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Die vergessene Schwester.
Als Ulrich gegen Abend des gleichen Tags in . . . * ankam und aus dem Bahnhof trat, lag ein breiter, seichter Platz vor ihm, der an beiden Enden in Straßen auslief und eine beinahe schmerzliche Wirkung auf sein Gedächtnis ausübte, wie es einer Landschaft eigentümlich ist, die man schon oft gesehen und wieder vergessen hat.
»Ich versichere Ihnen, die Einkommen sind um zwanzig Prozent geringer geworden und das Leben um zwanzig Prozent teurer: das macht vierzig Prozent!« »Und ich versichere Ihnen, ein Sechstagerennen ist ein völkerverbindendes Ereignis!«: Diese Stimmen kamen dabei aus seinem Ohr; Kupeestimmen. Dann hörte er ganz deutlich sagen: »Trotzdem geht mir die Oper über alles!« »Das ist wohl ein Sport von Ihnen?« »Nein, eine Leidenschaft.« - Er bog den Kopf, als müßte er Wasser aus seinem Ohr schütteln: Der Zug war voll gewesen und die Reise lang; Tropfen allgemeinen Gesprächs, die während der Fahrt in ihn eingedrungen waren, quollen zurück. Ulrich hatte mitten in der Fröhlichkeit und Hast der Ankunft, die das Tor des Bahnhofs wie die Mündung eines Rohrs in die Ruhe des Platzes ausfließen ließ, gewartet, bis sie nur noch tropfenweise rann; nun stand er im Saugraum der Stille, die auf den Lärm folgt. Und zugleich mit der Unruhe seines Gehörs, die dadurch hervorgerufen wurde, fiel ihm eine ungewohnte Ruhe vor den Augen auf. Alles Sichtbare war darin stärker als sonst, und wenn er über den Platz blickte, so standen auf der anderen Seite ganz gewöhnliche Fensterkreuze so schwarz im Abendlicht auf bleichem Glasglanz, als wären sie die Kreuze von Golgatha. Auch was sich bewegte, löste sich vom Ruhenden der Straße in einer Weise los, wie es in sehr großen Städten nicht vorkommt. Treibendes wie Stehendes hatte hier offenbar Raum, seine Wichtigkeit zu weiten. Mit einiger Neugierde des Wiedersehens fand er das heraus und betrachtete die große Provinzstadt, in der er kleine, aber wenig angenehme Teile seines Lebens zugebracht hatte. In ihrem Wesen lag, wie er sehr wohl wußte, etwas Heimatlos-Koloniales: Ein ältester Kern deutschen Bürgertums der vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war, war da verwittert, so daß außer einigen Kirchen und Familiennamen kaum noch etwas an ihn erinnerte, und auch vom alten Sitz der Landstände, den diese Stadt später abgegeben hatte, war außer einem erhalten gebliebenen schönen Palast wenig mehr zu sehen; aber über diese Vergangenheit hatte sich in der Zeit der absoluten Verwaltung das große Aufgebot einer kaiserlichen Statthalterei gelagert mit seinen Zentralämtern der Provinz, mit den Haupt- und Hochschulen, den Kasernen, Gerichten, Gefängnissen, dem Bischofssitz, der Redoute, dem Theater, allen Menschen, die dazugehörten, und den Kaufleuten und Handwerkern, die sie nach sich zogen, so daß sich schließlich auch noch eine Industrie zugewanderter Unternehmer anschloß, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten und das Schicksal dieses Stücks Erde in den letzten Menschenaltern stärker beeinflußt hatten als alles andere. Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin paßten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist. Es mochte sein, daß dies unter besonderen persönlichen Umständen große Ungewöhnlichkeiten begünstigte.
Um es mit einem Wort zu sagen, das ebensowenig einwandfrei ist: Ulrich fühlte etwas »seelisch Stoffloses«, darin man sich so verlor, daß es die Neigung zu zügellosen Einbildungen erweckte. Er trug das sonderbare Telegramm seines Vaters in der Tasche und kannte es auswendig: »Setze dich von meinem erfolgten Ableben in Kenntnis« hatte der alte Herr ihm mitteilen lassen - oder sollte man sagen mitgeteilt? - und darin drückte sich das schon aus, denn darunter stand die Unterschrift »dein Vater«. Se. Exzellenz, der Wirkliche Geheime Rat, scherzte nie in ernsten Augenblicken: der verschrobene Aufbau der Nachricht war darum auch verteufelt logisch, denn er war es selbst, der seinen Sohn benachrichtigte, wenn er in Erwartung seines Endes den Wortlaut niederschrieb oder jemand in die Feder sagte und die Geltung der so entstehenden Urkunde für den Augenblick nach seinem letzten Atemzug bestimmte; ja man konnte den Tatbestand vielleicht gar nicht richtiger ausdrücken, und doch flatterte von diesem Vorgang, worin die Gegenwart eine Zukunft zu beherrschen versuchte, die sie nicht mehr zu erleben vermochte, ein unheimlicher Leichenhauch zornig verwesten Willens zurück!
Bei diesem Verhalten, das ihn durch irgendeinen Zusammenhang auch an den geradezu sorgfältig unausgewogenen Geschmack kleiner Städte erinnerte, dachte Ulrich nicht ohne Besorgnis an seine in der Provinz verheiratete Schwester, der er nun wohl in wenigen Minuten begegnen sollte. Er hatte schon während der Reise an sie gedacht, denn er wußte nicht viel von ihr. Von Zeit zu Zeit waren mit den Briefen seines Vaters ordnungsgemäße Familiennachrichten zu ihm gelangt, etwa: »Deine Schwester Agathe hat geheiratet«, woran sich ergänzende Angaben schlossen, da Ulrich damals nicht hatte nach Hause kommen können. Und wohl ein Jahr später hatte er schon die Todesanzeige des jungen Gatten erhalten; und drei Jahre darauf war es, wenn er nicht irrte, gewesen, daß die Mitteilung: »deine Schwester Agathe hat sich zu meiner Befriedigung entschlossen, wieder zu heiraten« eintraf. Bei dieser zweiten Hochzeit vor fünf Jahren war er dann dabei gewesen und hatte seine Schwester durch einige Tage gesehn; aber er erinnerte sich nur, daß diese Tage wie ein Riesenrad aus lauter Weißzeug waren, das sich unablässig drehte. Und an den Gatten erinnerte er sich, der ihm mißfiel. Agathe mußte damals zweiundzwanzig Jahre alt gewesen sein, er selbst siebenundzwanzig, denn er hatte gerade das Doktorat erworben; also war seine Schwester jetzt siebenundzwanzig, und er hatte sie seit jener Zeit weder wiedergesehn, noch einen Brief mit ihr gewechselt. Er erinnerte sich bloß, daß der Vater später öfters geschrieben hatte: »In der Ehe deiner Schwester scheint, Gott sei es geklagt, nicht alles so zu sein, wie es könnte, obschon ihr Gatte ein vortrefflicher Mann ist.« Auch hieß es: »Ich habe mich sehr über die jüngsten Erfolge des Mannes deiner Schwester Agathe gefreut.« So ähnlich hatte es jedenfalls in den Briefen gestanden, denen er bedauerlicherweise niemals seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte; aber einmal, das erinnerte Ulrich nun doch ganz genau, war mit einer tadelnden Bemerkung über die Kinderlosigkeit seiner Schwester die Hoffnung verbunden gewesen, daß sie sich trotzdem in ihrer Ehe wohlfühle, wenn auch ihr Charakter ihr niemals erlauben werde, das zuzugeben. - »Wie mag sie jetzt aussehn?« dachte er. Es hatte zu den Eigentümlichkeiten des alten Herrn gehört, der sie so sorgenvoll voneinander benachrichtigte, daß er die beiden in zartem Alter, gleich nach dem Tod ihrer Mutter, aus dem Haus tat; sie waren in getrennten Instituten erzogen worden, und Ulrich, der nicht guttat, hatte oft nicht auf Urlaub kommen dürfen, so daß er seine Schwester eigentlich schon seit ihrer Kindheit, wo sie sich allerdings sehr geliebt hatten, nicht mehr recht wiedergesehen hatte, ein einziges längeres Beisammensein ausgenommen, als Agathe eine Zehnjährige war.
Es erschien Ulrich natürlich, daß sie unter diesen Umständen auch keine Briefe wechselten. Was hätten sie einander wohl schreiben sollen?! Als Agathe das erstemal heiratete, war er, wie er sich jetzt erinnerte, Leutnant und lag mit einem Duellschuß im Spital: Gott, welcher Esel er war! Im Grunde genommen, wie viel verschiedene Esel sogar! Denn er kam darauf, daß die Leutnantserinnerung mit dem Schuß gar nicht daher gehöre: er war vielmehr beinahe schon Ingenieur gewesen und hatte »Wichtiges« zu tun, was ihn vom Familienfest fernhielt! Und von seiner Schwester hieß es später, daß sie ihren ersten Mann sehr geliebt habe: er erinnerte sich nicht mehr, durch wen er das erfuhr, aber was heißt schließlich »sie hatte sehr geliebt«?! Das sagt man so. Sie hatte wieder geheiratet, und den zweiten Mann mochte Ulrich nicht ausstehen: dies war das einzig Sichere! Nicht nur nach dem persönlichen Eindruck mochte er ihn nicht, sondern auch nach einigen Büchern von ihm, die er gelesen hatte, und es konnte schon sein, daß er seither seine Schwester nicht ganz unabsichtlich aus dem Gedächtnis verloren hatte. Gut gehandelt war das nicht; aber er mußte sich gestehn, daß er sich sogar in dem letzten Jahr, wo er an so vieles gedacht hatte, kein einziges Mal an sie erinnert hatte, und noch bei der Todesnachricht nicht. Aber am Bahnhof hatte er den Alten, der ihn abholte, gefragt, ob sein Schwager schon da sei, und als er erfuhr, daß Professor Hagauer erst zum Begräbnis erwartet werde, erfreute er sich daran, und obwohl bis zum Begräbnis höchstens zwei oder drei Tage fehlen konnten, kam ihm diese Zeit wie eine Klausur von unbegrenzter Dauer vor, die er jetzt neben seiner Schwester verbringen werde, als wären sie die vertrautesten Leute auf der Welt. Es würde vergeblich gewesen sein, wenn er sich gefragt hätte, wie das zusammenhänge? Wahrscheinlich war der Gedanke »unbekannte Schwester« eine jener geräumigen Abstraktionen, in denen viele Gefühle Platz finden, die nirgends recht zu Hause sind.
Und während er von solchen Fragen beschäftigt wurde, war Ulrich langsam in die fremd vertraute Stadt hineingegangen, die sich vor ihm auftat. Er ließ einen Wagen mit seinem Gepäck, unter das er im letzten Augenblick vor der Abreise noch ziemlich viel Bücher getan hatte, und mit dem alten Diener folgen, der, schon zu seinen Kindheitserinnerungen gehörend, ihn abgeholt hatte...