor ihrem Gedächtnis, die gesamte Chinesische Mauer blockierte ihre Bemühungen.
Sie schluckte. Ihre Panik nahm zu. Dieser Wald, das Blut auf ihrer Bluse, die Waffe, die nicht ihre war ... Das war nicht einfach nur ein Brummschädel nach einem feucht-fröhlichen Abend. Wenn sie sich nicht erinnerte, wie sie hier gelandet war, dann sicher deshalb, weil man sie unter Drogen gesetzt hatte. Vielleicht hatte ein Verrückter ihr Liquid Ecstasy in ein Getränk gekippt! Das war durchaus möglich: Als Polizistin hatte sie es in den letzten Jahren mehrfach mit Fällen zu tun gehabt, bei denen K.-o.-Tropfen eine Rolle gespielt hatten. Sie speicherte diese Idee in einem Winkel ihres Gehirns ab und begann, ihre Taschen zu leeren: Ihr Portemonnaie und ihr Dienstausweis waren verschwunden. Sie hatte weder Papiere noch Geld noch ihr Handy bei sich.
Verzweiflung gesellte sich zu ihrer Angst.
Ein Ast knackte, ein Schwarm Grasmücken flog auf. Einige rot gefärbte Blätter wirbelten durch die Luft und streiften Alices Gesicht. Mit der linken Hand zog sie den Reißverschluss ihres Blousons wieder zu. Dabei bemerkte sie in ihrer Handfläche - wie einst der Spickzettel in der Schule - eine mit Kugelschreiber notierte Abfolge von Ziffern, die bereits zu verblassen drohten:
2125 558 900
Was hatten diese Zahlen zu bedeuten? Hatte sie selbst sie aufgeschrieben? Möglich, aber nicht sicher . urteilte sie anhand der Schrift.
Ratlos und verängstigt schloss sie kurz die Augen.
Sie wollte sich nicht unterkriegen lassen. Offensichtlich hatte sich in der zurückliegenden Nacht irgendetwas Schwerwiegendes abgespielt. Aber auch wenn sie keinerlei Erinnerung an diese Episode hatte, würde der Mann, an den sie gekettet war, ihrem Gedächtnis rasch auf die Sprünge helfen. Zumindest hoffte sie das.
Freund oder Feind?
Da sie es nicht wusste, schob sie das Magazin wieder in die Glock und entsicherte die halb automatische Pistole. Mit ihrer freien Hand richtete sie die Waffe auf ihren Begleiter, bevor sie ihn schonungslos schüttelte.
»Hey! Aufwachen!«
Der Mann hatte ganz offensichtlich Schwierigkeiten, zu sich zu kommen.
»Hey, komm zu dir, Alter!«, knurrte sie und rüttelte ihn an der Schulter.
Er blinzelte und unterdrückte ein Gähnen, bevor er sich mühsam aufrichtete. Als er die Augen öffnete, zuckte er beim Anblick der Waffe verschreckt zurück.
Er starrte Alice entgeistert an, schaute sich dann um und nahm fassungslos die ihn umgebende Waldlandschaft zur Kenntnis.
Nach einigen Sekunden der Verblüffung schluckte er und fragte auf Englisch: »Wer, zum Teufel, sind Sie? Was machen wir hier?«
Kapitel 2
Gabriel
Ein Geheimnis, bei dem es unnatürlich zuginge, gibt es nicht.
Gebrüder Grimm
Der Unbekannte hatte mit starkem amerikanischen Akzent gesprochen, wobei er das »R« fast völlig verschluckte.
»Wo, zum Teufel, sind wir?« Er runzelte die Stirn.
Alice schloss die Finger noch fester um den Pistolengriff.
»Ich denke, das sollten Sie mir sagen!«, antwortete sie ihm auf Englisch und richtete den Lauf der Glock auf seine...
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